Die schöne Unbekannte

Richard hatte eine Liaison mit einer schönen, französischen Tänzerin gehabt. Er hatte ihre Bekanntschaft gesucht, weil sie eine Tänzerin, jung, schön, eine Französin und in der Mode war, und, nicht nur eine Bekanntschaft, sondern auch eine recht innige Verbindung geschlossen. Die Tänzerin verlor ihr Engagement, weil die Direktion der Meinung war, dass man auch in der Schönheit dem Publikum Abwechselung bieten müsse; ihre Verehrer, besonders Richard, bedauerten es so herzlich, wie nur möglich. Es bildete sich eine Partei, die, so gering an Zahl und an Einfluss sie auch war, doch sich einbildete, die öffentliche Meinung repräsentieren zu können. Sie erließen deutsche und französische Annoncen in den Tagesblättern, sie hoben die außerordentlichen Talente der schönen Tänzerin in den Himmel und hofften, dass das Publikum, dadurch veranlasst und auf den bevorstehenden Verlust aufmerksam gemacht, bei einer der nächsten Ballettvorstellungen die Direktion vor die Gardine zitieren und sie zwingen werde, den Kontrakt mit der Tänzerin zu erneuern. Von dem Allen geschah aber nichts. Man wusste in Hamburg recht gut, dass einer abgehenden Tänzerin eine neue folgen werde, und beschränkte sich, wie sonst, darauf, die Sprünge und Schwenkungen der gut kontonnierten Fußgestelle zu bewundern und allen falschen eingebildeten und wirklichen Reizen vor wie nach Beifall zu spenden. Die Direktion ließ sich in ihrer Handlungsweise noch weniger irre machen; sie erklärte kurz und gut, dass die verehrte Tänzerin bleiben würde, wenn ihr Liebhaber ihr jährlich sechstausend Mark zahlen wolle, und dann dürfe sie ihm allein Etwas vortanzen; sie ließ die Fußkünstlerin nun auch nicht mehr auftreten, so dass sie sich genötigt sah, den Abschieds-Enthusiasmus auf einer kleineren Bühne einzuernten. —

Die Tänzerin war abgereist und Richard de Castros Liebe war vakant geworden. Er suchte


eine andere, aber zu demselben Preis, denn der Liebhaber war doch nie stärker in ihm, als der Kaufmann.

Lange Zeit flatterte er von einer Blume zur andern, nippte hier und nippte dort, verbrannte sich wohl auch einmal die reich verzierten Flügel, da trat eine neue Schauspielerin auf, die, wenn auch nicht viel Kunst, doch desto mehr Natur, und somit die alten Hagestolzen im Voraus auf ihrer Seite hatte. Die schöne W. war in allen Pavillons und in allen Clubs das Tagesgespräch; jeder junge reiche Kaufmann hoffte und war im Stillen bemüht, sie für sich zu gewinnen. Jeder spannte seine Segel auf, es wurde geseufzt und gegirrt, man ließ alle Minen springen und Niemand konnte sich des Sieges rühmen. Richard wollte Sturm laufen, ward aber mit etwas éclat zurückgeworfen, und hatte jetzt um so mehr Lacher und Spötter gegen sich, als man ihn um manchen früheren Sieg beneidete.

Das hatte seiner Eitelkeit einen heftigen Schlag versetzt. Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte allen Liaisons entsagt, doch das hieße bei ihm auch allem Reiz des Lebens entsagen, und dazu war er seiner eigenen Meinung nach zu jung. Eine Zeit lang beschäftigte er sich wieder mit seinen Büchern. Ein französischer Graf hatte Vorlesungen über französische Literatur angekündigt und dadurch war in ihm die Liebe zu den französischen Schriftstellern aufs Neue erwacht. Er blieb Abends viel zu Hause und las eifrig, oder blieb im Kreise seiner Eltern. Es hatte fast den Anschein, als ob er sich vorgenommen hätte, ein gesetzter Mann zu werden, was seinen Vater veranlasste, sich noch tätiger wie sonst nach einer passenden Gattin für ihn umzusehen. Weil aber die Wahl sehr schwierig war und sich selbst in dein großen Hamburg keine Partie fand, die allen Anforderungen entsprach, dauerte es lange, ehe der besorgte Vater zu einem Entschluss kam. Unterdes freute er sich der glücklichen Veränderung, welche mit seinem Sohne vorgegangen war, und sah mit der größten Zuversicht einer glücklichen Zukunft entgegen.

Leider wurden seine schönsten Hoffnungen getäuscht, und gerade, was ihm als eine glückliche Vorbedeutung erschienen war, wurde die Quelle vieler trüben Stunden.

Richard lebte seinen Studien und seinen Geschäften, als der französische Graf seine Vorlesungen ankündigte. Die ganze haute-volée und Alles, was sich zur Intelligenz rechnete, versammelte sich in dem großen Hörsaale der Gelehrten-Schule. Der kluge Franzose hatte es nicht unterlassen, pomphafte Ankündigungen vorauszuschicken, er hatte sogar der Hamburger Sitte genügt und allen vornehmen und reichen — auch jüdischen — Familien vorher seinen Besuch gemacht, und da er in der Tat einen schönen, lebendigen Vortrag hielt, seine Vorlesung interessant zu machen verstand, außerdem aber das Fremdartige noch mehr gefiel und noch leichter in die Mode kam, war schon die zweite Vorlesung noch zahlreicher besucht und die deutschen Blätter hoben den französischen Grafen in den Himmel. Eine Modezeitung sogar referierte in französischer Sprache.

Richard war mit seiner Schwester hingegangen, und hatte an diesen Vorträgen so außerordentliches Gefallen gefunden, dass er sich vornahm, keine derselben zu versäumen; er war immer sehr früh hingegangen und hatte immer denselben Platz eingenommen. Schon bei der ersten Vorlesung bemerkte Richard ein junges Mädchen, die ihm gegenüber saß, und unwillkürlich sah er fleißiger zu ihr hin, als es sich mit einer ernsten Aufmerksamkeit vereinigen ließ. Es war aber auch ein so liebliches Gesichtchen, wie wohl in der ganzen glänzenden Versammlung kein zweites zu finden war. In den blauen Augen, die sie mitunter zu dem Professor aufschlug, lag eine unendliche Schwärmerei, eine ganze Welt von Gefühlen und Empfindungen, und waren ihre Blicke auf die kleine zierliche Schreibtafel gesenkt, um einige Worte flüchtig zu notieren, konnte man die ganze himmlische Ruhe dieses Madonnenantlitzes genießen. Die bleiche Gesichtsfarbe kontrastierte ungemein zu den vollen schwarzen Locken, die unter einem kleinen rosaseidenen Hute sich nicht verbergen ließen; die Kleidung war auffallend einfach, aber höchst geschmackvoll, und das ganze Wesen des jungen Mädchens war der reinste und schönste Abdruck angeborenen Seelenadels. Sie war in Begleitung zweier Kinder gekommen, die neben ihr saßen; als die Vorlesung beendigt war, fühlte sich Richard sehr glücklich, sie beim Einsteigen in einen Mietwagen noch einmal zu sehen. Obgleich keine glänzende, war sie doch eine interessante Schönheit und konnte leicht denjenigen fesseln, der Sinn und Gefühl besaß, diese herrlichen Züge zu verstehen. Richard musste sich gestehen, dass diese Erscheinung einen außerordentlichen Eindruck auf ihn gemacht hatte, und nur die Gegenwart seiner Schwester hatte ihn verhindert, sich nach ihr zu erkundigen, was jetzt sein sehnlichster Wunsch war. Im Geheimen forschte er bei allen seinen Bekanntschaften, ob vielleicht Jemand diese junge Dame kenne, er besuchte wieder das Theater, er war wieder auf den Spaziergängen zu sehen und Niemand hatte eine Ahnung von dem, was in seiner Seele vorging. Mit Sehnsucht erwartete er die nächste Vorlesung, denn hier nur sah er sie wieder; kaum konnte er die Unruhe, die ihn erfüllte, verbergen, und wo er sich auch befand, womit er sich auch beschäftigte, immer stand die schöne Fremde vor ihm, und füllte alle seine Sinne aus. So sehr er auch seine Schwester liebte, und so viel Vergnügen es ihm auch machte, mit ihr auszugehen, hatte er doch gar zu sehr gewünscht, dass sie einmal wenigstens von dem Besuch der Vorlesung abgehalten würde, aber die Gelegenheit dazu fand sich nicht, denn seitdem es nun einmal zum guten Ton gehörte, diese französischen Vorlesungen mit anzuhören, seitdem man sich hier versammelte, weniger, um sich zu belehren, mehr aber um sich zu amüsieren, und eine neue Robe oder einen neuen Hut zur Schau zu stellen, hatte Rahel es nicht vermocht, zu Hause zu bleiben. Ihre Gegenwart war notwendig geworden, denn nie hätte sie sich in der Gesellschaft können sehen lasen, da man Wochen lang beinahe von nichts Anderem sprach, als von dem schönen Franzosen, von seinem schönen Vortrage, von seiner glänzenden Beredsamkeit, und von den Personen, mit denen man hier zusammentraf. Hätte Richard zu seiner Schwester Vertrauen gehabt und ihr offen gestanden, was ihn jetzt beschäftigte, so hätte die kluge Rahel es wohl so einzurichten gewusst, dass sie ohne den Bruder nach Hause zurückgekehrt wäre, und der sehnsüchtige Schmachtende hätte dann wenigstens erfahren können, wo seine schöne Unbekannte wohnte. Aber so oft auch Richard diesen Gedanken fasste, immer verwarf er ihn wieder, denn er fürchtete die kleinen Neckereien der Schwester, ihren beißenden Spott, den sie trotz ihrer Gutmütigkeit nicht unterdrücken konnte, sobald sie von einer neuen Eroberung etwas erfahren hatte.

Hätte er nun gar von einer ernsteren Neigung etwas verlauten lassen, würde die Schwester noch mehr gelacht haben, und hatte ihn sicher noch mehr mit ihrem Spotte verfolgt, denn daran glaubte sie nicht; auch war sie durch die Lebensweise, welche Richard nun schon seit mehreren Jahren führte, wohl zu der Annahme berechtigt, dass er einer ernsten, tiefen Neigung gar nicht fähig sei. Richard war ein Lebemann, und als solcher wohl bekannt. Man wusste es ihm Dank, dass er immer die Dehors gehörig berücksichtige, und mehr verlangte man von ihm nicht. Wenn ihn seine Schwester ein wenig auszuforschen suchte, so geschah es doch nur, um ihn dann desto besser necken zu können, doch erlaubte sie es sich nur, wenn sie mit ihm allein war, denn im Grunde ihres Herzens liebte sie den Bruder sehr und gönnte ihm seine Vergnügungen.

So war denn Richard zum Dulden und Ausharren verurteilt. Noch nie hatte er so lange geschmachtet, ohne sogar den Namen der Geliebten zu kennen, und nie hatte er mit so vieler Sehnsucht auf eine nähere Bekanntschaft gehofft. Dieses Mal schien er selbst seine Gefühle für heiliger zu halten; nur anfangs hatte er es gewagt, bei seinen Bekannten nach dem Gegenstande seiner Liebe zu forschen, später sprach er mit Niemand davon. Tief in sein Herz schloss er seine Gefühle. Er war glücklich, wenn der Tag herannahte, an dem er sie zu sehen hoffen durfte, es war ihm ein Trost, dass die Vorlesungen sich verlängerten und dass die junge Dame nicht weniger Ausdauer zeigte, als er, und erst als auch der zweite Zyklus beendet war, und er nun auch nicht einmal mehr die Aussicht hatte mit ihr wieder zusammen zu treffen, sank sein Mut ganz und er war so unglücklich, wie er noch nie gewesen. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden und Christen oder die Zivilehe. Band 1