Franz Werfel von Rudolf Kayser

Franz Werfel von Rudolf Kayser

Die Welt fängt im Menschen an.


Werfel

Lyrik ist die Entfaltung aller menschlichen Tiefen. Sie ist Gesang. Sie läßt Worte aufklingen und gibt Schmerz, Lust, Rausch. Sie verdichtet den Augenblick zur Ewigkeit; zum Allerseelenland der Klänge, Leidenschaften und bunten Flüge.

Jede Lyrik ist religiös, jedes Gedicht Gebet. Ob Gott angerufen wird oder die Dämmerung städtischer Abende; ob Innerlichkeit oder Hingabe an kosmische Gewalten sich vollzieht; ob seelische Erfülltheit sich ausströmt in freiem, schamlos freiem Bekennen oder sich objektiviert zur Form: immer geschieht Religiosität: Sinn und Wege der Welt werden befragt.

Lyrik ist direkte Dichtung: sie bedarf weder der räumlich-körperlichen Symbole des Dramas noch der zeitlich-psychologischen des Romans. Sie verwandelt nicht Welt, die außerhalb des Ichs kreist, sondern strömt eine Musik selbstischen Wissens aus. Keine äußere Gesetzlichkeit beherrscht sie, sondern, aller Logik abgewandt, schafft sie in jedem Klang ihr eigenes einmaliges Recht: die Form. Mehr denn jeder andere Dichter ist der Lyriker Redner. Er spricht aus, was in ihm ist, und erweckt Resonanzen; nicht durch die Inhalte allein, aber auch nicht durch die Form allein, sondern durch die Einheit beider (denn sie allein bedeutet Kunst).

Deshalb kann man den Umriss eines Lyrikers nicht anders zeichnen, als wenn man mit dieser Einheit von Inhalt und Form beginnt. Nicht die psychologische Untersuchung über die Herkunft der Erlebnisse; nicht die Formulierung des weltanschaulichen Gehalts; aber auch nicht die Beschreibung der Gedichtform führen allein zum lyrischen Wesen heran. Die Wirklichkeit des Gedichts ist das Resultat von Herz und Form. Erlebnis und Sprache. Seele konkretisiert sich, und Gefühl wird Gedicht.

Franz Werfel ist der Dichter eines selbstverständlichen Ethos. Er gehört deshalb nicht zu jenen, die aufgeregt Gebote lallen, mit vielerlei Aufwand „Menschheit“ singen, um sich dadurch mit den Attributen fortgeschrittener Dichtung schmücken zu dürfen. Werfels Ethos ist motorisch, keine abgezirkelte Gesinnung, kein formulierbares Wollen, sondern: Müssen, Dynamik, Vitalität. Sein Pathos ist nicht das Einhämmern von Forderungen, sondern die wilde Musik eines Müssens, das aus der Zwiespältigkeit der eigenen Seele zur Menschheits-Einheit strömt.

Man muß etwa den Rhythmus dieses Verses: Doch auch uns sind Abende beschieden . . .

empfinden, um auch den seelischen Gehalt solcher Dichtung zu erkennen. Bewegtheit des Empfindens und des Denkens zwingt hier dem Wort eine Melodie ab, die intensiv ist und einsam zugleich.

Mit alledem nimmt Werfel in der neuen Lyrik eine Stellung ein, die durch kein Schlagwort und keinen Schulnamen bezeichnet werden kann. Er hat nicht Stefan Georges Feierlichkeit: die Steigerung von Welt zur reinen Form. Welt bedeutet ihm Menschlichkeit, nicht im Sinne des ethischen Optimismus, sondern als fragendes und antwortendes Leben; als Schöpfertum; als mannigfaltige Landschaft von Mensch, Erde und Gott.

Werfel ist nicht der romantisch Verzückte, für den viele ihn halten. Er ist selbst vor allem Mensch: durch dessen Körper die Bewegungen der Erde gehen; der jedes Geschehen spürt: nicht durch Einfühlung, sondern durch die Universalität des Seins, dessen Gefäß er ist. Seine vier Gedichtbücher sind vier Bejahungen der Erde und des Lebens, da Leben nichts anderes ist als wechselnde Vereinigung und Trennung zwischen Uli und Welt: fortschreitendes Weltsein.

Werfels erstes Buch „Der Weltfreund(1911)" ist ganz irdisch. Leise leben in diesen Versen die Dämmerungen der Stadt Prag. Städtisch zumeist in ihren Bildern, umarmen sie die leuchtende Fülle der Erde. Etwas Neues geschieht in diesem Gedichtband: die Durchdringung der Realitäten mit Schicksalshaftem und dem besonderen Rhythmus der Jugend. In dem Gedicht „Das Malheur“ läßt ein Mädchen die Schüssel fallen, da geschieht dies:

Jedoch dem Mitleid der Gäste hatte sich scheues Erstaunen zugesellt.

Denn sie sahen plötzlich eine mitten in ein Schicksal gestellt.

Selbstverständliche und freie Freundschaft zur Welt. Körperlichkeit des Lebens, die doch ganz frei von äußerlichem Naturalismus. Zärtliche Erdoberfläche, verwoben mit jünglingischem Fragen und Sehnen.

Hierin liegt das Charakteristische der Werfelschen Dichtung: daß die Gefühle sich nicht an Dingen und Menschen entzünden, sondern, stärker als sie, sie in sich hineinreißen. Weltfreundschaft ist auch Weltwissen: lieben und begreifen.

Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

So gehöre ich Dir und Allen!
Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!
O könnte es einmal geschehn,
Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!


Auch Gefühle stellen Forderungen. Das Dasein gewinnt Konturen, je mehr das eigene Selbst wächst und Gestalt annimmt. Nicht länger mehr Traum und panische Musik, wird es eingespannt in die Polarität des Lebens: Ich und Du; Seele und Stoff; Forderung und Erfüllung; Vater und Sohn. Die Welt hört auf, mir das süße Spiegelbild des Ichs zu sein. Sie wird ein Wir: ein Komplex von vielerlei Bindungen und Trennungen. Dadurch gelangt das Ich zu einem bewußt ethischen Grunderlebnis: dem der Schuld. Denn das Miteinander verteilt die Verantwortlichkeit auf jeden einzelnen.

Diese schärfere ethische Einstellung unterscheidet den Gedichtband „Wir sind“ (1913) von dem früheren. Noch aber gibt es das Beieinander von Hirn, Herz, Erde und Gott.

Und wenn ich erst zerstreut bin in den Wind,
In jedem Ding bestehend, ja auch im Rauche,
Dann lodre auf, Gott, aus dem Dornenstrauche.
(Ich bin Dein Kind.)
Du auch, Wort, prassle auf, das ich in Ahnung brauche!
Geuß unverzehrbar Dich durchs All: Wir sind!


Aber die Gleichgewichtslage ist erschüttert, jener schwingende Rhythmus der Weltfreundschaft nicht mehr gestattet, da die Trennungen: des Wir in Ichs, des Lebens in Welt und Ich das Bewußtsein der Schuld erzeugt haben. Dem Weltfreund blühte die Einheit von Welt und Ich; sein Gefühl war Totalität. Durch das Bewußtsein der Schuld ist die Wechselbeziehung von Bindung und Trennung, das Einander entstanden. Aus dem jungen Rausch geht der tragische Mensch hervor.

Mit dem Buche „Einander“ (1915) beginnt Werfels tragische Lyrik. Das Bewußtsein der Schuld hat die Sehnsucht nach Erlösung erweckt. Als oberste metaphysische Gewalt tritt den menschlichen Verwirrungen die Gottheit gegenüber. Werfels Gottesidee ist, etwa im Gegensatz zur franziskanischen R. M. Rilkes, die ausgesprochen jüdische. Sie begnügt sich nicht, Gegenstand des Gebets und Ort der Beglückung zu sein, sondern ist Antwort unseren menschlichen Fragen. Dies „Warum mein Gott" rückt in der jüdischen Religiosität die metaphysische Problematik in volle Helle.

Die Verwirklichung Gottes geschieht im Menschen. Die menschliche Schuld fordert Gottes Gnade und Hilfe, da sie sich sonst auflösen würde in das heillose Allein des zerstörten Ichs:

Ja, wer niederfährt zu diesem Stand,
Wo das Einsame sich teilt und spaltet ...
Der zerrinnt sich selbst in seiner Hand,
Und nichts lebt, was ihn zusammenfaltet.


So folgt der Entzweiung der Welt die Entzweiung des Ichs. Sie ist das letzte Thema von Werfels tragischer Lyrik.

Warum gabst du mir nicht Einheit?
Reinige, einige mich. Du Gewässer!
Siehe, es wehklagen all Deine wissenden Kinder
Seit eh und je über die Zahl zwei.


Diese Verse der Entzweiung (aus dem Bande „Der Gerichtstag“) zeigen den jüdischen Dichter, dem Ichzerrissenheit Schicksal und Erkenntnis sind. Deshalb beten wir die Psalmworte: „Mache unser Gemüt zu einem in sich einigen, einheitlichen.“


Von der süßen Erdenmusik des „Weltfreunds“' zur tragischen Symphonik der letzten Bücher zieht ein Weg, der auch eine formale Wandlung bedingt. Die hymnische Lust des Beginns besitzt eine andere Musik als das späte Suchen und Erkennen, das junge Ja! ein helleres Organ als das schmerzliche Klagen um Lüge, Bedrängnis, Entzweiung. Der Rhythmus der letzten Gedichte Werfels ist kürzer und fester geworden. Es fehlt die verschwenderische Weite des Anfangs, das freie Atmen der Knabenbrust. Alle Klänge sind härter und voller geworden, aber doch noch frühlingshaft beschwingt.

Werfels letztes Gedichtbuch, der sehr umfangreiche Band "Der Gerichtstag“ (1919), setzt dort ein, wo „Einander“ mündete: in der Entzweiung. Die „Ballade von Wahn und Tod“ ist der starke Auftakt zu dieser neuen Reihe von Kämpfen. Versuchungen, Verworfenheiten. Die Entzweiung zieht immer neue Kreise, schafft neue Antinomien und Schuld und Lügen, bis schließlich das Wort selbst seine Verlogenheit bekennt und die Entzweiung das feindliche Gegenüber mit dem eigenen Selbst geworden ist:

O Tod, o Tod. ich sah
Zum erstenmal mich wahrhaft sein, mich ohne Willen, Wunsch und Schein,
Wie Trinker nächtlich spät sich gegenübersteht.
— Er lacht und bleibt sich fern und nah — —
Ich stand erstarrt in erster Gegenwart, allein, zu zwein.
(Ach, was wir sagen, lügt schon, weil es spricht.) Ich fand mich, ohne Wahn mich sein, und starb in mein
Erwachen ein.



Werfels Werk ist Lyrik in derartiger Stärke und Geschlossenheit, daß ein Versuch zu breiterer Epik problematisch erscheinen muß. Die Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ (1920) ist nicht gelungen. Einige brennende Bilder bleiben: Knabenängste, Jahrmarkt, Begegnungen. Aber der Kampf zwischen Väter und Söhnen verlangt eine andere Gestaltung: nicht agitatorische Übertreibung, sondern sachliche Wesentlichkeit. Was nützt es, ein Ungetüm zu erfinden und es „Vater“ zu nennen? Dies Ausmaß des Hasses gegen den gegnerischen Typus schafft eine paradoxe Lage: sie gibt dem Gehassten Größe, dem Hassenden Kleinheit. Dieser Tyrannenvater, in dem sich alle Tyranneien von Staat, Gesellschaft, Erziehung symbolisieren sollen, ist schließlich bedeutender als ein schwächliches Sohnestum, das selbst im Augenblick der Tat noch unterlegen bleibt. Hingegen ist die Phantasie ,Spielhof“ (1920) Auswirkung von Werfels lyrischem Grundwesen in nachbarliche Epik. In diesem Buch findet sich die gleiche erfüllte Melodie und innige Süße wie in den Versen und dazu die freie, beschwingte Nachdenklichkeit eines träumerischen Lebens. Es wird von einem Menschen erzählt, den ein Traum zutiefst erschütterte, so daß er wandert, um den Ort zu suchen, wo er ihn noch einmal wiederträumen kann. Diese Wanderung, umwittert und begnadet von Schönheiten und Begegnungen, führt durch viele seelische und irdische Landschaft zu liebender Kindheil hin und dann zurück in städtische Müdigkeit.


Werfels erstes dramatisches Werk „Die Mittagsgöttin“' erschien, hiermit ihren lyrischen Charakter schon betonend, innerhalb des letzten Gedichtbandes „Der Gerichtstag“. Eine symbolische, legendarische Dichtung, die Steigerung und Erlösung eines Menschen durch Mara: eine heidnisch bereicherte Gottesmutter Maria. Um dieses Motiv herum erstehen Landschaft, Stimmungen und Andacht. Nicht Menschengestaltung, sondern das Schreiten „zu immer höherem Sommer, zu immer besserem Mittag“ ist das Thema dieses lyrischen Stückes, das Wert und Wesen völlig im Atmosphärischen hat.

Das Drama „Der Spiegelmensch“ (1920) führt den Untertitel „Magische Trilogie“. Sowohl in seinem formalen Aufbau wie in seinem Gehalt stellt sich diese Dichtung weiteste Ziele: sie will innerhalb einer phantastisch, zauberisch bewegten Welt eine Problematik stärkster Werte bewältigen, die sowohl im Charakter des Dichters wie in dem unserer Gegenwart wurzelt. An diesem Punkt bereits beginnt das eigentümliche Mittelpunktsgeheimnis dieser Dichtung und auch das erste kritische Bedenken. Franz Werfel, in seinem Wesen durchaus musikhaft, allen Melodien und Farben der Erde hingegeben, lebt den alten romantischen Traum des magischen, von naiven Wundern belebten Theaters, wie er sich sowohl in der alten comedia dell arte wie in den Stücken des Hanns Sachs, den romantischen Märchen Ludwig Tiecks und den Zauberdramen Raimunds verwirklicht hat. Dieser Freude am zauberischen Spiel steht aber gegenüber der Ernst und die Schwere einer bestimmten, sehr persönlich erlebten Problematik. Beide Elemente im Drama als der höheren Einheit zu vereinigen, ist das Ziel des Dichters. Er steht damit vor einer ganz ähnlichen Aufgabe wie Goethe bei seinem „Faust“. Der Unterschied aber ist der: daß Goethe einen alten, in seiner geschichtlichen Entwicklung bereits modifizierten und höher entwickelten Stoff antraf, der das Goethesche Kernproblem schon immanent enthielt: das romantisch-barocke Gepränge der Faustsage, das Goethe selbst als sein „nordisches Erbteil“ empfand, umschließt bereits in der ältesten Gestalt des Stoffes die Idee des tragischen Wahrheitssuchers. Bei Werfel aber haben magisch-romantisches Theater und dieses geistige Grundthema, das aus dem Mittelpunkt des Werfelschen Seins kommt, miteinander wenig gemein. So scheint, daß diese Dichtung, die sonst durch ihre gedankliche Weite wie durch ihre dichterische Kraft sicher zum Stärksten gehört, was heutige Kunst geschaffen, unter dem Zwiespalt zwischen Form und Inhalt zu leiden hat.

Werfel muß seiner Dichtung erst die Fabel erfinden: nicht nur die stoffliche, sondern auch die geistige, um so die Brücke von seinem Erlebnis zu einem geliebten, naiven, magischen Theater zu schlagen. Er muß diese drei Elemente: Theater, Problem und Menschengestaltung, die jedes für sich in ihm lebendig sind, zu einer Einheit verbinden, die a priori noch nicht vorhanden ist.

Doch welches ist das Werfelsche Grundproblem? Wieder das der Entzweiung, des Zerspaltenseins des Ichs in polare Elemente, der furchtbaren Begegnung mit dem eigenen Selbst. Die Überwindung dieser Zweiheit ist ja der tragische Ruf, der immer wieder aus den letzten Gedichtbänden Werfels dringt. Er ist auch das Schicksal der Hauptgestalt des Dramas: Thamal. Sein Gesetz ist die „zweite Schau“:

Wer sie erlebt, der verfällt der Macht,
Die in einem Morgengrauen oder um Mitternacht
Dem tiefsten Feind ihn gegenüberstellt.
Von Stund an ist er entzweit.
Und muß blutig und mit zerrissenen Händen ringen.
Zu bezwingen sein Geleit,
Das ihn schleppt durch Mord und schuld’ge Taten.


Diese Verse enthüllen bereits die Handlung der Dichtung und das Schicksal Thamals. Er, der aus einem magischen Spiegel seine andere Wesenshälfte — die bösere, irdische — erlöst, muß einen phantastischen Passionsweg schreiten, um schließlich im Bußetod den inneren Feind, den Spiegelmenschen, zu ersticken und sich zur Einheit empor zu läutern. Dieser Weg ist begleitet von mannigfaltigen, geistigen, farbigen, zum Teil auch sehr aktuellen Bildern, die in ihrer dichterischen Schönheit und erfüllten Bewegtheit nur von einem ganz starken, dichterischen Geiste geschaffen werden konnten. Aber diesem Thema der Entzweiung gegenüber, das sowohl psychische wie metaphysische Bedeutung beansprucht, muß gesagt werden, daß die eigentliche dramatische Lösung ausbleibt.

Schließlich ist in der Gestaltung des Thamal (genau wie in der entsprechenden Lyrik Werfels) diese Problematik in ihrer ganzen tragischen Atmosphäre wohl aufgezeigt, ohne daß aber eine neue Objektivität gewonnen wird, die jenseits dieses Konflikts da ist und neue Möglichkeiten eröffnet: ohne daß eine Welt betreten ist, die die Überwindung der entzweiten, verdammten Erde bedeutet. Im letzten Grunde wird dieser neue Faust nicht erlöst und bietet auch seiner Zeit, von der er sehr erfüllt ist, keine Erlösung, da der Bußetod als das Ergebnis der Selbstschau ja eigentlich nur eine psychologische Bestätigung der Entzweiung, nicht aber ihre sachliche Überwindung bedeutet.

So läßt diese Dichtung kein restloses Ja zu. Aber in der Ernsthaftigkeit ihres Wollens, ihrer romantischen Spielfreudigkeit und ihrer dichterischen Fülle ist sie ein wesentliches Werk gegenwärtiger Dramatik, und innerhalb der Entwicklung Franz Werfels vielleicht der Übergang zu einer neuen Epoche, die gegenüber der reinen Subjektivität seiner lyrischen Zeit die Überwindung durch eine gestaltete Objektivität erreichen wird.

In welchem Maße ist diese Dichtung jüdisch? In welchem Sinne kann Werfel, von dieser deutschen Gegenwart in die vorderste Reihe heutiger Kunst gerückt, als Ausdruck jüdischer Wesenheit gelten? Zunächst nicht im Bezirk des Rein-Künstlerischen, der Formensprache, der transzendentalen Gestaltung des Lebens. Fast immer ja hat jüdische Kunst in nachbiblischer Zeit (unabhängig von der Sprache, in der sie gestaltete) sich in die Stilübung und -entwicklung ihrer europäischen Umgebung eingefügt und ihre Gestalt in der Begegnung des jüdischen Erlebnisgehalts mit der Formensprache die sie vorfindet, gewonnen. Aber diese Begegnung bedeutet Durchdringung beider Elemente, da Form und Inhalt ja sich gegenseitig bedingende Wirklichkeiten sind. Werfels hymnischer Schwung, der Rhythmus seiner sich von Erden zu Himmeln weitenden Musik, die Gegenwärtigkeit von Bild und Sinnbild: sie sind Zeugnis der Verbindung eines (romantischen, dann religiösen) Gehalts mit einer deutschen Lyriksprache, wie sie zwischen George und Whitman sich zu entfalten sucht. Dieser Gehalt, gleichermaßen bedingt durch Raum und Zeit, kann sicher nicht schlechthin als jüdisch bezeichnet werden, zeigt aber in Herkunft und Richtung durchaus jüdisches Gepräge. Da ist der ausgesprochene ethische Zug in Werfels Lyrik, der ihn von dem monologischen Charakter sonstiger Lyrik trennt; denn jedes Ethos, mag es auch dem heimlichsten Ich-Erleben entsteigen, hat, da es in Entscheidungen gipfelt, einen über das Individuum weit hinausgehenden Geltungsbezirk. Solche ethische Dichtung — mit ihrer großen Gefahr: dem diktatorischen Soll des Moralisten — ist (neben dem mystischen) der Ausdruck religiöser Wesenheit, wie die jüdische Geistesgeschichte sie immer wieder vertritt. Da ist ferner jenes Mittelpunkts-Erlebnis der Entzweiung, das im Individuum und im Volk unser altes jüdisches Schicksal bezeichnet. Von der Zerspaltenheit zur Geschlossenheit. Von der Zerrissenheit zur Einheit: diese Sehnsucht und dieses Gebot von Jahrhunderlen jüdischen Lebens — sie fanden in Werfels Dichtung den besonderen Ausdruck dieser Zeit. „Sich zur Einheit vollenden, bis man vollendet ist nach der Schöpfung, wie man vor der Schöpfung war, daß man ganz eins sei, ganz gut, ganz heilig, wie vor der Schöpfung“ — forderte der Rabbi Nachman.

Die ethische Dichtung der Juden, manchmal erstarrend in Moral oder Optimismus, aber auch sich aufgipfelnd zum Credo des Bekennens zu Gott und zum Ich, wird heute wieder durch Werfel vertreten. Er spricht aber nicht für den Sonderfall des Juden, ist nicht Bekenner von Qual und Erlösung einer geschlossenen Gemeinschaft, sondern läßt sein gesamtes Wesen, in seiner Bestimmtheit durch Blut, Gnade und Gegenwart dichterisch entfalten. Er gestaltet nicht als Künstler Jüdisches, sondern ist jüdischer Künstler.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur
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