Hamburg und vom Wert des Menschen

In der alten Hansestadt Hamburg trifft man mitunter ganz eigentümliche Einrichtungen; in jeder Straße finden sich mehrere Sackgässchen, die man Höfe nennt, und die von ärmeren Leuten bewohnt werden, außerdem führen die Treppen zu den oberen Etagen von der Straße aus dorthin, und solche Wohnungen nennt man einen Saal; im übrigen Deutschland kennt man weder das Wort noch diese Einrichtung, und auch in Hamburg ist sie so weit verschwunden, als das Feuer seine verheerende Gewalt übte. Vor dreißig Jahren wohnte auf einem solchen Saal und in solchem Hofe ein junger Mann, der einen kleinen Handel mit allerlei Waren trieb, die er von den Großhändlern einmal in der Woche zu billigen Preisen ankaufte; er fuhr sie des Tages über auf einer Karre umher und am Sonntag Nachmittag — Winter und Sommer — konnte man den fleißigen Mann mit seiner Ware auf dem Platze vor dem Altonaer- oder Millern-Tor finden, weil hier ein größerer Zusammenfluss von Menschen den Handel ergiebiger machte. Dieser Mann war ein Jude, und da er als solcher an Ausübung eines zünftigen Handwerkes den Einrichtungen und Gesetzen der alten Hansestadt zufolge verhindert war, und seine Eltern in ihrer Armut auf seine Erziehung nicht viel verwenden konnten, hatte er sich dem Handel zugewendet. Durch Fleiß und Sparsamkeit hatte er sich ein kleines Kapital erworben, das er mit Einsicht und Sachkenntnis; anzulegen verstand, mit der Zeit immer größere Geschäfte machte, und jetzt finden wir Herrn de Castro in einem großen, schönen Hause wieder, an der Spitze eines der bedeutendsten Geschäfte und im Besitze eines außerordentlichen Vermögens.

Herr de Castro war an der Börse sehr hoch geachtet, seine Rechtlichkeit war bekannt und jedermann verkehrte gern mit ihm; seine Glaubensgenossen waren stolz auf ihn, denn er tat viel Gutes, und hatte als reicher Mann noch dieselbe Anhänglichkeit für die angeborne Religion, wie früher, was sogar ein seltener Fall ist, denn Reichtum gibt gerade nicht immer Bildung, aber sehr oft eine Afterbildung, einen Schein von Bildung, der widernatürlich ist und mehr abstößt, als anzieht. Hätte Herr de Castro in Berlin gelebt, würde er sich vielleicht den Titel eines Kommerzienrates gekauft, oder denselben für ein gutes Geschäft, das er dem Staate zugewiesen oder für eine Anleihe, die er für denselben übernommen, oder auch für einen bedeutenden Vorschuss, den er einem minderjährigen verschwenderischen Prinzen geleistet, schenken lassen. In Hamburg kennt man dergleichen nicht; hier gilt der Mann nur gerade so viel, als er oder sein Geld wert ist, und hält die Ehre der Republik jedenfalls in so fern aufrecht, als man weder auf Titel noch auf Adel etwas gibt. Herr de Castro war sogar von Adel, und sogar von recht altem Adel, doch daran dachte er so wenig, als die andern jüdischen Familien, deren Vorfahren einst in Portugal oder Spanien in hohen Ehren standen, und durch die Verfolgung der Inquisition genötigt wurden auszuwandern. Er wollte nur ein redlicher Mann und ein guter Vater sein, und das war er beides. Im Kreise seiner Familie fand er sein größtes Glück. Seine Frau war durch den Reichtum nicht stolz geworden und seine Kinder — zwei Söhne und eine Tochter — waren wohlerzogen und der Eltern Freude.


Wir wollen unsere Leser nun auch mit noch andern Personen bekannt machen, von denen wir zu erzählen haben werden, und finden kein besseres Mittel, als einen Brief mitzuteilen, den die junge Dame von der wir sprechen wollen, geschrieben hat; um zu zeigen, wie es im Herzen einer reichen Senatorstochter aussieht. —

Laura Klinghammer an ihre Freundin.

Mit Dir, liebe Auguste, ist die Freude und Ruhe aus meinem Herzen gewichen, ich bin allein und ich fühle es nur gar zu sehr! Dumpf und bleiern lastet diese Einsamkeit auf mir; wenn ich recht glücklich, nur glücklich wäre, wäre dieses Alleinstehen eine Bürde für mich, aber ich bin unaussprechlich einsam und unaussprechlich unglücklich, und wenn man in solchem Zustande allein und verlassen dasteht, Niemand hat, dem man in jedem Augenblicke sein Herz ausschütten, bei dem man Trost und Beistand suchen und finden kann, o dann ist man zu beklagen. Ich hatte nur Dich, nur Dich allem, und Du wardst mir entrissen! Verzeihe es meiner tiefbetrübten Seele, dass ich klage, wo ich mich freuen sollte, dass ich meine Trauer so wenig bemeistere und Deine stillen Freuden mit meinem Jammer unterbreche! Und doch freue ich mich Deines Glückes, wie keine unserer Freundinnen, es ist eine süße Beschäftigung für mich, wenn ich mich mit meinen Gedanken in Deinen kleinen Kreis versetze und Dein stilles, beglückendes Walten beobachte; ich sehe im Geiste, wie Du am Arme Deines Gemahls in den duftenden Gängen Deines Gartens spazieren gehst, wie Du seine Liebe für Dich aus seinen Augen liest, wie Du Deine ganze Welt an ihm gefunden, und durch ihn ganz und gar beglückt wirst. Auch zieht es mich hin zu Dir, und längst schon wäre ich gekommen, aber Du weißt, dass mein guter Vater nur mich hat und mich ungern vermisst, und jetzt werde ich auch in keinem Falle Hamburg verlassen. Adolf hat mir vor acht Tagen geschrieben, dass er kommen würde; er hat nun gar keine Ruhe mehr, ich lese aus seinen Zeilen, wie es ihn niederdrückt, dass er nicht offen und frei um meine Hand werben darf. Er hat den letzten Examen nun auch bestanden und die rühmlichsten Zeugnisse davon getragen; alle seine Bekannten rühmen seine Kenntnisse, wie überhaupt seine Tüchtigkeit, und da er außerdem hier sehr in Achtung stehet, wird er gewiss bald Praxis bekommen, obschon wir an Ärzten gerade keinen Mangel haben. Von seinen äußeren Verhältnissen spricht er wenig, er deutet mir nur an, dass er dem Wunsche seiner Eltern zufolge in Hamburg seine Zukunft und „sein zukünftiges Glück“ wie er sich sehr bedeutsam ausdrückt, zu begründen hofft, aber er hat auch wohl an die Schwierigkeiten gedacht, die sich uns entgegentürmen, denn er fügt noch hinzu: „und sollte es nicht gelingen, wie ich es wünsche, wird meiner Laura der Mut einst fehlen? wenn wir anderwärts unser Glück suchen müssen, wollen wir dort auch unsere Zukunft begründen.“ Das sind eigene, inhaltschwere Worte, liebe Auguste; ich habe nicht den Mut, sie mir zu deuten, und will lieber warten, bis er selbst da ist, und sie mir deutet, denn was es auch Trübes sein mag, was er damit hat sagen wollen, wenn ich in seine klaren Augen schaue, dann bin ich schon halb getröstet und die Hoffnung zieht in meine Seele ein. Es ist etwas Schönes und Großes um diese Zuversicht auf das Gelingen seines Vorhabens, und man soll sie nicht tadeln. Man hat mich immer gelehrt dass es eine Lästerung des Himmels sei, wenn man so kühn auf seine eigene Kraft und auf seinen Willen traut, aber ich denke, dass es des Mannes wohl würdig sei. Wenn der Mensch nur immer das Rechte und Gute will, und nicht ermüdet, bis er es gefunden, so steht ihm Gott selbst darin bei und gerade diese himmelanstürmende Kraft in ihm ist der himmlische Geist, der ihn beseelt. Wenn mein Adolf zu mir sagte; „es muss und es wird gelingen, dass Du die Meinige wirst,“ — dann fühle ich mich wie neu belebt und kann fröhlich sein wie ein Kind, obgleich ich gar nicht weiß, wodurch mein Vater zu bewegen sein wird, seine Einwilligung zu geben, denn nach seinen Begriffen ist es unmöglich, dass ich einen Juden heirate, und selbst wenn Adolf sich taufen ließe — was er aber schwerlich tun wird, und ich gar nicht von ihm verlangen kann, — würde er es auch nicht zugeben. — Und doch weiß ich, dass er Adolf sehr hoch schätzt, und seinen vorzüglichen Eigenschaften die vollste Gerechtigkeit widerfahren lässt; er hat schon mehr als einmal gesagt, dass er sich einen so tüchtigen Sohn wünsche, und die ganze Familie steht bei ihm in höchster Achtung. Rahel, die Vertraute unseres Geheimnisses, sonst etwas leicht und oberflächlich, aber doch sehr bestimmt in ihrem Charakter, und jedenfalls eine sehr zuverlässige Freundin, ist sogar im Stande, meinen Vater in der trübsten Laune aufzuheitern, und er hat nie etwas dagegen gehabt, dass sie so oft zu uns kommt, sich im Gegenteil immer sehr darüber gefreut, doch ist es mir wohl erinnerlich, dass er es vor mehreren Jahren noch nicht gern sah, wenn ich oft hinüber ging, und einmal äußerte er sogar, dass ihm der Umgang seiner Kinder — damals war mein älterer Bruder noch zu Hause — mit dieser jüdischen Familie gar nicht sehr angenehm sei. Jetzt freilich, ist es anders, und seitdem der alte Herr de Castro in so allgemeiner Achtung steht, fällt ihm dergleichen nicht mehr ein.

Ich habe von diesen Unterscheidungen gar keinen Begriff, und weiß durchaus nicht, warum mein Adolf weniger gelten soll, weil er ein Jude ist. Was gehen mich die Vorurteile des Pöbels an! Die Juden wohnen erst seit ein paar hundert Jahren hier, und darum haben sie bei uns keine Rechte; mein Vater sagte mir einmal, sie würden wie Fremde angesehen und darum so behandelt. Ist das nicht höchst ungerecht! Es ist gewiss wahr, dass es wenig so treffliche Familien gibt, wie die des alten Herrn de Castro, und sehr schlecht wäre es, wenn man sie weniger schätzen wollte, als sie es verdient, weil sie eine jüdische ist! Ich habe mir sagen lassen, dass man in andern Ländern, wie z. B. in Frankreich, in Belgien und Holland, solche Unterscheidungen nicht kennt, und wir Hamburger sind doch eben so rechtlich denkend, so gebildet und so vernünftig wie die Franzosen und Engländer, im Gegenteil wir sind Republikaner, und da sollte uns die Freiheit und der Wert eines Menschen noch etwas mehr gelten.

Da habe ich mich so förmlich ins Räsonnieren hineingeschrieben und bin so scharf und bitter geworden, dass Du wirklich glauben könntest, ich beschäftigte mich mit dergleichen, aber in der Tat kommen mir solche Gedanken sehr selten. Ich habe stets nur einen Gedanken, und der heißt Adolf. Der ist meine ganze Welt! Ich freue mich unaussprechlich, dass er bald kommen wird, und dennoch ist meine Seele mit trüben Ahnungen erfüllt; in einem Augenblicke möchte ich laut aufjauchzen, und im andern kann ich die Tränen nicht zurückhalten, und ich habe keine harmonische Seele, die mich versteht, mit mir fühlt, mit mir sich freut und mit mir trauert. Rahel ist die einzige, mit der ich von meinen Freuden und Leiden sprechen kann, aber sie hat so viel andere Sachen in ihrem schönen Köpfchen, dass ich es ihr wohl ansehe, wie sie mir nur mit größter Ungeduld zuhört. Ich habe nur Dich, liebe Auguste, vergib daher, wenn ich Dich mit den Angelegenheiten meines Herzens so viel beschäftige! Es ist mir ein Trost, mein Herz vor Dir ausschütten zu können, und wenn es gar nicht mehr anders geht, dann komme ich zu Dir, und gewiss, Du nimmst mit offenen Armen auf Deine Laura.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden und Christen oder die Zivilehe. Band 1