Ein junger Zelot

Benno van der Harrys an seinen Freund.

Lieber Theodor!


Zum ersten Male schreibe ich Dir aus der Fremde; ich würde sagen aus der neuen Heimat, denn mein Vater wünscht sehr, dass ich hier eine Zeitlang meine Heimat finde, aber ich weiß jetzt schon, dass ich hier ein Fremder bleiben werde; ich passe nicht hierher, werde hier nicht verstanden, und muss mein einsames Leben hier fortsetzen, wie ich es in Amsterdam geführt habe, seitdem Du mich verlassen Hast. Vor einigen Tagen kam ich hier an, von meinem Vater mit Empfehlungsbriefen und guten Ratschlägen wohl versehen. Meine Reise war ziemlich langweilig; der Kapitän des Schiffes war fast der Einzige, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließ, und ich war echt froh, als wir in den Hafen einliefen. Obschon es bereits in der Dämmerung war, als ich meine Toilette im nächsten Gasthofe einigermaßen geordnet hatte, ging ich doch noch zu der Familie de Castro wo ich, wie ich wusste, erwartet wurde, denn mein Vater hatte mich schon früher angemeldet. Ich muss Dir gestehen, dass ich mit klopfendem Herzen diesen Weg antrat. Ich soll einige Zeit in diesem Kreise leben, wie mein Vater es sehnlichst wünscht, und selbst wenn es mir da nicht gefiele, muss ich also ausharren.

Um so größer war meine Freude, als ich mit außerordentlicher Herzlichkeit empfangen wurde, so dass es mir anfangs schien, als würde ich sehr gern in diesem Kreise bleiben. Aber schon nach einer Stunde wurde ich teilweise enttäuscht, und ich weiß in der Tat nicht, wie in acht Tagen mein Urteil ausfallen wird: Wie ich Dir heute meine Umgebung schildere, erscheint sie mir auf den ersten Eindruck, und dieser ist freilich sehr oft der richtige und maßgebende. Dennoch will ich Dir gestehen, dass ein wenn auch nur geringer Grad von Missstimmung, eine Folge der Reise und der Entfernung vom elterlichen Hause, und besonders auch die Ungewohntheit der Ansichten, denen ich hier begegne, ganz besonders auf mein heutiges Urteil Einfluss haben könnten. Aber mit der Freimütigkeit, die mir eigen ist, werde ich mich selbst verbessern, wenn ich mich nachher überzeuge, dass ich Unrecht hatte.

Also höre! Die Familie besteht aus dem Herrn de Castro, seiner Fran, zwei Söhnen und einer sehr schönen und geistreichen Tochter. Herr de Castro ist ein alter Freund meines Vaters; sie kennen sich seit einer langen Reihe von Jahren, haben sich in früherer Zeit mitunter besucht, und achten sich gegenseitig sehr hoch. Mein Vater sagte mir von ihm: Du findest in Herrn de Castro, was Sitte, Lebensweise und Ansichten betrifft, ganz mich selbst wieder, und wirst ihn achten und lieben lernen! — Ich glaube, mein Vater hat sich geirrt, oder sein Freund hat sich geändert. Herr de Castro ist gewiss ein sehr braver Mann, er ist auch ein frommer Jude und ist streng in seinen Ansichten über unsere heilige Religion, aber — das muss ich an ihm tadeln — er buhlt um die Gunst vornehmer Christen. Ich hasse das, weil es uns erniedrigt, weil es unserer unwürdig ist, und werde es nie und nimmermehr tun. Man begegnet uns mit Verachtung, man sagt’s uns ins Gesicht: wir haben eine Idiosynkrasie gegen Euch, und schämt sich dieses Eingeständnisses nicht einmal, und ich, ich sollte nicht auch sagen dürfen: „weil Ihr Euch nicht schämt, mich zu verachten, will auch ich mich nicht schämen, Euch zu verachten, denn ich habt mehr Grund und Recht dazu. Ich verachte Euch Eurer Engherzigkeit, Eurer Vorurteile wegen, ich verachte Euch Eurer Ungerechtigkeit, des Druckes wegen, mit dem Ihr uns belastet, und ich auch darf von Idiosynkrasie Euch gegenüber sprechen, und weil ich mich selbst achte, kann ich Euch nicht achten und will fern von Euch bleiben! Ändert Eure Gesinnungen, bewährt es durch die Tat, erhebet Euch zu der Humanität, die Eure Frommen im Munde führen, selbst indem sie ihre Opfer binden, und versöhnt will ich Euch die brüderliche Rechte reichen. Aber so lange dies nicht geschehen ist, so lange Ihr meine Tyrannen seid, so lange sei es fern von mir, mich um Eure Gunst zu bemühen. Ich kann und werde nicht in den Staub hinsinken!“ —

Vergib meinen Eifer, mein Freund. Er erwacht in mir, wenn ich mir vorstelle, mit welcher fast kriechenden Zuvorkommenheit in dem — beiläufig bemerkt, äußerst glänzend und modern eingerichteten — Hause des Herrn de Castro namentlich vornehme und reiche Christen aufgenommen und bewirtet werden, und wie diese das auch wohl merken, und da übermütig und stolz die Herren spielen, wo sie eigentlich nur Gäste sind! O! ich höre es in meinen Gedanken, wie sie lachen und spotten, wenn sie in ihrem Hause sind — über die Eitelkeit des reichen Juden! —

Wohl ist Herr de Castro ein aufrichtiger Jude, aber er ist es nur in seinem Kabinett und auf seinem Platze in der Synagoge — in seinem Hause und im Leben hat er den Juden abgestreift, so gut es nur eben anging. Dahin führt dieses Buhlen um Christengunst. Kein Wunder also, wenn seine Kinder vom Judentum wenig wissen, und keine besondere Achtung vor demselben haben. Seine Frau ist eine brave Hausfrau, die das Haus besorgt, und sonst Alles an sich vorübergehen lässt! Sie freuet sich, wenn Andere sich freuen, und kümmert sich sonst um nichts. Der älteste Sohn, ein Kaufmann, ist gerade so viel Jude, als ich ein Christ bin, das heißt, er ist eigentlich gar kein Jude, und wenn er das nicht offen ausspricht, obgleich seine Handlungsweise es deutlich genug besagt, so geschieht es aus Dank gegen seinen Vater, weil dieser so tolerant gegen ihn ist, ihn machen zu lassen, was er will und seine Indifferenz ignoriert, „weil die jungen Leute einmal nicht anders zu machen sind.“ Ein jüngerer Sohn ist eben als Doktor der Medizin von der Universität zurückgekehrt. Dieser ist eine andere Erscheinung. Er schwärmt für das Judentum, ohne Jude zu sein; er spricht immer davon und handelt nicht als Jude, er liebt das Judentum, und behauptet von sich mit großem Stolze, dass er ein Kosmopolit sei! Du wirst Dir das kaum denken können, und doch ist dem in der Tat so? Ich habe schon viel mit ihm gesprochen, aber wir kommen immer mehr auseinander! In ihm zeigt sich das Resultat solcher Erziehung auf andere Weise, doch in ähnlicher Gestaltung. Sonst aber muss man diesen jüngeren Sohn seiner Charakterstärke wegen sehr hoch achten, während der ältere, Richard, eigentlich ein Genussmensch ist, und wenn ich nicht irre, nur materielle Freuden liebt!

Vom Besten und Schönsten spreche ich zuletzt. Das ist Rahel, die Tochter des Hauses. Ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, von blendender Schönheit und glänzender Geisteshelle! Ich gestehe Dir, dass ich das Wesen dieses Mädchens nicht erfasst habe; manches ernste Wort habe ich wohl schon mit ihr gewechselt, und oft Gelegenheit gehabt, die Schärfe und Gewandtheit ihres Verstandes zu bewundern — aber immer und immer entgleitet sie mir wie ein Aal, und ich weiß um so weniger, welches ihre wahre Denkungsweise ist, da sie bei sehr fröhlicher Gemütsart auch das Ernsteste durch eine geschickte Wendung in Lust und Fröhlichkeit hinüberzuspielen versteht. Und doch, wenn ich dieses Wesen genauer beobachte, sage ich mir oft, dass hinter dieser Fröhlichkeit und dieser muntern Schelmerei eine Tiefe des Geistes und eine Reinheit des Gemütes verborgen liegen, von der nur Wenige eine Ahnung haben. Dieses junge Mädchen ist die Seele und der Schutzengel des ganzen Hauses! Du solltest sie nur einmal sehen, nur eine halbe Stunde beobachten, und Du würdest eben so entzückt von ihr sein, als ich es bin! Aber ich habe mir vorgenommen, sie genau kennen zulernen, denn ich gestehe Dir gern, dass sie mich sehr anzieht, wenn gleich ich wohl schon in der ersten Stunde unseres Zusammenseins Ursache hatte; ihr wegen ihrer Neckereien zu zürnen. — Du sollst bald Näheres und Bestimmteres erfahren, meine nächste Schilderung soll ausführlicher sein! Bis dahin habe lieb wie immer

Deinen Benno.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden und Christen oder die Zivilehe. Band 1