Maximilian Harden von Paul Meyer

Maximilian Harden von Paul Mayer

Nach dreiwöchentlichem Aufenthalt in Japan schrieb ein Europäer mit der Anmaßung, die Kenntnis der Oberfläche verleiht, einen mehrbändigen Wälzer über Japans Seele. Nachdem er einige Jahre in Japan gelebt hatte, gestand er, vom Wesen des Japaners nichts, aber auch gar nichts, zu wissen. Ist es mit dem „Jüdischen“ nicht ähnlich? Je mehr man den Komplex des jüdischen Problems durch Denken zu klären sucht, desto schwerer wird es, das Jüdische auf eine eindeutige Formel zu bringen, es begrifflich zu umschreiben. „Aber man fühlt doch das Jüdische sofort heraus“, werden Antisemiten und Juden in seltener Übereinstimmung einwenden. „Es gibt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die einer rationalen Deutung spotten und darum doch vorhanden sind.“ Gewiß, man fühlt, was jüdisch ist, oder man glaubt doch, es zu fühlen. Man hat indes mit Gefühlen so viel Missbrauch getrieben, dass mir das „Gefühl ist alles“ nicht als Sesamwort erscheint, die Pforten ins Land der Erkenntnis zu öffnen. Hätten wir nichts als Gefühl, wir wären noch befangener, noch vorurteilsvoller, noch ungerechter als wir es sind und vielleicht sein müssen.


Ist das Jüdische ein character indelebilis, der weder durch Wechsel der Umwelt noch durch Willen verloren werden kann? Gibt es konstante Züge jüdischen Wesens — auf das Somatische gehe ich als Laie auf naturwissenschaftlichem Gebiet nicht ein — ,gibt es unverlierbare Merkmale, die nicht einmal die Kontinuität zwischen den palästinensischen Nomaden und uns, aber doch den Zusammenhang der Juden der hellenisierten Mittelmeerstädte mit den Juden des heutigen West- und Mitteleuropa beweisen? Macht die Geschichte ein Volk, oder macht ein Volk die Geschichte? Wer hat Recht, die Milieutheoretiker oder die Rassefanatiker? Sind die Juden überhaupt ein Volk im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs? Haben Völker eine metaphysische Bestimmung? Wenn ja, welche metaphysische Bestimmung, welche Sendung an die Welt haben die Juden? Die meisten Zeitgenossen werden diese Vorfragen höchst überflüssig finden. Die Menschen unseres Säkulums finden ja auf alle Fragen und noch einige mehr die garantiert richtige Antwort im Parteiprogramm. Phrasen statt Fragen: das ist die Signatur einer Zeit, die vom Massenmord, Dauerkrieg und anderen Unfreundlichkeiten in ein human zurechtgestutztes Hinterasien und in die unpsychologische Behauptung flüchtet, der Mensch sei gut. Nicht nur durch meine Personalpapiere und durch Blick in den Spiegel weiß ich, dass ich Jude bin, aber was im Einzelnen an mir jüdisch ist, kann ich mit Anspruch auf Gültigkeit nicht bestimmen. Im russischen Etappengebiet empfanden mich meine militärischen Vorgesetzten vom Feldwebel an aufwärts, die mit mir doch nur als deutschem Soldaten zu tun hatten, als Juden; die dort ansässigen Glaubensgenossen wollten mich nicht als Juden gelten lassen, weil ich sehr wenig Hebräisch konnte und mit den Feiertagen nicht Bescheid wußte. Wer hatte Recht, die militärischen Granden oder die Orthodoxen, die mich als Fremden, als deutschen Soldaten empfanden? Selbstverständlich hatten die vom Feldwebel an aufwärts Recht. (Wann hätten die jemals Unrecht gehabt?) Aber warum sie in diesem Falle Recht hatten, ist nicht ganz einfach zu erklären.

Mit allen erdenklichen Vorbehalten, mit entschiedener Ablehnung alles Schlagwortartigen und alles Schlagwortähnlichen, mit dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit des Wortes für eine Sphäre, die teilweise hinter allen sprachlichen Ausdrucksmitteln liegt, will ich versuchen, das Wesen des Jüdischen nicht etwa zu bestimmen, aber doch zu verdeutlichen. „Definitionen sind immer falsch, aber sie beruhigen“ meinte Eduard von Keyserling, nicht der Weise von Darmstadt, sondern der Romancier.

Stellt man sich den Geist als Mittelpunkt des Universums und die einzelnen Völker in konzentrischen Kreisen um diesen Mittelpunkt gelagert vor, so bilden die Juden den ersten, dem Zentrum nächsten Ring. Sie sind dem Geist an sich am nächsten und dadurch vielleicht der Fülle der Gesichte, die das empirische Leben spendet, am fernsten. Das ist ihre Größe und ihre Begrenzung, ihre Kraft und ihr Fluch, ihre Auserwähltheit und ihr Verstoßensein. Das Wesen des Juden — und hier mag eine Kontinuität zwischen den Hebräern des biblischen Zeitalters und den gegenwärtigen Juden bestehen — ist seine besondere Beziehung zum Geist. Zum Geist an sich, nicht zu seinen einzelnen Manifestationen. Die Juden denken: die andern denken durch das Medium der Dinge. Für die andern ist die Welt der Schauplatz des Wirkens, für die Juden ist sie die Stätte des Denkens. „Die Welt ist dazu da, zu Ende gedacht zu werden“, so oder so ähnlich steht im Talmud. Das Denken ist dem Juden der Sinn der Welt. Das Bewußtsein, nicht das Sein bestimmt ihn. Denken um des Denkens willen als „l’art pour l'art“ erscheint mir als spezifisch jüdisch. (Dass hier mit Denken nicht ein mixtum compositum aus Versunkensein und Nabelbeschauen gemeint ist, versteht sich.) Das Schachspiel haben die Juden zwar nicht erfunden, aber sie könnten es erfunden haben. Und, was beweiskräftiger ist, Gott als Geist haben die Juden tatsächlich erfunden. Phidias, Praxiteles und Homer, der in hervorragendem Maße ein „bildender“ Künstler war, haben in Wahrheit den Griechen die Götter geschaffen. Durch Denken schufen sich die Juden ihren Gott, den Geist-Gott; ein gigantisches Abstraktum war durch die Macht des Denkens aus dem syrischen Lokalgott Jahve geworden. Als jüdisches Gedankengut in Gestalt des Christentums die anderen Völker erfasste — Christentum ist Judentum für die Menge, meint Disraeli — ,da wurde das Abstraktum wieder anthropomorphisiert, versinnlicht, konkretisiert, und die Vielfältigkeit des Olymps fand ihre Auferstehung im Himmel der Heiligen. Die monotheistische Fassung des Gottesgedankens wurde abgeschwächt und damit entgeistigt.

Die Juden verstehen es vor allem, das Einmalige, das, was sonst Episode geblieben wäre, unter bestimmte geistige Gesichtspunkte zu ordnen und damit zu erhöhter Bedeutung zu bringen. Sie sind, wenn nicht die Akteure, so doch die Redakteure des Weltgeschehens. Paulus hat auf der Passionsgeschichte des großen Einzelmenschen ein System aufgebaut, wie später Karl Marx auf der Leidensgeschichte der Menschheit. Den Sinn des Geschehens begreifen die denkgeübten Juden häufig schneller als die anderen: aus dem Chaos der Tatsachen lesen sie schnell die Tendenz heraus.

Der einzelne Jude mag dumm, stupid und borniert sein, ganz ungeistig ist er darum doch nicht, nicht einmal dann, wenn er ganz im Geldverdienen aufgeht. Der jüdische Parvenü kauft sich Bücher, die er nicht versteht, der nichtjüdische kauft sich gar keine. Der Jude aus einfachen Lebensverhältnissen ist geneigt, den Geist auch noch in der Karikatur zu verehren. Oft sieht ein kluger, jüdischer Kaufmann in tragikomischer Bewunderung zu seinem Söhnchen empor, weil dies den Doktor gemacht hat und über den jeweils marktgängigen Ismus in modegerechten Terminis schwafeln kann.

Nichtjüdische Beurteiler, die mit einigem Recht in den Vordergrund-Typen der wohlhabenden großstädtischen Oberschicht die Schrittmacher einer notwendig rationalistischen Zivilisation zu erkennen glauben, halten die Neigung zum Rationalismus für das Eigentlich-Jüdische. Das ist kaum richtig. Zunächst ist die Tendenz zur Rationalisierung des Lebens weniger ein Charakterzug als das Ergebnis bestimmter, kultureller, vor allem wirtschaftlicher Bedingtheiten. Es bedarf auch nicht des Hinweises auf die starken mystischen Strömungen innerhalb des Judentums, auf das lyrisch-musikalische Ausdrucksvermögen der Juden. Als Volk des Südens besitzen sie zuviel Instinkt, und sie sind auch zuviel in der Welt herumgekommen, um in der Vernunft die Dominante menschlichen Geschehens zu erblicken. Ihre eigene Existenz, dass sie überhaupt noch existieren, ist allerdings ein Beweis für die Suprematie des Hirns.

Mit Recht hat man die Sprache als sinnlichsten Ausdruck des Geistes bezeichnet. Sprache ist aber noch mehr, sie ist schon beinah der Geist selbst. Wer eine fremde Sprache „beherrscht“, hat seinem Gedächtnis nicht Vokabeln eingeprägt, sondern er hat geistiges Terrain erobert. Die Syntax sagt mehr über ein Volk aus als die Politik seiner Minister. Infolge ihrer engen Bindung an den Geist mussten die Juden aus der Sprache ihr eigentliches Herrschaftsgebiet machen, nicht nur aus ihrer eigenen, sondern aus jeder, mit der ihr Schicksal sie verflocht.*) Um sich als Minorität zu behaupten, um innerhalb der Überzahl zur Geltung zu kommen, mussten die Juden die Sprache des Volkes, mit dem sie lebten, nicht nur so gut beherrschen wie das betreffende Volk selbst, sondern besser. Den deutschvölkischen Leitartiklern schadet ihre mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache nichts; am Kopf des Blattes steht ja schon, dass es sich um eine „deutsche“ Angelegenheit handelt, die Leser sind also im Bilde, und als Plakat zur Schau getragene Gesinnung gilt heute noch ebenso als Talent-Ersatz wie in den Tagen, da der Tanzbär Atta Troll seine Sprünge machte. Die Juden aber müssen ein vorzügliches Deutsch, Französisch, Italienisch oder Dänisch schreiben, um überhaupt Gehör zu erlangen. Das Ästhetengebot „Rien ne vaut que par la forme du dire“ ist für sie eine Angelegenheit der Existenz. Schon aus Notwehr müssen sie gut schreiben, besonders so lange sie nicht im Vollbesitz der staatsbürgerlichen Rechte und lediglich Objekt der Gesetzgebung sind.

*) Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die im „Tagebuch“ (Jhg. II, 1921) erschienenen Aufsätze von Robert Müller über die Juden hinweisen. Müller gehört zu den ganz wenigen Nichtjuden, die bei Erörterung des jüdischen Problems nicht in Gemeinplätzen steckenbleiben.

Wenn der jüdische Minister eine so alltägliche Erscheinung werden sollte wie der jüdische Arzt oder Anwalt, wird die Leistung der Juden als Schriftsteller vielleicht sinken. Bismarck konnte Minister werden, ohne sich vorher durch politische oder nationalökonomische Schriften legitimiert zu haben, Lassalle musste sich erst durch literarische Leistungen das Podium seines politischen Wirkens sichern. Gladstone gelangte als Angehöriger einer guten Familie und als Absolvent der fashionablen Bildungsanstalten sozusagen auf natürlichem Wege schon als junger Mann ans Steuer des Staatsschiffs; Disraeli musste erst jahrelang den Dandy spielen und einen die Londoner Gesellschaft aufregenden Schlüsselroman schreiben, um endlich beim vierten Anlauf einen Sitz im Parlament zu ergattern. Geist und Sprache, Buch und Rede sind den Juden die Wege zur Macht, auf die der „Autochtone“ kraft Geburt oder Tradition ein Recht hat.

Der Trieb zur Macht ist wie der Trieb nach Nahrung und Paarung natürlich allen Erdbewohnern gemeinsam. Man muss schon ganz parteiblind sein, um das Machtbestreben als besonderes Charakteristikum eines Volkes, einer Klasse oder eines Standes anzusehen. Die Juden sind an und für sich nicht machthungriger als die Irokesen. Da aber viele begabte Individuen unter ihnen sind, und Begabung ein Betätigungsfeld so notwendig braucht, wie der Seiltänzer das Seil, wirkt das häufig durch Gesetze zurückgedämmte Streben der Juden nach Wirkungsmöglichkeit manchmal als Machtgeilheit. Weil die literarische Tätigkeit ihre wichtigste, oft einzige Waffe im Kampfe um Geltung, weil es ihre wesentliche Möglichkeit zur Macht ist, sind die Juden so vorzügliche Literaten. Selbst in Ländern, in denen sie ziffernmäßig kaum in Betracht kommen, und seit Jahrzehnten nur noch abgeblasstes Vorurteil, nicht Abneigung der großen Masse oder Ausnahmerecht zu überwinden haben, selbst in Italien und Skandinavien stehen sie als Herausgeber und Mitarbeiter der großen Revuen an erster Stelle.

In Deutschland wurden die Juden gleich bei ihrer „Emanzipation“ in die Opposition gezwungen, zu öffentlichem Wirken nicht einmal in miniaturhaftem Ausmaß zugelassen. Da mussten sie gut schreiben und gut reden, sonst waren sie ganz verloren. Als Ludwig Börne sein Pöstchen bei der Frankfurter Polizei verlor, da musste er, da er nicht Adlatus von Friedrich Gentz und Renegat werden wollte, Schriftsteller werden. Was hätte er denn sonst werden sollen? Als Literat beinah soviel Macht zu besitzen wie ein Polizeileutnant — Traum aller Träume, der auch heute noch oft geträumt wird. Man überschätzt immer die Macht, die man nicht hat. Dafür ist man homo sapiens. Wenn man von allen Machtpositionen des öffentlichen Lebens, besonders von den glanzverleihenden der staatlichen Exekutive ausgeschlossen ist, gründet man eine Gegenmacht und nennt sie öffentliche Meinung. Das ist weder gut noch böse, sondern selbstverständlich. Als der feudalistisch-bürokratische Staat die „ Intellektuellen“, nicht etwa nur die jüdischen, statt sie in seinen Dienst zu stellen, von sich stieß, entstand der Journalismus als Sprachrohr und Führerin der öffentlichen Meinung, der Gegenspieler der staatlichen Machtfaktoren, oft ebenso unduldsam und anmaßend wie diese.

Der Journalismus ist keine jüdische Erfindung, aber seine Wesensfarbe, sein Lebensgesetz, sein Blut, seine Seele hat er — wenigstens in Deutschland — von Juden empfangen. Für die andern war das Schreiben ja nur eine Betätigungsmöglichkeit unter vielen, für den begabten Juden war es der einzige Beruf, der ihm ein Partikelchen eingebildeter oder wirklicher Macht sicherte. Anderes, Wichtigeres wirkte bestimmend mit. Die Juden waren lange die Verfolgten, und auf die Dauer bekommt der Verfolgte feinere Organe als der Verfolger. Das Reh bemerkt den Jäger eher als der Jäger das Reh. Als Erbgut aus ihrer Vergangenheit brachten die Juden dem feineren Journalismus Tastgefühl, Verständnis für Nuancen, Gehör für Zwischentöne und Witterung für kommende Dinge.

Die Juden Mittel- und Westeuropas sind ähnlich wie die Italiener im Wesentlichen ein sociables Stadtvolk, ein „urbanes“ Element im Gegensatz zu den Kleinsiedelungen des platten Landes. Wie sehr die angebliche Judenherrschaft identisch ist mit dem Siege der städtischen Lebensform über die agrarische, die vor hundert Jahren in Deutschland herrschte, scheint heute kaum geahnt zu werden. Durch jahrhundertelange Gewöhnung haben die Juden ein Organ für die Massenpsyche, die durchaus nicht die Summe der Meinung der Einzelnen ist. Wie eine gutgearbeitete Grammophonplatte, die jedes Schwanken der Stimme, jeden Hauch wiedergibt, reagieren sie auf die leiseste Schallwelle. Sie wissen nicht nur, „woher der Wind weht“; sie ahnen schon den Sturm, wenn sich irgendwo ein Lüftchen kräuselt. Und die Feinhörigkeit unterscheidet den Journalisten vom Reporter. Ohne die Juden wäre der Journalismus in Deutschland unbeweglicher und doktrinärer, nervenloser und klotziger. Dass die Juden der Tropfen Champagner sind, der nach Bismarcks Wort den Deutschen fehlt, zeigt sich vor allem in der Publizistik. Sie sind nicht tüchtiger als die andern — kein Volk ist auf allen Lebensgebieten so „tüchtig“ wie die Deutschen — ,aber sie sind in höherem Grade Journalisten, dämonisierter von ihrer Tätigkeit, in gutem und schlechtem Sinn Opfer ihres Berufs.

Der Verfolgte muss Masken anlegen, immer neue. Sein wahres Gesicht duldet der Verfolger nicht. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich gerade bei den unterdrückten Völkern wie Slaven, Iren und bei den Negern in Amerika so viele schauspielerische Talente finden. Mehr noch als Ahasver, der ewig Wandernde, ist Proteus, der ewig Wandelbare, das Symbol der jüdischen Geschichte (nicht der Juden). Die Kunst des Maskemachens war häufig Schutz vor Folter und Tod; mau denke nur an die Marannen in Spanien. Mit solcher Virtuosität haben die Juden die Rollen gespielt, die man sie zu mimen zwang, — den Shylok, den Paria, den Parvenu und viele, viele andere Rollen, — dass die meisten Juden heute nicht mehr wissen, wer sie sind. Aber das erzwungene Komödiantentum kommt den Juden als Journalisten zu Gute. Denn die Kunst des Journalisten besteht wie die des Schauspielers in der Einfühlung. Der geniale Journalist bringt wie der geniale Schauspieler, soviel Vitalität eigenster Prägung in jede Situation, dass das applaudierende Publikum ruft: „Er spielt sich selbst.“

Jüdische Journalisten besitzen die Gabe der Einfühlung bis zur Perversität. Während des Krieges gab es in allen kriegführenden Ländern als Chauvinisten auftretende Juden, hundertprozentige nationalissimi, die deutscher als die Deutschen, französischer als die Franzosen, magyarischer als die Magyaren sein wollten und sich womöglich Arminius, Bayard und Hunyadi nannten. Durch Übertreibung des jeweiligen nationalen Gedankens glaubten sie, — ihr guter Glaube sei bis zum Beweis des Gegenteils vorausgesetzt — aus Zugelassenen Zugehörige werden zu können; sie kamen dem patriotischen Ideal nicht näher, sie karikierten es nur. Ein amüsanter Spezialfall ist der Royalist Arthur Meyer vom „Gaulois“, der die Rolle des blutechten Franzosen, des natürlichen Verteidigers von Thron und Altar und aller konservativer Prinzipien so erfolgreich mimte, dass man erst vor seiner Trauung mit einer Herzogin von Turenne — Traum aller Träume — darauf aufmerksam wurde, dass er noch gar nicht getauft war. Das hatte er nämlich bei der aufreibenden Tätigkeit für die antisemitische Reaktion vergessen.

Der Journalist schreibt, wenn die Stunde, nicht wenn die gebietende Stunde es befiehlt. Das ist schon oft gesagt worden, bleibt aber dennoch wahr. Die Tätigkeit des Journalisten ist schon deshalb kein schöpferischer Akt. Den Unberufenen ist sie ein Fron, ein Fluch. Den Berufenen eine Not, eine Verantwortung. Die Frage: Was ist wichtig? wird nur zu häufig ersetzt durch die Frage: Was ist aktuell? Man soll nicht immer wiederholen, was Schopenhauer und Lassalle gegen die Presse gedonnert haben. Aber dass der Journalismus heute nicht die Führerin, sondern die Dienerin einer instinktlosen, von Augenblicksinteressen beherrschten öffentlichen Meinung geworden ist, bedarf kaum eines Beweises. Gegen die Journalisten hilft nur der Journalist. Der Journalist nämlich, in dessen Tagwerk das Goethewort wie Glockengeläut dröhnt: „Man soll den Leuten nicht die Gefühle erregen, die sie haben wollen, sondern die sie haben sollen.“ Ich will von Harden sprechen.

„Einer anmaßenden Menge bittere Wahrheit zu sagen: das ist eine Lust, der ein leidenschaftlicher Sinn nur schwer widersteht.“ Dieser Satz, den Harden 1892 über den Musiker Hans von Bülow schrieb, ist eine Entlarvung des eigenen Wesens. Harden hat den Mut gehabt, der vulgären öffentlichen Meinung die eigene entgegenzustellen, die meist erst dann die öffentliche wurde, wenn das Kind in den Brunnen gefallen war. Als Politiker hat Harden ein Verdienst von historischer Größe: Er war jahrzehntelang der Einzige in Deutschland, der Wilhelm II. wirklich bekämpft hat. Die andern, selbst die Sozialdemokraten, negierten oder verulkten den Imperator nur. Kautsky hatte seine Gefolgschaft ja gelehrt, die Frage der Staatsform als Angelegenheit dritten Ranges zu behandeln. Als Opponent der wilhelminischen Dilettantenpolitik war Harden von unerbittlicher Folgerichtigkeit, so sehr er auch sonst geneigt war, die eben noch verehrten Götter zu verbrennen. Denn er war in Wahrheit ein „Apostat“; seiner Begabung Notzwang, der ihn die Weisheit von heute als Wahn von morgen erkennen ließ, musste ihn zum ewigen Renegaten, zum Verräter großen Stiles stempeln. Seiner Hellsichtigkeit wurde manches Ideal schnell zum Idol. „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.“ Aber die andern wollten sich ja gar nicht wandeln, die hatten doch ihr Programm. Von Harden gilt sicher, was man von Friedrich Hebbel gesagt hat: Er frisst Gehirne. Kein Wunder, dass er manchen Freund verlor. Nicht ungestraft darf der Führer den Kampfgenossen sagen, dass der Gott, in dessen Zeichen man streitet, von ihm bereits als Götze durchschaut wird.

Weil man weiß, dass Harden vor etlichen Jahrzehnten einmal Schauspieler war, halten die Oberflächlichen Komödianten tum für seines Wesens Wurzel. Der in die Politik verschlagene Mime: so lautet das Schlagwort. Hardens beirrende Lust an intellektuellen Maskeraden, seine von ihm gar nicht kaschierte Eitelkeit wird mit der kurzen Bühnenlaufbahn in kausalen Zusammenhang gebracht. Man vergißt nur, dass Überbetonen des eigenen Wertes ein Notwehrmittel zur Distanzierung ist. Außerdem muss der Publizist, der nie oder fast nie ins wirkliche Geschehen eingreifen darf, seines Wortes Wirkung überschätzen, um überhaupt den Mut zur Kritik, die Lust am Schreiben zu behalten.

Es gibt quantitative Leistungen, die schon allein durch ihr Riesenmaß fast zum qualitativen Wert werden. Die ungefähr dreißig Bände seiner Zeitschrift hat Harden zum großen Teil selbst geschrieben. Wer Hardens Politik verabscheut, für sein Können kein Organ hat, sollte wenigstens die Arbeitskraft, den Fleiß, das Wissen eines Autors bestaunen, an dem er sonst nur die Fehler seiner Vorzüge begreift.

Der Publizist, der sich im Sichtbaren geltend machen will, braucht die „Affaire“. Hier war Harden im Vorteil; die Affairen besorgte ihm der Staatsanwalt. Das deutsche Volk kannte im Allgemeinen nur den Angeklagten, den Prozessredner Harden, nicht den Schriftsteller gleichen Namens. Hardens Stil ist ungenießbar, sagt die kompakte Majorität der Bequemen; die es feiner ausdrücken, reden von Manier. Das banale Gestammel der Zeitgenossenschaft verachtend, hat Harden sich gelegentlich in barocke Sprachformen, in eine Mysteriengrotte höchsteigener Struktur zurückgezogen, die die Konsumenten leichtverdaulichen Lesefutters nicht ohne Grauen aufsuchen. Harden macht es den Denkfaulen nicht leicht. Er geht den Hirnen nicht so schnell ein wie Rennbericht oder Kurszettel. Er kann halt nicht so flott schreiben wie . . .

In Harden wühlt das Ressentiment des Wissenden, dem Wirken versagt ist, der im Bewusstsein seiner Überlegenheit eines Kaisers, eines Volkes Torheiten anschauen muss, ohne helfen zu dürfen. Cassandras Tragik ist die seine. Niemals hat Harden ein politisches Amt bekleidet, die Monarchie hat ihn verfehmt, die Republik hat ihn ignoriert. Liebling des Volks zu sein, ist einem Unheilspropheten noch niemals geglückt. Die Myrmidonen der Mittelmäßigkeit hat er allezeit aus gewissermaßen natürlichen Gründen gegen sich. Alle Mediocritäten an sämtlichen Redaktionstischen zwischen Maas und Memel wieherten vor Schadenfreude, als er im zweiten Moltke-Prozess mit einer Gefängnisstrafe beehrt wurde. Immerhin, zum 60. Geburtstage brachten illustrierte Zeitschriften das Bildnis des Einsamen, dem der Beifall der gleichgültig Schaulustigen wohl niemals Traum aller Träume war.

Was hilft es, Recht zu behalten, ein Psychologe unter Doktrinären zu sein, als fast Einziger unter 60 Millionen politischen Instinkt zu besitzen? Was hilft das Alles, wenn man sich Harden nennt und Witkowski heißt? Unmöglich kann ein Witkowski Wegbereiter deutscher Politik sein, unmöglich kann ein Witkowski Deutschland als Gesandter im Land ohne Basalte vertreten, das ist — wozu es leugnen — nicht nur die Überzeugung der Hakenkreuzgläubigen, sondern die Meinung unendlich vieler Mitbürger. So ist es heute und so war es immer. Selbst Theodor Fontane schrieb 1880 an Philipp zu Eulenburg: „Ich liebe die Juden — aber regiert will ich nicht von den Juden sein.“ Der Name Witkowski hat dem Protestanten Harden, der „die Söhne Sems“ oft hart angelassen, den Weg ins Wirken versperrt. Mochte er sich als Juden empfinden oder nicht, für die anderen war er Witkowski, dessen Wunsch, seine Begabung in den Dienst deutscher Staatsmannskunst zu stellen, als Aufdringlichkeit und Anmaßung erschien. Des deutschen Juden Schicksal ist das seine.

Nicht nur sein Geschick, auch sein Wesen offenbart den Juden. Er hat viele Ideen verraten, aber niemals die Idee. Apostata: die letzte Maske der Gehetzten. Keine verbirgt wie diese den Gram, keine enthüllt wie diese den Geist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur