Viertes Kapitel - Mose ben Maimuni (Maimonides).

Alle diese Männer jedoch überragte bei weitem an Geistesgröße und Hoheit der Gesinnung Mose ben Maimuni, der Arzt aus Cordova. Er wurde Träger der Einheit des Judentums, Sammelpunkt für die Gemeinden im Osten und Westen und endgültig entscheidende Autorität; er wurde so zu sagen ein geistiger König der Judenheit.

Maimuni, der Mann, der die Zukunft des Judentums auf seinen starken Schultern trug, war eine jener selten auftretenden Persönlichkeiten, welche das Dunkle und Mystische nicht dulden können und überall nach Licht und Klarheit ringen. Er war ein durchaus logischer und systematischer Kopf, der das Größte und das Kleinste zu gruppieren und zu ordnen verstand, und kann in diesem Sinne der jüdische Aristoteles genannt werden, in dessen philosophische Weltanschauung Maimuni in der Tat sich vertieft und hineingelebt hat.


Wenn er nach der wissenschaftlichen Seite auf der Höhe der Zeit stand, nach der sittlichen und religiösen Seite nur wenige seinesgleichen hatte, so überragte er seine Zeit durch seinen scharf ausgeprägten Charakter. Er war ein vollendeter Weiser in der schönsten, antiken und verehrungswürdigen Bedeutung.

Bei größter Strenge gegen sich selbst, die ihn das Leben nicht als eine günstige Gelegenheit zu Genüssen betrachten Hess, sondern als eine schwere Aufgabe, edel zu wirken, war er von liebenswürdiger Milde in Beurteilung und Behandlung anderer. Bescheidenheit und Demut waren ihm, wie jeder gottbegnadigten Natur, in hohem Grade eigen.

Das hohe Ziel, das er sich gesetzt, war nichts weniger, als das Judentum, das biblische und das talmudische, die Ritualien wie den Lehrinhalt (Dogma), in einem solchen Lichte zu zeigen, dass andere Religionsgenossen und selbst Philosophen von der Wahrheit desselben überzeugt sein müssten. Zu diesem Zwecke hat er sich alle die Kenntnisse gründlich angeeignet, welche ihm als Wegweiser auf diesem gewaltigen Gebiete dienen konnten.

Seinen größten Eifer jedoch wandte er vier Wissensfächern zu: Den biblischen und talmudischen Schriften, der Philosophie, der Mathematik und Astronomie und der Heilkunde.

Sein Kommentar zur Mischnah, den er unter dem Titel: „Sirag“ verfasst hat, war ein Meisterwerk. Es ist die erste wissenschaftliche Behandlung des Talmud, und namentlich versuchte er darin nachzuweisen, dass die Mischnah eine kernige Sittenlehre und einen tiefen philosophischen Gottesbegriff enthalte. Er hat die Natur der Überlieferung dahin auseinandergesetzt, dass nicht alles, was in der Mischnah enthalten ist, Tradition sei, sondern nur diejenigen halachischen Elemente, welche keiner Meinungsverschiedenheit unterworfen sind. Denn eine traditionelle Lehre müsse unbedingt sein und dürfte nicht dem Zweifel und der Schwankung unterliegen. Unversehens hat sich Maimuni dabei mit dem Talmud in Widerspruch gesetzt und dessen festen Grund gelockert. Er hat das talmudische Judentum in diesem Werke mit philosophischen Ideen durchtränkt und hat versucht, Judentum und aristotelische Philosophie, welche beide für ihn in gleicher Weise feststehende Wahrheiten waren, zur Deckung und Übereinstimmung zu bringen.

Maimuni hat zuerst Glaubenslehren oder Glaubensartikel aufgestellt, und zwar in der Zahl von dreizehn. Dadurch hat er der freien Gedankenentwicklung Schranken gesetzt, während er auf der andern Seite das jüdische Bekenntnis zur Höhe vernünftigen Bewusstseins erhoben hat. Er hat die Grenzscheide zwischen Gläubigkeit und Ketzerei nicht auf dem festen Gebiete der religiösen Praxis, sondern auf dem lockern Boden der religiösen Theorie bezeichnet und hat dadurch den freien Gedanken in starre Formeln hineingebannt.

Die Verfolgungen, denen die Juden damals in den mohammedanischen Ländern ausgesetzt waren, und welche viele derselben zum scheinbaren Glaubensgewechsel genötigt haben, veranlassten Maimuni Trostschreiben an seine Glaubensgenossen zu richten, in denen er ihnen Israels heilige Bestimmung und das Verhältnis der andern Religionen zur jüdischen auseinandergesetzt hat.

Als Rabbiner von Kahira in Ägypten, wo er manche Missbräuche, die sich eingeschlichen, abstellte und unter anderem für Anstand und Ordnung in den Synagogen sorgte, verfasste Maimuni sein zweites großes Werk, das in der jüdischen Welt epochemachend geworden ist, sein Mischneh-Thora oder den Religionscodex. In diesem Riesenwerke hat er die entlegensten Einzelheiten aus dem unübersehbaren Schacht des Talmud zusammengetragen, das Gediegene aus den Schlacken herausgearbeitet, das Talmudische wieder an das Biblische angeknüpft und das scheinbar Zusammenhangslose zu einem organischen Ganzen, zu einem Kunstwerke zusammengekittet. Wenn der Talmud einem Labyrinthe gleicht, in dem man sich kaum mit einem Ariadnefaden zurechtfinden kann, so hat Maimuni daraus eine wohlgeordnete Anlage geschaffen, in der sich der Fremde ohne Führer orientieren und einen Überblick über alles im Talmud Enthaltene zu gewinnen vermag.

Neben den formellen Vorzügen und der unvergleichlichen, abrundenden Architektonik hat dieses Werk inhaltlich eine entschiedene Bedeutung für den Entwicklungsgang der jüdischen Geschichte. Alle die verschiedenen Richtungen, welche Maimuni’s Vorgänger auf dem Boden des Judentums einseitig ausgebildet haben, hat er darin zu schönster Harmonie vereinigt. Nichts ist darin bevorzugt und nichts zurückgesetzt. Das Philosophische, das Sittliche, das Ritualgesetzliche und, so zu sagen, die gemütliche Seite des Judentums, die sich in der Hoffnung auf die messianische Erlösungszeit ausspricht, alles ist in diesem Werke gleichmässig gewürdigt und zur Vollberechtigung erhoben. Maimuni hat darin die verschiedenen Bahnen, in w^elche das Judentum geführt wurde, vereinigt und in einen Punkt zusammenlaufen lassen.

Man kann fast sagen, dass Maimuni einen neuen Talmud geschaffen hat. Es sind zwar die alten Elemente, aber der Rost ist entfernt, das entstellende Beiwerk beseitigt, alles erscheint umgegossen, geglättet, frisch und neu. Er hat die Philosophie in den Religionscodex aufgenommen und ihr dort das Bürgerrecht neben der Halacha eingeräumt. Und während sie früher, obwohl gepflegt und auf das Judentum angewendet, nur als eine Außenseite betrachtet wurde, die mit dem praktischen Judentum, wie es täglich und stündlich geübt wird, nichts zu schaffen hat, hat Maimuni sie in das Allerheiligste des Judentums eingeführt und gleichsam Aristoteles einen Platz angewiesen neben den Lehrern des Talmuds.

Um sein Werk für jedermann zugänglich zu machen und auf diese Weise die Gesetzeskunde und überhaupt die Kenntnis des Judentums zu verbreiten, hat er es in der leichtverständlichen neuhebräischen Sprache abgefasst.

In einem Anhange zu seinem Werke hat Maimuni in arabischer Sprache (Sefer ha-Mizwot, das Buch der Gesetze) die Zählungsweise der 248 Gebote und 365 Verbote kritisch angegeben und hat hier den Grundsatz aufgestellt, dass die Schriftforschung, auch für gesetzliche Normen, frei sei, sobald sie nicht vom Talmud selbst durch eine deutliche, unbestrittene Überlieferung beschränkt werde; denn nach seiner Ansicht kann eine wahrhafte Tradition nicht einer Meinungsverschiedenheit unterliegen, sondern muss von Geschlecht zu Geschlecht über allem Zweifel erhaben fortgepflanzt sein.

Durch seinen Religionscodex hat Maimuni zwar dem rabbinischen Judentum einen starken Halt gegeben. Auf der andern Seite hat er es aber auch in feste Bande geschlagen. Vieles, was im Talmud selbst noch flüssig und deutbar ist, hat er zu einem unangreifbaren Gesetz erstarren lassen. Wie er in das Judentum Glaubensartikel eingeführt hat, welche mit dem Denken das Denken beschränken sollten, ebenso hat er mit seinem kodifizierenden Abschließen der Gesetze dem Judentum die Bewegung geraubt. Ohne Rücksicht auf die Zeitlage, in welcher die talmudischen Bestimmungen entstanden sind, stellte er sie als für alle Zeiten und auch unter veränderten Umständen verbindlich hin. Hätte Maimuni’s Codex die Alleinherrschaft behauptet, wie es anfangs den Anschein hatte, und den Talmud aus dem Kreise der Lehrhäuser der Religionsbehörden und der jüdischen Gerichtshöfe verdrängt, so wäre das talmudische Judentum, ungeachtet des Gedankenstoffes und der wissenschaftlichen Behandlung, die Maimuni dazu getan hat, einem Versteinerungsprozess verfallen, der üble Folgen hätte herbeiführen können.

Maimuni’s Religionscodex des Judentums warf einen mächtigen Gärungsstoff in die jüdische Welt; er wurde nicht bloß gelesen, sondern zum Grundbuche der jüdischen Religion erhoben, wie eine neue Bibel oder ein neuer Talmud. Die gelehrtesten Männer ordneten sich seinem Urteil unter und erbaten sich in demutsvollen Äußerungen Belehrung von ihm; er galt als höchste Autorität für die jüdische Gesamtheit, die in ihm ihren würdigsten Vertreter verehrte.

Die Gunst, welche Maimuni durch Saladin und dessen Wesir Alfadhel zu Teil wurde, verdankte er mehr seiner medizinischen Gelehrsamkeit als seiner ärztlichen Geschicklichkeit. Denn er betrieb diese Kunst wie eine gelehrte Wissenschaft, verschrieb kein Rezept, dessen Wirksamkeit er nicht durch Aussprüche medizinischer Autoritäten belegen konnte. Er behandelte den Wissensstoff der Heilkunde auf gleiche Weise wie die talmudischen Elemente. Sein ärztlicher Ruf war so groß, dass König Richard Löwenherz von England Maimuni zu seinem Leibarzte ernennen wollte, was dieser jedoch ausschlug.

In Ägypten war er Oberhaupt sämtlicher jüdischen Gemeinden (Reis, Nagid). Durch seine Veranlassung wurde das schwere Joch der Verfolgung von den Juden Arabiens beseitigt. Als Saladin nach Eroberung Jerusalems den Juden gestattete, sich in der Stadt ihrer Väter niederzulassen, hat Maimuni diesem Akte hochherziger Duldung sicherlich nicht fern gestanden.

In dieser Zeit hat er auch sein religionsphilosophisches Werk (Moreh Nebuchim) vollendet, das nicht nur für das Judentum, sondern auch für die Geschichte der Philosophie im Mittelalter überhaupt von außerordentlicher Bedeutung wurde. Es bildet den Höhepunkt des maimunischen Geistes und die Rechtfertigung seiner innigsten Überzeugungen. Die Fragen, welche der menschliche Geist immer von neuem aufwirft: über das Vorhandensein einer höheren Welt, über die Bestimmung des eigenen Daseins und über die Unvollkommenheit und Übel der irdischen Welt suchte Maimuni auf eine damals überzeugende Weise zu beantworten. Die Zweifel, welche dem denkenden Juden an der Wahrheit seiner angestammten Religion aufstießen, suchte er auf eine befriedigende Weise zu beschwichtigen. Er, dessen Denken stets auf das Höchste gerichtet war, durfte sich herausnehmen, „der Führer der Irrenden und Schwankenden“ sein zu wollen.

Er lehrte in diesem Werke, dass Philosophie und Judentum mit einander nicht im Widerspruche stehen, dass beide Ausflüsse des göttlichen Geistes seien. Die Wahrheit, welche Gott offenbart hat, müsse mit derjenigen übereinstimmen, welche in der menschlichen Vernunft als einer von der Gottheit stammenden Gabe liegt, und ebenso müssen alle Wahrheiten, welche das metaphysische Denken zu Tage fördern kann, in der Offenbarung, d. h. in dem Judentume, vorhanden sein.

Von der Ansicht ausgehend, dass die Ideen des Aristoteles über die Natur der höhern Welt mehr Meinung als philosophische Gewissheit seien, wich Maimuni bei der Darstellung des Gedankeninhalts der jüdischen Religion wesentlich von Aristoteles’ Philosophie ab, und in den Punkten, in denen er über sie hinausging, war er selbstständig und erzeugte eine neue, wenn auch aristotelisch gefärbte Weltanschauung.

Der „Moreh Nebuchim“, den Maimuni seinem Lieblingsjünger, dem Arzte Ibn-Aknin, gewidmet hat, war eine Quelle, aus der die jüdischen Denker aller spätem Zeiten befruchtende Ideen geschöpft haben, so dass man mit Recht sagen kann, dass das Judentum seine Verjüngung den Geisteswerken Maimuni’s zu verdanken hat. Freilich enthält das maimunische System auch Anschauungen, die das Gepräge der Fremdartigkeit und Befangenheit tragen (so über die Stellung Gottes der Welt gegenüber, über die Art, wie der irdische Wandel beschaffen sein müsse zur Erreichung der Unsterblichkeit und jenseitigen Seeligkeit); und wenn dieses auch zum großen Teil mehr auf Rechnung seiner Zeit als seines Geistes kommt, so hat es doch dem System Maimuni’s bleibenden Wert benommen und ihm nur eine in einem hohen Grade anregende Bedeutung gelassen.

Der Einfluss, den Maimuni auf seine Zeitgenossen ausgeübt hat, war ein gewaltiger. Alle, die von einem höheren Streben erfüllt waren, vertieften sich in die Schriften dieses Weisen, welcher innige, strenge Religiosität mit freier Forschung auf eine so überzeugende Weise zu versöhnen wusste, und dessen Werke Besonnenheit, Klarheit und Tiefe offenbarten. Maimuni oder Maimonides war geboren am 30. März 1135 und starb in Ägypten am 13. Dezember 1204. Sein 700jähriger Todestag ist vor wenigen Monaten in der ganzen jüdischen Welt feierlich begangen worden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juedische Ärzte und ihr Einfluss auf das Judentum.