Das erste Grab

Wir saßen eines Abends bei einem Glas Tee und hörten der Erzählung eines Genossen zu.

„. . . Die Wohnhäuser" — begann er — „waren erst im Bau begriffen, die Ansiedler auf ihrem eigenen Grund und Boden noch nicht heimisch, denn er war erst vor kurzem seinen früheren Besitzern enteignet worden, und die Zahl der Reklamierenden und Ansprucherhebenden ziemlich groß. Das hatte Veranlassung zu rasch aufeinanderfolgenden Überfällen und Zwistigkeiten gegeben, so dass wir unseres Lebens nicht froh wurden.


Ringsum war noch alles öde. Ein einzelner, aus dünnen Brettern zusammengefügter Schuppen, mit roten Dachziegeln bedeckt, erhob sich mitten im weiten und flachen Tale, das sich dem Jordan entlang hinzog, so dass sein Ende am Rande des Horizonts den Fuß des hohen, zackigen Gileadgebirges berührte, das stets in einem veilchenblauen, wie Rauchwolken aufsteigenden Dunst gehüllt und hie und da an hellen Sommertagen mit dunklen Flecken betupft war, den Schluchten und Ritzen, die seine felsigen Abhänge zerklüften.

Der Schuppen war von uns und allem, was zu uns gehörte, bewohnt. Zwei Drittel waren für die Tiere, der Rest für uns bestimmt. Dieser Wohnraum, der uns nur zur Nachtherberge diente, war stets mit Bündeln, Gepäckstücken, Kissen, Kisten, Matten und Gewehren angefüllt. In einer Ecke, dort, wo eine große, von Mundvorrat, Töpfen, Kasserollen, Spirituslampen und allerlei Kochgerät strotzende Kiste stand, trennte ihn eine ebenso dünne Wand von einem kleinen Nebenraum, zu dem eine mit einem gelben Vorhang bedeckte Öffnung, gleichsam eine Tür bildend, führte. Hinter dieser Wand wohnte Sulamith, unsere Köchin, das einzige, die Bürde des Ansiedlerlebens mit uns teilende Frauenzimmer, ein wackeres Mädchen, das uns nach Männerart auf unseren Ritten begleitete und das unsere arabischen Nachbarn spöttisch „Halbmann" nannten.

Sie war noch keine zwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, kerzengerade und selbstbewusst. Ihre Gesichtszüge waren nicht sonderlich schön, aber fein und weiblich und verrieten Geist und Edelmut und ihre großen, braunen, stets feuchtschimmernden Augen schauten unter dunkeln und äußerst langen Wimpern hervor, die sich rasch hoben, wenn sie den Sprecher ansah. Nur auf ihren kleinen, zarten, spitz zulaufenden Händen, die einst rosig und weich waren, hatte das beständige Kochen und sonstige schwere Hausarbeit, der sie unausgesetzt mit Eifer oblag, deutliche Spuren in Form von Rissen, Schrammen und Brandflecken zurückgelassen.

Und wir liebten sie, beteten sie an. Wir zwölf Genossen, alle sonnenverbrannte und robuste Kerle, die uns die schwere Arbeit, die häufigen Scharmützel, die Notwendigkeit, unsere Gewehre auch während des Schlafens zu tragen, die die genauen, dürftigen Lebensbedingungen, die furchtbare Einsamkeit, die Entfernung von der Kulturwelt, von irgendwie leidlichen Verhältnissen roh und hartherzig gemacht hatten, jedes milderen Gefühls bar und nur zu gefährlichen Abenteuern und allerlei tollkühnen, waghalsigen Unternehmungen geneigt, wir bärtigen, barfüßigen Burschen, die wie Seeräuber oder wie die wilden Bewohner entlegener Inseln aussahen — wir liebten alle Sulamith wie ein Mann, innig, von ganzer Seele. Wir liebten sie, so wie sie war, um ihrer Gutherzigkeit, ihrer selbstlosen Hingabe an jeden von uns, um jener eigenartigen Seligkeit willen, die ihr lustiges Wesen in unser düsteres, freudloses Leben hineingebracht hatte; wir liebten sie endlich ob ihres hellen, wohlklingenden und seelenreinen Gelächters, das die zartesten Saiten in unserer Brust erbeben ließ und uns die bösen, bitteren Stunden unseres elenden, kümmerlichen und tödlich langweiligen Daseins versüßen half.

Eines Tages waren wir noch draußen im Felde, als die Sonne bereits längst untergegangen war. Wir trugen die Gerätschaften zusammen und kehrten nach Hause zurück. Die Flinte über der Schulter, die Zügel in der Hand, die Füße zwischen den Stricken der Pferdegeschirre, wie in Steigbügeln steckend und das Auge sehnsüchtig gegen das rote Dach gerichtet, das uns von der Ferne entgegenschimmerte, ritten wir auf unseren arbeitsmüden Tieren gemeinsam und lärmend unserer Nachtlagerstätte zu, dichte Staubwolken hinter uns zurücklassend.

Vor dem Schuppen machten wir halt, sprangen fröhlich von den Pferden und wandten uns nach dem Wege zum Stalle. Plötzlich tauchte unser Genosse Amrom, der an jenem Tage zurückgeblieben war, um Sulamith bei der Arbeit zu helfen, vor uns auf und sagte:

— Macht kein Geräusch, Sulamith ist krank.

Wir verstummten augenblicklich. Es war jedem von uns, als sei ihm in der Brust eine Saite gesprungen. Einige Augenblicke standen wir sinnend da und eine schwere Wolke legte sich um unsere Stirn. Sulamith krank! Schon längst hatten wir es kommen sehen. Wir sahen ihre Schwäche von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde zunehmen; wir merkten, wie ihr zarter Körper zusehends einschrumpfte und zusammenbrach, wie ihre Wangen immer bleicher und hohler und ihre klaren Augen wie von einem feinen, geheimnisvollen Schleier umflort wurden. Das alles sahen, wussten und fühlten wir, aber es war ihr immer gelungen, uns zu beruhigen. Sie hatte es, wie kein anderer, verstanden, uns die Sorge um ihre Gesundheit mit ihrer hellen, klangvollen Stimme, die sich so sonnig über unser lebensdurstiges Heim ergoss, einfach hinwegzulachen.

Wir führten die Pferde in den Stall und begaben uns stillschweigend in unsere Wohnung. Im Zimmer waren schon Spuren von Sulamiths Erkrankung erkennbar. Die Unordnung und die drückende Schwüle waren groß. Auf dem Tische lagen Reste und Brosamen von der gestrigen Mahlzeit umher, die rußigen Töpfe standen ungescheuert auf dem kalten Herd, das Bettzeug lag zu einem Berge zusammengeballt und die Luft war mit einem sauren, scharfen und üblen Geruch geschwängert.

Leise auftretend, auf den Zehen, näherten wir uns ihr und erkundigten uns nach ihrem Befinden. Sie lag auf einem Brettergestell lang ausgestreckt, nur mit einem dünnen Lacken überdeckt, denn die Hitze im Zimmer, wie in ihrem Innern, war groß, und die prächtigen Formen ihres schlanken Körpers quollen unter der leichten Decke hervor. Auf ihren bleichen Wangen brannte jetzt ein grelles Rot, flimmernd und schön wie das einer blühenden Rose, und um ihre vertrockneten Lippen schwebte ein mildes Lächeln, als wollte sie damit die Unruhe, die sich unser aller bemächtigt hatte, ein wenig beschwichtigen.

Einstimmig stießen wir alle hervor:

— Sulamith, was ist Dir? Wie kam es nur so plötzlich?

— Nichts — erwiderte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung — nur ein leichtes Fieber!

Wir standen um sie herum und schwiegen. Kein Wort, kein einziger Laut entfuhr unseren Lippen. Ein namenloser Schmerz hatte uns ergriffen beim Anblick dieses lieblichen Geschöpfes, das wie ein Eichhörnchen zwischen den Wänden unserer Wohnung einher zu hüpfen pflegte, singend, lachend, tändelnd und erheiternd, und nun ohnmächtig dalag, unbeweglich, sich selbst überlassen.

Plötzlich richtete sie sich ein wenig auf und sagte:

— Sterbe ich, dann . . .

— Unsinn! — wandte einer von den Genossen ein.

Sie aber fuhr unbehindert fort:

— Doch, doch . . . es ist doch nicht ausgeschlossen . . . nicht ganz ausgeschlossen . . . dann möchte ich . . . aber ihr müsst mich nicht auslachen . . . möchte ich euch bitten, mich am Hügel beizusetzen, der mir stets so lieb war. Ihr wisst doch, jener Hügel dort am Jordan . . .

Sie sprach diese Worte mit solchem Ernst und solcher Sicherheit, und in ihrer Stimme lag so viel schmachtende Sehnsucht, dass uns unsäglich bange wurde. Das Herz zog sich in verhaltenem Schmerz krampfhaft zusammen und eine unbestimmte Angst begann sich bei uns allen geltend zu machen. Endlich gewannen wir unsere Fassung wieder und brachen, wie auf Verabredung, in ein schallendes Gelächter aus. Und Amrom, dieser korpulente Riese, fuchtelte mit seinen langen Händen in der Luft und schrie laut:

— Sterben! . . . Hügel! . . . Albernes Geschwätz! Morgen, Sulamith, treffen wir uns wieder am Herd!

Allein Amroms Prophezeiung ging nicht in Erfüllung. Sulamith erschien am Morgen des folgenden Tages nicht am Herd. Um Mitternacht war eine Verschlimmerung eingetreten. Die Temperatur erreichte eine bedrohliche Höhe und ihre Augen glühten wie heiße Kohlen. Eine Zeitlang wälzte sie sich unruhig hin und her, bald aber kam die Erschöpfung, so dass sie bleischwer in den Kissen liegen blieb. Ihre Sinne verwirrten sich und sie stammelte leise unzusammenhängende Worte.

Wir waren ratlos und verzweifelt. Unsere steinharten Herzen zerschmolzen wie Wachs vor der höllischen Glut, die das zarte Wesen geradezu verzehrte. Wir wussten nicht, was anzufangen und liefen wie wahnsinnig im Zimmer hin und her. Und Sulamith lag da wie ein Klumpen, ohne Bewusstsein, mit entstelltem Gesicht. Endlich begannen wir ihr kalte Umschläge auf den Kopf zu legen, die ihr anfangs einige Linderung zu verschaffen schienen, denn in ihren Zügen malte sich Genugtuung und Zufriedenheit. Bald aber erwies sich auch dies als zwecklos. Sie wurde unruhig und schleuderte uns die nassen Tücher ins Gesicht.

Die ganze Nacht hindurch war die Temperatur unaufhörlich im Steigen. Wir standen zu zweit der Reihe nach neben ihr und bedienten sie, alle paar Stunden einander ablösend. Vor tags, etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang, besserte sich ihr Zustand ein wenig. Die Hitze hatte nachgelassen und das Bewusstsein begann allmählich zurückzukehren. Eine Zeitlang lag sie ruhig, mit geschlossenen Augen, als ob sie schliefe. Auch der Ausdruck ihres Gesichtes bestätigte die augenblickliche Besserung. Plötzlich schlug sie die Augen auf, hob den Kopf und blickte mit solchem Befremden um sich, als sei sie eben erst aus einer anderen, fremden Welt gekommen, dann glitt ihr Kopf wieder auf das Kissen und sie schlief ein.

Die aufgehende Sonne traf nur unser neun bei der Arbeit. Zwei von den Genossen, darunter Amrom, blieben bei Sulamith zurück, während der dritte nach dem nahegelegenen Dorfe eilte, den Arzt zu holen. Wir waren zwar, wie immer, ins Feld hinausgeritten, doch ganz ohne Lust. Nur um nicht Aufsehen bei den Nachbarn zu erregen, die auf uns stets ein wachsames Auge hielten, waren wir gegen unseren Willen gezwungen, unser Heim zu verlassen und, als sei nichts geschehen, Ruhe zu heucheln.

Es war ein trüber Tag, aber ein Gewitter stand nicht zu befürchten. Wir standen mitten im Juli und das schwere Gewölk, das vom Süden her am Horizont heraufgezogen war, sowie jene Wolkenfetzen, die wie große Schneeflocken verstreut in der Luft hingen, waren nur Ausdünstungen des fernen Nil, der, wie alljährlich, aus den Ufern getreten war und Ägyptens Erde überschwemmt hatte.

Wir pflückten den Sesam auf dem in der ganzen Umgegend einzigen Grundstück, dessen saftig grüne Farbe die Aufmerksamkeit auf sich zog, während die anderen Teile der weiten Ebene mit abgemähtem Getreide bedeckt waren, das, von der sengenden Sonne bereits gänzlich verdorrt, eine aschgraue Farbe angenommen hatte.

Die Arbeit war unangenehm, aufregend und ermüdend. Es galt, die allerreifsten Stengel von den noch nicht genug reifen herauszulesen, sie einzeln abzupflücken, zu Garben zu binden und zu einem Haufen zusammenzuscharren. Und der Nachmittagswind strich heulend über das Gelände hin, fegte die Stengel auseinander und blies feinen, ätzenden Staub in die Augen, so dass wir ungeduldig den Abend herbeisehnten. Und diesmal kehrten wir früher als sonst zu unserem Schuppen zurück. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als wir mit großen, eiligen Schritten den Heimweg antraten, und die erste Frage, die über unsere Lippen kam, während wir noch in der Tür standen, war:

— Wie geht's Sulamith?

Amrom schüttelte wehmütig den Kopf.

Wir traten bei Sulamith ein. Sie lag, wie gestern, auf ihrem Brettergestell ohne irgend welche Änderung zum Bessern; im Gegenteil, ihr Gesicht schien noch mehr eingefallen. Der Arzt hatte Verschiedenes angeordnet, Arzneien zurückgelassen und dringend geraten, nach erfolgter Genesung den Ort unbedingt zu verlassen. Aber Sulamith wehrte lebhaft ab.

— Wenn ich gesund werde, bleibe ich hier!

Beim Einbruch der Dunkelheit begann es wieder schlimmer zu werden. Mit der Verstärkung der Finsternis hielt die Erhöhung der Temperatur gleichen Schritt. Alles an ihr war helle Glut. Sie hatte gewaltigen Durst und verlangte jeden Augenblick nach Wasser. Und wenn man ihr willfahrte, erfasste sie mit zitternden Händen das Glas, führte es dicht an den Mund und trank in langen Zügen hastig und mit großer Gier. Sie hatte wieder das Bewusstsein verloren und ihre Schläfen und die Grübchen hinter den Ohren hämmerten und bewegten sich auf und ab, auf und ab, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit.

Es waren kritische, verhängnisvolle Augenblicke, denn der Arzt machte uns auf die Möglichkeit eines Herzschlages gefasst. Wir handfesten Burschen nahmen sie in unsere starken Arme und wickelten ihren winzigen, von der furchtbaren Hitze schier aufgezehrten Körper nach ärztlicher Vorschrift in von kaltem Wasser durchtränkte Tücher. Darauf gaben wir ihr die Arznei. Wir taten alles, was in unseren Kräften lag, das geliebte Mädchen den Krallen des Todes zu entwinden, doch vergeblich — es half nichts. Der Zustand wurde von Minute zu Minute bedenklicher. Das innere Feuer schien wie mit tausend Zungen an ihr zu lecken und das Blut in ihren Adern sieden zu machen. Alle Augenblicke erwachte sie, umklammerte mit beiden Händen ihren Hals und rief in einem schnarrenden, röchelnden Ton unaufhörlich:

— W — a — ss — e — r, o W — a — ss — e — r!

Nach Mitternacht wurde sie etwas ruhiger und wir atmeten erleichtert auf. Ein Funke von Hoffnung glimmte von neuem in unseren Herzen. Nicht für einen Moment lang wandten wir unsere Blicke von Sulamiths Gesicht ab, die mit weit geöffneten Augen dalag und mit solcher Seelenruhe vor sich hinschaute, als träumte sie von einer Welt voll Pracht und Glückseligkeit.

Sie war in jenen Augenblicken entzückend, bezaubernd, zum Anbeten schön. In ihrem Blick lag eine überirdische, himmlische Ruhe, wie die Wirklichkeit ihresgleichen nicht aufzuweisen hat. Und wir konnten uns an diesem Anblick gar nicht sattsehen, konnten diese übernatürliche Schönheit nicht genug bewundern. Insbesondere Amrom zitterte am ganzen Körper vor lauter Freude und aufkeimender Hoffnung; und rings umher herrschte eine lautlose Stille, so dass jeder von uns das Pochen seines eigenen Herzens vernehmen konnte.

Etwa eine halbe Stunde lag sie traumversunken, ohne sich zu rühren. Plötzlich erwachte sie, raffte sich, wie von einer unsichtbaren Kraft gestoßen, auf und begann die Arme auszubreiten, den Hals zu recken, an der entblößten Brust herumzuzerren und mit Händen und Füßen um sich zu schlagen. Zuletzt sank sie schwer hintenüber, dehnte sich ihrer ganzen Länge nach schräg über dem Lager aus, stieß leise einen erstickten ächzenden Ton hervor und — verstummte.

Niemand wusste genau, was vorgefallen war. Es kam uns vor wie ein böser Traum, wie eine abschreckende nächtliche Vision. Sulamiths Gesicht blieb ruhig und aus ihm sprach wonnige Seligkeit. Nur ihre Augen waren jetzt unter den langen Wimpern geschlossen. Und dennoch . . . dennoch war es uns, als habe sich etwas ungewöhnlich Schreckliches, etwas Niederschmetterndes vor unseren Augen abgespielt. Ein dumpfes Angstgefühl krampfte unsere Herzen zusammen, ein Frost schüttelte unsere Glieder und unsere Zähne schlugen laut aneinander.

Einer von den Genossen trat an sie heran, nahm ihre Hand in die seine und befühlte ihren Puls. Er hatte bereits zu schlagen aufgehört, obwohl der Körper noch warm war. Er fuhr erschrocken zurück und ließ ihre Hand los. Sie fiel schlaff, wie gelähmt, auf die leichte Decke nieder.

Als Amrom dies bemerkte, stöhnte er wild auf, stieß uns alle heftig zur Seite, stürmte hinaus, holte zwei Pferde aus dem Stalle, hing sich das Gewehr um und jagte pfeilschnell in die finstere Nacht hinaus.

Wie versteinert standen wir anderen um sie herum. In den Herzen verspürten wir einen brennenden Schmerz, als habe ein wildes Tier seine scharfen Zähne hineingeschlagen. Wir riefen sie beim Namen, schrien, richteten einen wüsten Lärm an — sie hörte uns nicht und antwortete nicht. Zuletzt begannen wir sie zu rütteln, anfangs ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen, dann immer stärker und stärker — es ließ sich kein Lebenszeichen an ihr wahrnehmen. Und während der Berührung fühlte man schon, wie ihr Körper nach und nach erkaltete, indes am Halse dunkle Flecke erschienen.

Nach Ablauf von zweieinhalb Stunden kam Amrom mit dem Arzt auf zwei schweißtriefenden Pferden angeritten. Dieser trat ins Zelt, sah ihr eine Zeitlang ins Gesicht, befühlte den Puls, untersuchte das Herz und wies endlich mit der Hand nach den blauen Flecken am Halse, einige unverständliche Worte in einer uns fremden Sprache murmelnd, und wandte sich dann bedauernd an uns.

— Ich komme leider zu spät. Nach einer Weile fuhr er fort:

— Und wo wollt ihr sie zur ewigen Ruhe betten?

Amrom beeilte sich zu antworten:

— Hier.

— Soll ich euch vielleicht Leute aus meinem Dorfe schicken?

Amrom erwiderte abermals:

— Ist nicht nötig. Wir besorgen alles allein.

Der Arzt schüttelte verwundert den Kopf, sprach aber kein Wort. Und nach einiger Zeit, als die Sonne im Osten bereits begonnen hatte, den Himmelsrand zu röten, verabschiedete er sich und ging davon.

Die ersten Lichtstrahlen drangen durch das breite Fenster. Der Morgen war angebrochen. Jenseits des Vorhangs, der jetzt herabgelassen war, schlief Sulamith ihren letzten, bis in die Ewigkeit währenden Schlaf. Was war da zu tun? Wir wussten, dass wir jetzt nur wimmern und wehklagen konnten, dass uns nichts weiter übrigblieb, als der beengten Brust durch Heulen und Winseln Luft zu machen, nichts, als in ohnmächtiger Wut unsere Kleider zu zerreißen und alles um uns her zu zerstören und zu vernichten — aber alles in und um uns war wie erstarrt; die Hände hingen wie gelähmt, schlaff und lässig herab; in der Brust war es eiskalt, kein Rachegefühl, kein Protest regte sich; das Auge war wie ausgebrannt; die Trauer legte sich bleischwer aufs Hirn und ließ keinen Gedanken aufkommen; und das Herz tat so weh, so weh!

Ein, zwei Stunden saßen wir da, ein jeder in seiner Ecke zusammengekauert und seinen düsteren Gedanken nachhängend. In der anstoßenden zweiten Hälfte waren die Tiere unruhig geworden, schrien laut nach Futter, aber niemand achtete darauf. So saßen wir eine geraume Zeit, das Auge unverwandt auf den Vorhang gerichtet, flehend, hoffend, manchmal gleichgültig die gelben Blumen betrachtend, die auf dem Vorhang der Länge nach abgebildet waren.

Plötzlich stand Amrom auf und sagte mit zitternder Stimme:

— Wer von euch will mich zum Hügel begleiten? Die anderen könnten inzwischen hier Ordnung machen.

Ich und noch zwei Genossen traten zu Amrom, gingen mit ihm hinaus, die Spaten zu holen, und begaben uns gemeinsam zum Hügel.

Der kleine Hügel lag hart am Jordan und das auf ihm wuchernde Gestrüpp rankte sich weit über den Fluss hinaus, so dass es auf ihm zu kriechen schien. An seinem Fuße plätscherte der Jordan, schmiegte sich liebkosend an ihn, bespülte ihn mit seinen kristallreinen Wellen, überall glitzernde Tropfen zurücklassend, die im üppigen Gesträuch hängen blieben und, von der Sonne beschienen, in den herrlichsten Farben strahlten, befruchtete seinen Boden, so dass er das ganze Jahr hindurch grün blieb. Und über seine Kuppe hinweg winkte von drüben her die Kinereth in ihrer ganzen bezaubernden und stolzen Pracht.

Wir machten uns unverzüglich an die Arbeit. Sie vollzog sich flink und mit schönen, rhythmisch abgemessenen Bewegungen. Wir waren geübte Leute. Für Hunderte von Oliven- und Orangenbäumen hatten wir mit eigenen Händen Gruben gegraben. Die Grabscheite wurden emporgehoben, einen Moment lang in der Sonne blitzen gelassen, dann regelmäßig niedergesenkt und in den mürben, saftigen Boden hineingetrieben. Grauschwarze, mit Gras bedeckte Erdschollen, wie behaarte Schädel aussehend, wurden nacheinander hinausgeschleudert und die Grube wurde immer tiefer und tiefer.

Nach vollendeter Arbeit gingen wir ungesäumt zum Schuppen zurück. Dort herrschte bereits volle Ordnung, die Betten waren gemacht, die Diele gescheuert und eine Art heiliger Trauer hatte auf alles, was sich im Zimmer befand, seinen Stempel gedrückt.

Niemand hatte Anordnungen erteilt, alles hatte sich von selbst gemacht. Wir holten Wasser, rissen einen Zaun nieder, fertigten eine Bahre an und erledigten alles übrige, was noch sonst nötig war.

Als wir mit den Vorbereitungen zu Ende waren, trat Amrom zunächst an den Vorhang, zog ihn in die Höhe und näherte sich der Leiche. Wir folgten ihm nach, hoben sie auf, wuschen sie, legten ihr reine Kleider an und hüllten sie zuletzt in ein weißes Tuch. Darauf trugen wir sie hinaus und legten sie auf die Bahre. Dies alles wurde mit besonderer Sorgfalt und Gewandtheit vollbracht, ohne Hast und Überstürzung, keine Bewegung war wankend und unsicher, keine Hand zitterte.

Da rief einer von den Genossen:

— Ich denke, es wäre gut, für alle Fälle unsere Gewehre mitzunehmen.

Der zweite meinte:

— Du hast recht. Die Halunken haben schon etwas gewittert. Sie lungern überall herum und schnüffeln wie die Spürhunde.

Die Flinten wurden geholt und umgehängt, die Bahre auf die Schultern gehoben und der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Wir schritten rüstig vorwärts, hoch aufgerichtet, als trügen wir einen Siegeskranz. Es herrschte eine feierliche Stille, keiner gab einen Laut von sich. Die Bahre ging abwechselnd von Achsel zu Achsel über, bis wir am Hügel anlangten.

Mit einem Gefühl von Ehrfurcht und stiller Andacht senkten wir Sulamith in die Gruft hinab. Alle fassten wir an, jeder hielt es für seine Pflicht, mit Hand anzulegen. Nachdem der steif gewordene Leichnam tief unten eine ewige Ruhestätte gefunden hatte, begannen wir das Grab zuzuschütten und nach Ablauf von wenigen Minuten erhob sich am Hügel eine kleine, von beiden Seiten abschüssige Anhöhe, die sich von dem sie umgebenden Grün merklich abzeichnete.


Die letzte Scholle türmte sich auf dem frischen Grabe. Wir umstanden es stillschweigend. Die Sonne war, groß und rund, zum Rande des Horizonts herabgeglitten. Von ferne leuchtete die Kinereth in einem rosigen Schein auf. Die Wellen des Jordan röteten sich, schwatzten und murmelten leise und zitternd. Ringsherum war es schauerlich still und wir standen wie festgenagelt, wie kalte Marmorblöcke, und bewegten uns nicht.

Plötzlich begannen Amroms Schultern zu beben, die über denselben hängende Flinte tanzte hin und her, sein Gesicht wurde gelb und entstellt, seine Augen blutrot und unter seinem langen Schnurrbart hervor brach er in ein ersticktes, kurz abgebrochenes Schluchzen aus.

— S — u — l — a — m — i — th!

Und er warf sich seiner ganzen Länge nach über das Grab und bedeckte es mit seinen Küssen.

Da lief endlich das Maß über und der so lange zurückgehaltene Schmerz entlud sich in einem allgemeinen Wehklagen. Wir weinten nicht, denn der Tränenquell war versiegt, wir heulten und brüllten. Wir waren nahe daran, uns die Brust zu zerfleischen, das Herz herauszureißen und es weithin wegzuschleudern. Wir waren nahe daran, über das Grab herzustürzen, mit unseren Nägeln die frisch aufgeschichtete Erde zu zerwühlen und Sulamith, unsere liebe Sulamith, zurück ans Licht hervorzuholen. Es erwachte in uns das Verlangen, uns die Haare auszuraufen und den Leib zu zerfetzen, um den Schmerz nur noch ins Unendliche zu erhöhen.

Etwa eine Stunde später kamen wir zurück zu unserem Schuppen, ganz elend und zerschlagen, mut- und fassungslos. Wir traten ein, konnten es aber im Zimmer nicht lange aushalten, es umgab uns dort eine erdrückende, beängstigende Leere. Wir gingen bald wieder hinaus, ließen uns jeder vereinzelt in einer Ecke nieder, wie verwaiste, der elterlichen Obhut und Fürsorge beraubte Kinder.

Die Nacht hatte ringsum alles in undurchdringliche Finsternis gehüllt. Das Gileadgebirge verschwand ganz darin. Nachtvögel zogen ihre Kreise dicht über unseren Köpfen. Von weiter Ferne tönte das Getrapp einer Kamelkarawane herüber. Sanft und lieblich floss der Jordan dahin, eine erhabene stille Trauer um sich breitend, die bis zum Ohnmächtigwerden ermattend wirkte. Ein endloser Friede, liebespendend und liebeverlangend, ergoss sich in die Herzen und machte sie bis zum Überströmen voll. Und die ganze Ebene und alles in der Runde, die Berge, die Täler, die Seen, die Ströme und die Flüsse — alles, alles umschlang die Seele und verschmolz sich mit ihr zu einer großen Einheit. Diese alles umfassende Liebe stählte den erschlafften Arm und flößte neues Leben in das erkaltete Blut. Und sehnsuchtsvoll schmachtend schwamm der Blick, eine Stütze suchend, im uferlosen Luftmeer lange, lange dahin, bis er sich zuletzt auf jener Anhöhe dort am Jordan festankerte, auf Sulamiths Grab, dem ersten Grab."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Bauern