Jüdische Bauern

Geschichten aus dem neuen Palästina
Autor: Zemach, Shlomo (1886-1976) israelischer Schriftsteller und Landwirt, Erscheinungsjahr: 1919
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Palästina, Juden, Bauern, Auswanderung, Einwanderung, Heimweh, neue Heimat
Brachfeld. — Geisteskrank. — Heimweh. — Das erste Grab. — Eine Schreckensnacht. — In mondheller Nacht. — Unter freiem Himmel. — Schymon Gamal. — Kphron

                              Brachfeld

Er saß und erzählte:

. . . An jenem Morgen waren wir früher erwacht als an anderen Wochentagen. Trotz der lautlosen Stille zitterten in der Luft Nachschwingungen einer erregten Stimmung. Aber in jener kaltblütigen Ruhe, mit der wir jungen Bursche, sonst so rührig und lebenslustig, diesmal die Beine von den Bettstellen herunterließen, in jenen lässigen, schwerfälligen Bewegungen beim Ankleiden, in jenen abgerissenen stillen Träumen, von denen die umwölkten Stirnen Zeugnis gaben — kurzum in jener so ungewöhnlichen, übertrieben ernsten Gelassenheit glaubte man den gedämpften Widerhall eines mächtig pulsierenden Lebens zu vernehmen, das im Herzen sprudelte, über welchem die robuste, braune, haarige und sonnenverbrannte Brust hemmend sich wölbte.

Draußen war noch finstere Nacht. Die Lampen warfen ihr fahles Zwielicht über unsere markierten Gesichter, während jeder von uns, mit vorgebeugtem Oberkörper an einem der Tische stehend, die dunklen, sehnigen, fettglänzenden Hände rhythmisch bewegte, die von einer sonderbar unheimlichen Kupferfarbe schimmerten, wie die Flinten und Revolver, mit deren Reinigung wir uns gerade befassten.

Und jedes Mal, wenn wir die Federn und Hähne der Gewehre untersuchten, entstand im Zimmer ein eigentümliches Geräusch; es war, als schnalzte jeder aus purer Langeweile mit der Zunge; und von draußen her fiel das Krähen der Hähne ein, das gar nicht aufhören zu wollen schien, als stände man mit Peitschen über ihnen und zwänge sie in einem fort, diese schrillen Töne von sich zu geben.

Plötzlich fuhren alle Köpfe in die Höhe und aller Blicke wandten sich gegen die Tür, an die von außen leicht gepocht wurde.

Aus unserer Mitte erscholl der Ruf:

— Herein!

Da wurde die Tür leise nach innen zu aufgesperrt und in der Öffnung erschien Reb Joir, der Stallaufseher. Zunächst kam sein langer, wohlgepflegter Bart wie ein schneeweißer Fleck zum Vorschein und ihm folgte allmählich sein ganzer wohlbeleibter Körper nach. So blieb er in der Mitte des Zimmers stehen, die Pfeife im Munde, aus der er unter seinem dicken Schnurrbart hervor dichte Rauchwolken unausgesetzt in die Luft steigen ließ, indes seine vom übermäßigen Trunk umnebelten, von einem leichten, vulgären Lächeln matt belebten Augen eine Zeitlang uns und unser Tun musterten. Zuletzt nahm er die Pfeife aus dem Munde, strich gemütlich den Bart und mit derber Bassstimme, wie er sie stets im Gespräch mit uns anschlug, da er sich einbildete, dass sie ihm uns gegenüber mehr Geltung verschaffe und den „Aufseher" in ihm greifbarer zum Ausdruck bringe, schleuderte er uns den gewohnten Gruß entgegen:

— Guten Morgen, Bursche!

Einer von uns warf sich zu unserem Vertreter auf und entgegnete:

— Schönen, guten Morgen, Reb Joi'r! Wann wird geläutet?

Er brummte, scheinbar erbost:

— Oho . . . Ihr habt euch heute beeilt . . . Auch der „Rote" setzt mir schon seit etwa einer Stunde zu.

Er schritt langsam von Tisch zu Tisch, prüfte die Gewehre, betrachtete sie mit einem Kennerauge, lobte und tadelte, hielt uns mit Anspruch auf Fachkenntnis einen Vortrag über die Kunst des Schießens und ließ sich mit uns, weit ausholend, in ein langes und umständliches Gespräch über unglaubliche Abenteuer ein, die er uns schon früher unzählige Male erzählt hatte, und die er immer wieder mit denselben Worten, denselben drolligen Gebärden, denselben faulen Witzen bis zum Überdruss wiederholte.

Plötzlich tönte vom Hofe herüber die Stimme des Vorgesetzten, diesmal besonders nachdrücklich und gebieterisch:

— Reb Joir, zieht die Glocke!

Der Gerufene machte sich hastig auf und durchmaß mit großen, vom Alter wankenden Schritten das Zimmer, wobei er seinen Bart nach rechts und nach links schüttelte, den Mund krampfhaft verzog und mit den in eine Art fetter, schmutziger Seligkeit getauchten Augen blinzelte.

Im Abgehen murmelte er:

— Seht euch nur meinen „Roten" an, wie er sich breitmacht!

Die Glocke erklang. Im Nu hatte jeder seinen grünen Gürtel umgeschnallt, die Waffen angelegt, die Gerätschaften zusammengerafft und, nachdem er sich verstohlen mit einem stummen, tiefen und durchdringenden Blick im Zimmer umgesehen hatte, begab er sich nach dem Stalle. Unwillkürlich machte das Herz ein unbestimmtes sehnsüchtiges Gefühl heftiger schlagen, nicht etwa Furcht oder Feigheit, sondern eine andere ähnliche Empfindung. Die Arbeit ging in voller Ordnung vor sich.

Die Maultiere wurden angeschirrt, vor die Pflüge gespannt und die Zügel wurden ihnen in die Gebisse eingeführt, während sie noch wässernd im Wiederkauen begriffen waren; und als der Vorgesetzte zu uns herunterkam, fand er uns schon vollständig ausgerüstet im Vorhofe seiner wartend.

Er gesellte sich zu uns, zerstreut, erregt, sein rötlicher Bart bebte, und indem er sich in seiner ganzen gerade nicht sonderlich hohen Statur aufzurichten bemühte, begann er:

— Heute nach „Em-il-G'abel". Wir lachten.

— Das wissen wir ja schon. Er fügte hinzu:

— Wie ich höre, steht uns ein Angriff seitens der arabischen Besitzer bevor. Um Gottes willen, vorsichtig mit den Waffen . . . Ich komme bald nach.

Und zu Reb Joi'r, der in demütiger Haltung abseits stand, halblaut unverständliche Silben vor sich hinmurmelnd und nach irgend einem sinnreichen scherzhaften Worte suchend, das den aufgeregten Vorgesetzten beruhigen sollte, schrie er:

— Sattle mein Pferd!

Wir bestiegen die Maultiere und ritten zum Tor hinaus. Vor uns dehnte sich die Straße, die vom Bergabhang abwärts führte, weißschimmernd und vom Nachttau getränkt. Im Osten, jenseits des Jordan, dort, wo die Kuppen des Gilead noch in ihr Nachtgewand gehüllt waren, schien es, als ob der Himmel wellenförmig wogte und zitterte, und ein dunkelbläulicher Streifen, wässerig und durchsichtig, stieg langsam empor, vermengte sich mit der Finsternis, sie allmählich abtönend, verdünnend und von Sekunde zu Sekunde immer mehr über sie den Sieg davontragend.

In der Luft roch es nach Morgenfrische. Die Haut der Hände, welche die Zügel führten, schrumpfte zusammen. In den Nasenlöchern verspürte man ein Jucken, das in den Augen Tränen hervorrief. Nach und nach wurden die Glieder ganz starr. Nur jene Körperteile, die den Leibern der Tiere nahe waren, sogen die angenehme, feuchte Wärme ein, so dass der ganze Körper unbewusst schwerfällig wurde und immer fester sich an das lebendige Fleisch schmiegte, das eine so wonnige Wärme ausströmte.

Wir ritten schweigend und langsam vorwärts. Bunte Ackerfelder zogen an unseren Blicken vorüber, aschgraue, dunkelbraune, rötliche. Und jener Farbenreichtum, der dem Golilschen Boden sein eigenartiges Gepräge verleiht, erglänzte um so lebhafter, je mehr der Sonnenaufgang herannahte. Jede feste

Erdscholle, jedes Stück Gestein, das spitz aus dem Ackergrund herausragte, der Kies, der überall auf den Feldern herumlag — all das schien die ersten Strahlen der Morgensonne anzuziehen und in sich aufzunehmen. Der Boden unter unseren Füßen, die Ebenen ringsum, die mit frischem, saftigem Grün bedeckten Bergrücken, das Echo des Getrappels der Maultiere, das Zwitschern eines Vogels, der zufällig über unseren Häuptern seine Kreise zog — alles vereinigte sich zu einem großen Ganzen, voll Lust und Bewegung, alles atmete neues, frisches Leben. Die Luft begann sich zu klären, der Nebel verschwand. Die leichten Dünste, die bislang, zwischen den Felsenklüften und Ackerfurchen Unterkunft suchend, gleichsam auf dem Erdboden krochen, gingen jetzt ganz im Sonnenschein auf. Und mit jedem Augenblick schien der Himmel sich immer höher emporzuheben, bis zu jener riesigen, endlosen, unabsehbaren Höhe, die nur dem klar blickenden Auge eines etwa auf den Bergspitzen des Golil umherirrenden Rehes erreichbar ist.

Wir überließen die Tiere ihrer gewohnten langsamen Gangart, denn wir wollten erst mit Sonnenaufgang „Em-il-G'abel" erreichen. Eintönig klang das Geklirr der Ketten an den Hälsen der Maultiere und das Gerassel der Räder hinter uns. Unsere Tiere ließen träge die Köpfe hängen, rupften hie und da während des Gehens einen Grashalm ab, den sie am Wege fanden; ab und zu hielten sie eine Weile an, dehnten die Nüstern und rochen gierig an einer der Schollen, auf die sie von ungefähr stießen. Wir Reiter verhielten uns ruhig. Die zu beiden Seiten der Tiere herunterbaumelnden Füße bewegten sich pendelartig in gleichmäßigem Tempo hin und zurück. Alle unsere Sinne waren nahe daran, einzuschlummern, hätte nicht jenes sonderbare Gefühl unaufhörlich wie ein Wurm tief in der Seele genagt. Und die Flinte, die jedem quer über der Schulter hing und deren Ende in dem uns begleitenden Schatten sichtbar war, kam uns so fremd vor. Diese Flinte mitsamt den Kugeln und Patronen in den gelbledernen Täschchen, die in dichten Reihen am kreuzartig über die Brust gespannten Gürtel angebracht waren, schienen so überflüssig und standen in keinerlei Verhältnis zu jenen Halftern, Seilen, Zügeln und sonstigen Utensilien, die um die Leiber unserer müden, arbeitsschwachen Tiere herumhingen, zu den vom vielen Treten auf dem lockeren Boden aufgeweichten und zerstampften Klauen; sie entsprachen so wenig unseren ruhigen Gesichtern, aus denen Herzensgüte, Demut und Friede sprachen, so dass wir uns wie lächerlich und blödsinnig vorkamen und keiner von uns es wagte, den Blicken des Nachbarn zu begegnen.

Am Horizont erschien endlich eine große, runde und rote Sonnenscheibe. Wir trieben unsere Tiere an, ihren Schritt zu beschleunigen, und so langten wir nach Ablauf von wenigen Minuten an Ort und Stelle an. Em-il-G'abel stellte eine breite, liebliche, von einer Bergkette umgebene hügelreiche Talmulde dar. Die Hügel umrahmten das Tal von allen Seiten, nur an einer Stelle befand sich ein schmaler Pfad, der, in die Fahrstraße mündend, den Zugang freiließ. Jenseits der Hügel lagen zahlreiche Beduinenzelte verstreut, die, wiewohl unsichtbar, durch den säuerlichen Geruch der Molken und den ätzenden Dunst des Schafkotes unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten.

Einer von uns zeigte nach einem dieser Hügel und bemerkte dabei:

— Von da kommt die erste Kugel zu uns herübergeflogen.

Seiner Worte nicht achtend, machten wir uns sofort an die Arbeit. Wir teilten das Grundstück in vier ziemlich gleiche Teile, und da unser acht „Pflüge" waren, kamen je zwei auf ein Viertel. Die Arbeit war ungewöhnlich schwer, aber wir strengten unsere Kräfte bis aufs äußerste an. Die Pflugeisen drangen tief in den Boden ein, schürften die Erde auf und wendeten sie um. Anfangs ging es zögernd und unsicher zu, als aber unsere Tiere merkten, dass wir diesmal nicht spaßen wollten, griffen sie wacker zu und schleuderten die braunen, fettglänzenden Erdklumpen unermüdlich zur Seite. Die vielen Dornen und Nesselsträucher, mit denen das Feld wie besät war, verminderten sich zusehends. Einer nach dem andern wurden sie ausgerodet und unter der zwischen den Furchen aufgeschütteten Erde begraben; nur hin und wieder konnte man einzelne kleine Sträucher wahrnehmen, deren Stachel und Stiele von der braunen Oberfläche merklich sich abhoben und die der Pflüger aus Versehen hatte liegen lassen.

Der günstige Verlauf der Arbeit hatte eine gehobene Stimmung hervorgezaubert und die in irgend einem verborgenen Winkel des Herzens versteckt liegende schlechte Laune verschwand gänzlich. Von allen vier Seiten des Tales klangen Lieder und fröhliche Rufe hin und zurück. Ganze Züge von Vögeln, die irrtümlicherweise glaubten, ein Sämann streue ihnen Futter hin, flogen im Kreise über unseren Köpfen herum und erfüllten die Luft mit ihrem lustigen Gezwitscher. Das alles machte das Herz froh und wir waren wieder guter Dinge, wie selten einmal. Jene geheime, hehre, der Scholle innewohnende Kraft, die, während des Wachsens langsam verdunstend, mit der keimenden Frucht sich nach außen drängt, schien sich mit unserem Blute vermengt zu haben und nach Leben zu verlangen; und die blankgescheuerten Pflugeisen, unseren Augen Sprühfunken entlockend, waren für uns von ebenso berauschender und weltentrückender Wirkung wie der Knall eines Schusses für das Ohr eines Kämpfenden.

Plötzlich geriet die Arbeit an allen vier Ecken ins Stocken. Zu unseren Ohren gelangte das Getrappel von Hufen. Rasch ließen wir die Lenkseile fallen, und jeder griff nach seiner Flinte und stellte sich in Kampfpose. Das Geräusch kam näher. In den Herzen schien irgend eine Saite gesprungen zu sein und durch die Köpfe zogen unheimliche Todesgedanken. Bald überzeugten wir uns jedoch, dass unser Schrecken unbegründet war. In der Pfadmündung erschien die Stute des Vorgesetzten, schlank und stolz, schäumend und bebend von dem stürmisch rieselnden Blute in ihren Adern, die sich hinter ihrem aschgrauen, glänzend zarten und samtweichen Fell verzweigten und netzartig über ihren Bauch und ihre schönen, vollen Hüften ausdehnten.

Wie er so hoch zu Ross hastig auf uns zugeritten kam, schien uns seine Figur noch mehr zusammengeschrumpft zu sein. Den ersten, dem er begegnete, frug er, schwer atmend:

— Ist nichts passiert?

Wir schrien ihm von fern zu:

— Nichts!

Wir verließen unsere Tiere und stellten uns um ihn herum. Einer von uns begann:

— Wenn unsere Nachbarn uns nur noch drei Stunden in Ruhe ließen, könnten wir morgen ihnen zum Trotz schon zu säen anfangen!

Der Vorgesetzte überflog das Tal mit seinen Blicken.

— Ja, ihr habt ein großes Stück Arbeit fertig gekriegt.

Und nach einer Weile fügte er, schlau lächelnd, hinzu:

— Aber so solltet ihr immer arbeiten. Da wir einmal die Arbeit unterbrochen

hatten, zogen wir es vor, zunächst unser Mahl schnell einzunehmen, um gleich darauf wieder an die Arbeit zu gehen und nicht früher aufzuhören, als bis wir mit ihr ganz fertig wären. So setzten wir uns in einem Kreise hin und schickten uns an, unsere Mahlzeit zu verzehren. Das Essen wurde herbeigeholt. Der Vorgesetzte stieg von seinem Pferde und, die Zügel in der Hand haltend, blieb er in unserer Nähe stehen und ließ sich mit uns in ein vertrautes Gespräch ein. In einiger Entfernung lagen alle acht Flinten mit den Peitschen und Riemen gleich unbrauchbarem alten Plunder bunt durcheinander geworfen. Die aufgeackerten Beete, die überall vor uns lagen, waren schön anzusehen. Das war noch alles kaum urbar gemachter Neubruch, echtes Rodenland, dick, saftig und glänzend, wie mit öl getränkt. Man konnte es ihm ansehen, dass es eine Reihe von Jahren brachgelegen hatte, öde, verwahrlost, ungehindert nach eigenem freien Willen sein wildes Gewächs wuchern lassend.

Mit einem Male, während wir ruhig dasaßen, langsam unser Brot verspeisten und es mit leichten Scherzen und angenehmer Plauderei würzten, sprang plötzlich einer unserer Genossen, Schumel, als hätte ihn eine Schlange gebissen, auf, haschte nach einer der Flinten und lief schnurstracks zu seinem Pfluge hin, indem er hinter sich den Ruf ertönen ließ:

— Meine Maultiere!

Auf den Berghängen wurden einzelne Punkte sichtbar, die sich vorsichtig und kriechend bewegten, so dass es den Anschein hatte, als wären sie den dunklen Felsschluchten entstiegen. Von allen Seiten kamen diese Punkte heran und umkreisten das Tal ringsum. Unwillkürlich zog sich das Herz in der Brust zusammen und es erwachte in ihm ein aus Hass und Abscheu gemischtes Gefühl gegen diese, Kriechtieren gleich, furchtsam und heimlich schleichenden Punkte.

Im Nu hatten wir die Gewehre über die Schultern geworfen und liefen hurtig ein jeder zu seinen Tieren. Während des Laufens sahen wir, wie Schumel, mit einem Araber kämpfend, sich zur Wehr setzte, dann hinterrücks zu Boden sank, während der Araber sich auf eines der Maultiere Schumels schwang und mit Aufbietung aller Kräfte zu entkommen suchte. Hierauf kamen von den Berglehnen Schüsse herüber. Über unsere Köpfe hinweg durchschnitt etwas schwirrend die Luft und trieb die in Gruppen versammelten Vögel auseinander. Wildes Geschrei und Gelächter mischte sich mit ohr- und herzzerreißenden Angstrufen. Gleichzeitig mit dem Verschwinden des Reiters waren auch die schwarzen Punkte dahin.

Das alles war mit solcher Schnelligkeit verlaufen, dass wir unseren Augen nicht trauten und auch nicht Zeit hatten, uns über das Geschehene genaue Rechenschaft abzugeben. Nur ein schwaches, unbestimmtes Gefühl war bei jedem von uns rege: die Maultiere! Erst nachdem jeder seine Tiere in Sicherheit gebracht, begaben wir uns gemeinschaftlich zu der Stelle, wo Schumel gearbeitet hatte.

Näher tretend, sahen wir den Vorgesetzten und Schumels Arbeitsgenossen über ihn gebeugt stehen und sich eifrig mit ihm abgeben. Er lag, sich in seinem Blute wälzend, lang ausgestreckt, und eine rote Flüssigkeit quoll in Strömen aus seiner Brust. Mit einer Hand hielt er das Ende des Strickes fest, der zusammen mit seinem Zeigefinger entzweigeschnitten war und, in blutgefärbten Schlamm getaucht, neben dem Pflug lag, indes seine andere, gesunde Hand, welche die Flinte fest umklammert hielt, suchend nach dem Hahn tastete, als wollte er ihn abdrücken. Seine Augen schauten unbeweglich vor sich hin, und in diesem starren Blick flammte unversöhnlicher Hass.

Er musste sofort nach dem Dorfe hinübergeschafft werden, denn sein Zustand war bedenklich, und wir machten uns unverzüglich daran. Der Vorgesetzte bestieg sein Pferd und wir sechs Bursche fassten Schumel unter die Arme und hoben ihn in den Sattel. Der Vorgesetzte hielt Schumels bluttriefen den, immerzu ohnmächtig herabrutschenden und hin und her wackelnden Körper fest zwischen seinen Armen, ohne auf das unaufhörlich der Brust des Verwundeten entströmende Blut zu achten, das ihn ganz beschmutzte, und sein Pferd setzte sich in Bewegung. Anfangs schien es unter der ungewohnten schweren Last zusammensinken zu wollen, dann aber raffte es alle Kräfte zusammen und trabte mit festem Schritt vorwärts.

Tief betrübt folgten unsere Blicke den abziehenden Reitern. Als aber ihr Schatten im Hohlweg verschwunden war, fassten wir Mut und sahen erst einander an, dann zu dem Boden unter unseren Füßen nieder; das vergossene Blut, das sich zu einer Lache angesammelt hatte und zum Teil schon von der Erde aufgesogen war, schrie aus der Tiefe nach Vergeltung und der im Schlamm liegende abgeschnittene Finger rief: Rache, Rache!

Einer von den Genossen sagte:

— Wollen wir das zudecken.

Und ohne unsere Antwort abzuwarten, fiel er über einen in der Nähe befindlichen großen Stein her, stemmte sich mit beiden Armen gegen ihn und versuchte ihn zu rütteln. Der Stein rührte sich nicht von der Stelle. Er trat einige Schritte zurück und
versuchte abermals seine Kräfte. Diesmal begann die Erde rings um den Stein sich zu lösen. Er wiederholte den Versuch ein-, zweimal. Schließlich gelang es ihm, den Stein loszukriegen und umzuwenden. Wir wälzten ihn dann gemeinsam bis an den Ort, wo das im Gerinnen begriffene Blut den Boden rot gefärbt hatte, und bedeckten es.

Der den Stein herbeigeschafft hatte, rief dann:

— Nun ist es Zeit, dass wir zu unserer Arbeit zurückkehren. Und mögen sie nur herankommen, die Halunken, und zeigen, was sie können — pfui, Memmen! . . .

Er spuckte aus und ergriff die Lenkseile. Wir folgten seinem Beispiel, und so nahmen wir mit vereinten Kräften die unterbrochene Arbeit wieder auf. Diesmal waren es nur sechs Pflüge, denn einer von uns stand der Reihe nach Wache, um die Angreifer zu beobachten.

Die Arbeit ging jetzt vortrefflich und rasch vonstatten. Wir hauten erbarmungslos auf die Tiere ein. Alles war vergessen. Nichts sah man außer den Pflügen und den vorgespannten Tieren. Die in den Herzen kochende Wut fraß an unserem Leibe ohne Unterlass. Uns dauerte in diesem Augenblick nicht das vergossene Blut, mitnichten: waren wir doch von vornherein darauf gefasst. Aber es gelüstete uns nach einem offenen Kampf und dieser räuberische Anfall aus dem Hinterhalt erregte in uns einen unüberwindlichen Abscheu. Der Zorn beherrschte alle unsere Sinne, brachte alle anderen Gedanken zum Schweigen, so dass nichts übrigblieb als diese stille, ohnmächtige Wut, die sich unseres ganzen Wesens bemächtigte und das Blut in den Adern vergiftete. Wie Nachtwandler schritten wir hinter unseren Pflügen drein, durstig nach irgend einem wilden Handgemenge, nach Lärm und Krawall, um unserem rasenden Zorn Luft zu machen.

An dritthalb Stunden hatten wir so, wie berauscht, in einem Atem, ohne einen Augenblick zu verschnaufen, gearbeitet. Wir warteten gespannt auf einen Angriff, aber vergeblich. Unsere Nachbarn kamen nicht. Zwar zeigten sich jene schwarzen Punkte noch einige Male auf den Bergabhängen, aber unsere Schüsse hielten sie jedesmal in Respekt.

Auch unsere Tiere wurden rappelig. Wie wahnsinnig liefen sie mit nach allen Seiten sich bewegenden Mäulern, schwer atmend und die Pflüge hinter sich nachschleifend, dass die großen, halbrunden Schollen nur so umherflogen.

Und in der Seele wurde es mit einem Male so leicht, als hätten wir jeder ein Dutzend Flaschen guten alten Weines hinuntergestürzt gehabt. Jene unbändige Rachelust, von der unser Inneres ganz eingenommen war, wirkte erhebend. Die Glieder strafften sich; die Augen flammten; das Herz pochte heftig. Nicht etwa aus Furcht. Bewahre, diese kannten wir nicht mehr. Es schlug aus purer Lust, Ungeduld und einem heißen Begehren, wie das Herz eines Liebenden, der hinter einem halbverfallenen Zaun seiner Geliebten harrt. Unsere Füße hoben sich von selbst, als hätten sie Flügel bekommen; und es schien, als wäre der Boden unter unseren Füßen weicher, luftiger und elastischer geworden, wie der schäumende Gischt auf den Wellen der hohen See.

Gegen Abend kam der Vorgesetzte zu uns in Begleitung zweier Wächter und überbrachte uns die Kunde, dass Schumels Wunde nicht besonders tief und dass sein Zustand nicht gefährlich sei. Er bemerkte scherzend:

— Er schreit in einem fort, er werde morgen mit zum Säen herauskommen.

Er wartete, bis wir mit der Arbeit fertig wurden. In seiner Gegenwart machten wir noch zwei, drei Gänge und — Schluss. Weit und groß, wie die dunklen Gewässer eines Sees, breitete sich das Tal vor uns aus, gepflügt, gefurcht, in Beete geteilt und in einen leichten, goldig schimmernden Nebel gehüllt, unter einem vom Dämmerlicht der untergehenden Sonne entflammten Himmel, als verberge es das Geheimnis seiner Lust in sich selbst.

In der Mitte ragte der große, graue, auf den ersten Blick die Aufmerksamkeit auf sich lenkende Stein. Unter ihm schien stellenweise das vergossene Blut noch zu rauchen und als wir an ihm vorbeikamen, regte sich der Ingrimm von neuem. Einen Moment lang blieben unsere Blicke an ihm haften und es war, als raunte das Herz jedem ins Ohr: Warte, du sollst es büßen!

Der Vorgesetzte ritt, von den Wächtern begleitet, voraus, und wir folgten ihm auf dem Fuße. Während der Fahrt sprach keiner ein Wort. Still ging die Sonne unter. Im Westen hatte der Horizont sein goldverbrämtes Kleid angezogen. Der Gipfel des Tabor begann sich zu verschleiern. Die im Abendnebel verschwimmenden Täler schienen wie mit Goldstaub bestreut. Nur die Bergspitzen waren noch sichtbar. Endlich verschwanden auch sie. Der Luftkreis nahm einen einzigen Ton an, der sich von Sekunde zu Sekunde verdichtete.

Als wir im Dorfe anlangten und uns nach dem Hofe begeben wollten, wandte sich der Vorgesetzte an uns mit den Worten:

— Morgen wird gesät.

Wir antworteten einstimmig und mit Stolz:

— Aber selbstverständlich.

Und wirklich fingen wir am andern Morgen an, das tags zuvor bearbeitete Feld auszusäen.

010. Jaffa

010. Jaffa

011. Jerusalem (Ölberg, Thal Josaphat, Engaddi, Frankenberg)

011. Jerusalem (Ölberg, Thal Josaphat, Engaddi, Frankenberg)

012. Jerusalem (vom Ölberg gesehen)

012. Jerusalem (vom Ölberg gesehen)

013. Jerusalem (Kirche der Tempelritter)

013. Jerusalem (Kirche der Tempelritter)

014. Jerusalem, Platz des salomonischen Tempels

014. Jerusalem, Platz des salomonischen Tempels

015. Gräber im Tal Josaphat (Kidron, Garten Gethsemane, Ölberg)

015. Gräber im Tal Josaphat (Kidron, Garten Gethsemane, Ölberg)

016. Bethanien (Ölberg)

016. Bethanien (Ölberg)

017. Jericho (Königsquelle)

017. Jericho (Königsquelle)

018. Der Jordan

018. Der Jordan

019. Mar Saba (Kidron-Schlucht)

019. Mar Saba (Kidron-Schlucht)

020. Bethlehem (Totes Meer, Feld der Hirten, Frankenberg)

020. Bethlehem (Totes Meer, Feld der Hirten, Frankenberg)

021. Sichern (Nablus) Nazareth

021. Sichern (Nablus) Nazareth

022. Nazareth

022. Nazareth

023. See Genezareth

023. See Genezareth