Erstes Kapitel - Samuel. Binjamin. Gamaliel Batraah. Zedekias. Israeli. Dunasch ben Tamini. Sahbatai Donnolo.

Der erste jüdische Arzt jedoch, der, über seine Berufstätigkeit hinaus, einen unverkennbaren Einfluss auf die geistige Entwicklung seiner Glaubensgenossen ausgeübt hat, war Samuel oder auch Mar Samuel genannt (um 160 — 257) aus Babylonien. Er hatte sich in Judaea und zwar in dem Lehrhause des Patriarchen Rabbi Juda I. (ha-Nassi) ausgebildet, dessen langwieriges Augenübel durch ihn geheilt wurde. Er war eine nüchterne Persönlichkeit, frei von Schwärmerei und Überschwänglichkeit. Seine geistige Tätigkeit war, außer der Arzneiwissenschaft, noch der Gesetzesauslegung und der Sternkunde zugewendet. Er rühmte sich, alle Krankheitsfälle bis auf drei heilen zu können. Die meisten Krankheiten schrieb er dem tödlichen Einflüsse der Luft auf den menschlichen Organismus zu. Selbst der Tod auf dem Schlachtfelde ist nach seiner Ansicht auf Rechnung der Luft zu setzen, deren Zutritt nicht schnell genug verhindert werden könne. Ob Samuel vielleicht schon eine Ahnung hatte von der Infektionstheorie (namentlich den in der Luft enthaltenen Bacillen), wie sie in der jetzigen Medizin eine so große Rolle spielt?*)

*) Vgl. mein Buch „Moderne Gesundheitspflege und Heilkunde“, 5. Auflage, Seite 17 flgd.


Als Amora stand er zwar in Kenntnis der Ritualgesetze hinter Rab zurück; aber auf dem Gebiete des jüdischen Zivilrechts war er demselben bei weitem überlegen. Er entwickelte und bereicherte das jüdische Recht nach allen Seiten hin, und alle seine Entscheidungen haben halachische Gültigkeit erhalten. Keiner seiner Aussprüche war aber von so folgenschwerer Bedeutung, wie jener, dass die Landesgesetze ebenso rechtskräftig für die Juden sein sollten, wie die eigenen (dina d’malchuta dina). Diese Anerkennung der Landeseinrichtungen wurde in der Folge ein Rettungsanker für die zerstreuten Juden. Sie versöhnte sie einerseits mit dem Staate, wohin das unerbittliche Geschick sie geworfen hatte; andererseits konnten die Judenfeinde aller Jahrhunderte, welche, den scheinbar feindlichen Geist des Judentums zum Vorwand nehmend, auf Verfolgung und gänzliche Vertilgung der jüdischen Nation rieten, auf ein jüdisches Gesetz verwiesen werden, welches ihre Behauptung mit drei Worten entkräftete. Der Mahnung des Mar-Samuel, dass „das Gesetz des Staates heiliges Gesetz sei“, verdankt das Judentum die Möglichkeit seines Bestandes in der Fremde.

Die Sternkunde lernte Samuel von den persischen Weisen. Er machte von dieser Wissenschaft auch einen praktischen Gebrauch und legte einen Festkalender an, damit die babylonischen Gemeinden nicht stets in Unwissenheit über den wahren Feiertag zu bleiben und von den Neumondbestimmungen Judaea’s abhängig zu sein brauchten.

Wenn wir nun weiter die Reihe der jüdischen Ärzte verfolgen, die auf ihre Glaubensgenossen nach verschiedenen Richtungen hin einen Einfluss ausgeübt haben, so stoßen wir zunächst, am Anfange des vierten Jahrhunderts nach Chr., auf Binjamin (oder Minjome) in Machuza, welcher an der Spitze der Opposition gegen Raba bar Joseph bar Chama stand. Dieser letztere bevorzugte nämlich die Gesetzeskundigen vor dem übrigen Volke und bewirkte dadurch, dass die jüdische Wissenschaft zu jener Zeit an Anerkennung verloren hat. Man sagte sich: was nützen uns denn die Gelehrten; sie treiben die Gelehrsamkeit zu ihrem eigenen Nutzen! Gegen dieses Verfahren ist Binjamin mit allem Eifer eingetreten.

Im Beginne des fünften Jahrhunderts war es Rabbi Garmaliel Batraah, der am Hofe des Kaisers Theodosius II, (408 — 450) hohe Auszeichnungen genoss und dabei sicherlich vielfach für seine Glaubensgenossen eingetreten ist. Er war der letzte Patriarch, zugleich der letzte aus dem edlen Hause Hillel. Neben dem Patriarchentitel hatte er die Würde eines Präfekten und war im Besitze eines Ehrendiploms. Seine medizinischen Kenntnisse sollen sehr bedeutend gewesen sein; man schrieb ihm z. B. die Erfindung eines probaten Heilmittels für Milzkrankheiten zu.

Auch im fränkischen und burgundischen Reiche übten viele Juden die Arzneikunst aus, und die jüdischen Arzte wurden sogar von den Geistlichen zu Rate gezogen, welche sich nicht ganz auf die wundertätige Heilung der in Krankheitsfällen gesuchten Heiligen und Reliquien verlassen mochten. Dabei haben sie wohl auch nicht unterlassen, im Sinne einer Lageverbesserung ihrer dortigen Stammesbrüder tätig zu sein, besonders Zedekias, der als Leibarzt von Karl dem Kahlen, dem fränkischen Kaiser, sehr geliebt wurde (um 843).

Jüdische Ärzte waren es auch zum Teil, durch deren Einfluss Bulan, der König der Chazaren (an der Mündung der Wolga), Interesse für das Judentum gewann, sodass er sich später sogar mit seinem ganzen Volke zum Judentum bekehrt hat.

Besonders die jüdisch-arabischen Ärzte hatten einen klangvollen Namen und haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Verhältnis der Juden zu den Arabern durch lange Zeit sich ungetrübt erhalten hat. So unter andern Messer G’awaih aus Bassra in Babylonien, der eine medizinische Schrift, die Pandekten des Presbyters Ahron, aus dem Syrischen ins Arabische übersetzt hat (um 683). Ferner Sahal Al-Tabari mit dem Beinamen Rabban aus Taburistan (um 800), der auch als Mathematiker berühmt war und sein Sohn Abu-Sahal-Ali (835 — 853), welch letzterer der Lehrer zweier medizinischer Autoritäten unter den Arabern war, des Razi und Anzarbi.

In Afrika besaß damals Isaak ben Suleiman Israeli einen bedeutenden Namen als Arzt, Philosoph und hebräischer Sprachforscher. Er stammte aus Egypten und wurde von dem letzten aghlabitischen Fürsten Ziadeth Allah als Leibarzt nach Kairuan berufen (um 904). Als der Gründer der fatimidischen Dynastie, Ubaid Allah, der messianische Imam, den Aghlabiten-Fürsten besiegte und ein großes Reich in Afrika gründete, trat Isaak Israeli in seine Dienste und genoss seine volle Gunst. Auf den Wunsch des Chalifen Ubaid Allah schrieb er acht Werke über Medizin, von denen das beste das über das Fieber ist. Ein christlicher Arzt, der Gründer der Salerner medizinischen Schule, beutete Israeli’s Werke aus und eignete sich einige seiner Schriften als Plagiator an.

Israeli verfasste sodann einen philosophischen Kommentar zu dem Schöpfungskapitel der Genesis, aber mehr, um Naturgeschichtliches und Philosophisches auseinander zu setzen, als um den Sinn der Schrift zu ergründen.

Auch mit hebräischer Sprachforschung scheint er sich beschäftigt zu haben. Seine Vorträge wirkten indeß viel eindringlicher als seine Schriften auf seine Zuhörer ein. Er bildete zwei Jünger aus, einen mohammedanischen, Abu G’afar Ibn Algezzar, der auf dem Gebiete der Arzneikunde als eine Autorität anerkannt wird, und einen jüdischen, Dunasch ben Tamim, der im Geiste seines Meisters weiter wirkte und später Leibarzt bei dem dritten fatimidischen Chalifen Ismael Almansur wurde. Er war der Vertreter der jüdischen Wissenschaft im fatimidischen Reiche und war, ebenso wie sein Lehrer Isaak Israeli, ein Anhänger Saadia’s, den er in seinen Angriffen auf das Karäertum begünstigte.

Dunasch ben Tamim verfasste Werke über Medizin, Astronomie und über die damals neu eingeführte indische Rechnungsweise. Er gab eine Rangordnung der zu jener Zeit gepflegten Wissenschaften an. Nach ihm nehmen die niedrigste Stufe ein die Mathematik, Astronomie und Musik. Höher stehen Naturwissenschaft und Arzneikunde, auf der höchsten Stufe steht die Metaphysik, die Erkenntnis Gottes und des Geistes.

Was seine Leistungen auf dem Gebiete der jüdischen Wissenschaft betrifft, so verfasste er eine hebräische Grammatik und schrieb eine Erklärung zu dem rätselhaften Buche der Schöpfung (Sefer Jezirah), weil ihm Saadia’s Arbeit darüber ungenügend erschien. Gleichzeitig mit ihm am fatimidischen Hofe lebte der Arzt David ben Merwan Almokammez und nahm daselbst eine angesehene Stellung ein. Er hatte viele Reisen gemacht, war mit der Literatur und der Geschichte des Morgenlandes vertraut, schrieb ein ausführliches Werk über die mohammedanischen, samaritanischen und karäischen Sekten und auch ein physikalisches Werk über die Gotteseinheit, gewissermaßen in scholastischer Manier.

Wie Dunasch ben Tamim hat auch Sabbatai Donnolo (ungef. 913—970), Leibarzt des byzantinischen Vizekönigs Eupraxios, der im Namen des Kaisers Calabrien beherrschte, einen Kommentar zum Schöpfungsbuche (Tachkemoni) geschrieben und darin die Resultate seiner Forschungen niedergelegt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juedische Ärzte und ihr Einfluss auf das Judentum.