Alfred Kerr von Ernst Blass

Alfred Kerr von Ernst Blass

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.


Wie fängt es an?

Mit einer Musik von Schumann:Marche des Davidsbündler contre les Philistins. Zu diesen Klängen, von ihnen begeistert und beflügelt, singt ein Mensch seine Erlebnisse, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse, sein ganzes Leben. „De la musique avant toute chose!“

Er schreibt hauptsächlich über Berliner Theater, er singt dabei von sich, er schreibt mit sachlicher Leidenschaft von Dramatikern und Schauspielern, aber alles, was er schreibt, ist ein Gesang über das in den Dingen, was ihm wesentlich ist. Er ist schwer unterzubringen, mit anderen unter einen Hut zu bringen. Seine Art verspottet von vornherein die Identifikation mit einem bestimmten Begriff. Er fühlt sich zu reich, zu vielfältig, zu überlegen; er ist eine einzelne Person, eine einmalige Erscheinung, eine lebendige Kraft.

Jeder aber wünscht sich selbst zu sehen, zu fühlen, sich nahe zu sein, in der eigenen Haut zu stecken. Und gerade Alfred Kerr, „der bekannte Theaterkritiker“, wünscht das. Er hört die Stimme seines Blutes, seiner Seele, und er ruft das ihm blutmäßig, seelenmäßig Nahe zu sich. Er wünscht wahr zu sein, seine Wahrheit zu erkennen und auszusprechen, und er weiß, wieviel Seelenkraft und Entschiedenheit dazu gehören, Täuschungen, Selbsttäuschungen abzuwehren und zu durchdringen. Hier will jemand ganz wahr, ganz von sich aus, unumwunden und direkt reden, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen. Er prüft in jeder Einzelsache genau seine Gedanken darüber, sein Wissen davon und nimmt seine Angaben nach bestem Gewissen auf seinen Eid.

Und das ist schon sehr viel. Denn die meisten straucheln, werden schwach, lassen sich narren und einwickeln. Deshalb liebt Kerr die Kraft, die Fähigkeit, die Überlegenheit, das helläugige Durchschauen und Durchdringen der Fragen; er begreift das Talent als Charaktereigenschaft wahrer und gefestigter Menschen. Kerrs erste Liebe ist die Wahrheit, und zu ihr trägt ihn der seltsam beladene und doch schwebende, rudernde Flug der Musik, das erdhaft-überirdische Wunder gestalteter Klänge.

„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“ — Heines Doktrin lebt im Wesen von Kerrs Werk. Ein Nebeneinander, nein, ein untrennbares Zusammen von Klang und Wahrhaftigkeit, von Rhythmus und Mut ist Kerrs Grundzug. Magis amica veritas? Die Wahrheiten in der Kunst sind ebenso wahr wie die Wahrheiten im Erkennen.

„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.
Und küsse die Marketenderin,
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.“


Auch der Bücher von Alfred Kerr tiefster Sinn.


Drama und Licht

Er schrieb eine Welt im Drama und im Licht.

Er lehrt die Innerlichkeit und die Bewegung. Besser: zuerst die Bewegung; der tätige Könner ist ihm lieber als die edle, aber herzschwache Innerlichkeit ohne Arm und ohne Faust. Eine starke Innerlichkeit hat auch einen Arm, ein starkes Herz hat auch eine Faust.

Er lehrt die Logik und die Musik.

Vor allem: die klingende Bewegung, das freudige Beginnen und die treffende Tat.

„Ich hab' sie begriffen, weil ich gescheit.
Und weil ich ein guter Tambour bin.“


Der herrliche Überschwang und Übermut von Heines Genie flammt in brennender Seligkeil aus Kerrs Worten empor.

So ist sein Ich zuerst eine Flamme, eine Kraft, ein Element, ein Leuchten.

Auf was für Dinge füllt nun der Schein dieses Lichts? Was wird sichtbar, erkennbar?

Eine dunkle und unzulängliche Welt, von einem Stümpergott, Müller fünf, recht unvollkommen geschaffen, mit vielen unverzeihlichen Mängeln, aber auch mit manchen Herrlichkeiten — und mit Schwärmen ernster, arbeitender, umgrabender Menschen.

Diesen Menschen, den leidenden, dennoch kraftvollen, festen Herzen, bei denen das Werk der Wellverbesserung einschließlich Abschaffung des Todes und Eroberung des Himmels liegt, — diesen scheinlos-ernsten Arbeitern und innigsten Vertretern der menschlichen Interessen gegenüber dem genannten Demiurgen Müller, diesen Menschen gesellt sich Kerr zu mit seiner Schleuder, mit seiner Harfe und mit seinem Spaten. Seine Richtung ist eine gegenschöpferische, antidemiurgische, luziferische, menschliche. Er hält es mit Ibsen, von dem er sagt: „Ibsen ist Luzifer. Sein ganzes Werk ist im Grunde das eines Entgötterers. Das Werk dieses schönen und traurigen und starken Engels, der ,Gegenschöpfer‘ sein will. Ibsen spürt die ideale Forderung in sich, und weil er tapfer wie ein Wikinger ist, dringt er bis ans Ende. Ans Ende der Wahrheit; das ist: Verzichten. Und mit alledem weckt er Empfindungen, die eine schlechtweg religiöse Gewalt haben. Heilig ist auch der Gegenschöpfer.“

Kerr hält es mit den Weltverbesserern, die eine Musik in sich tragen, und mit den Musikern, die die Menschheit fördern. Mit allen, die die Erde lieben und vorwärtsbringen, die zu atmen und zu arbeiten verstehen. Diese Halbmenschen, sagt er, sind die Doppelmenschen.

Ist Kerr mehr ein Kritiker oder mehr ein Poet? Er ist ein Erzieher, weniger zu bestimmten Ansichten als zu gewissen Stimmungen (darin also ein Dichter) — und ein Erzieher zu aus solchen Stimmungen hervorgehenden Taten (darin ein Lehrer; oder besser: ein anregender, rufender Bruder).

Vielleicht ist diese Frage dumm und altklug gestellt. In jedem Menschen ist ein erheblicher Rest unverständlich. Wir reden nur von den verständlichen Zusammenhängen, und wenn wir etwas nicht verstehen, so behaupten wir, der andere habe keinen Charakter oder sei keine „geschlossene Persönlichkeit“. Kerr lebt im Duft und in der aufreizenden Musik seiner Worte und im Ernst und der Wahrhaftigkeit seiner gedanklichen Bekenntnisse.

„Also, kurz gesagt, Sie hallen ihn für einen Zwitter?“ Nein, Sie stellen falsche Fragen. Ich halte ihn ganz einfach für einen essayistischen Schriftsteller, für einen écrivain, für ein starkes Subjekt, das die Welt im Drama erforscht und seine Ergebnisse in „verwandt leuchtenden“ Begriffen und Worten mitteilt. Er ist ein unmittelbarer écrivain, er spricht nur deshalb vom Drama, weil dort Seelisches am konzentriertesten, bedeutendsten, wesentlichsten vorkommt.

„Dann könnte er doch auch von Romanen sprechen?“ Ja, gewiss. Wenn ihn nur das Seelische interessierte, könnte er auch Psychologe oder Psychiater werden. Aber im Drama ist nicht nur die bedeutende Seele behandelt, während die Psychiatrie Fälle, seelische Tatsachen vor sich hat, sondern diese wesentliche Seele erscheint im Drama als Mensch, ganz und gar, rundplastisch, sinnfällig. Die Fälle des Psychiaters sind zu allgemein, zu breit, und wenn selbst der Psychiater die von ihm erforschten, wesentlichen Geschichten irgendwelcher Seelen in einer Art Pitaval besonderer Fälle untheoretisch erzählen würde, so hätte das Drama die menschliche Rundplastik voraus; freilich kann es nur andeuten, das seelische Geschehen nur blitzhaft beleuchten, während der Pitaval der Seelengeschichten genaue Ausführungen machen, Zusammenhänge beschreiben, kurz eine Reihe von Romanen geben könnte. Kerr zieht das Drama nicht als apriorische Kunstform dem Roman vor, er sieht auf der Bühne Seelen, und nicht nur bildhaft, sondern leibhaft; sinnfällige Begegnungen, Schicksalswege von Menschen, von leibhaften Menschen, seelischen Brüdern; er sieht wesentliche Erlebniswirklichkeiten.

Das Wirklichkeitsdrama

Er liebt daher das Wirklichkeitsdrama. Er bekämpft den Monolog, das Beiseitesprechen, die direkte Charakteristik. Töricht war es aber schon 1890, zu glauben, dass die damals durchdringende naturalistische Richtung Ibsens und Hauptmanns objektive Tatsachenwirklichkeiten auf die Bühne bringen wollte. Man suchte damals phrasenlos und menschlich zu sein. Was hieß das aber, „menschlich“? Der Mensch wurde gefühlt als fragendes, kämpfendes, sehr rührendes Wesen, das tapfer und sehnsüchtig einen Weg durch das Unverständliche der Welt suchte, ein tapferes Wesen, trotzdem sein metaphysisches Bemühen als objektiv fast hoffnungslos angesehen wurde. Ideale gelten als Wahn. Phrasen müssen zerstört werden. Was bleibt, sind ewige Fragen, auf deren Beantwortung man kaum noch rechnet, eine Stimmung ernster Gefasstheit und der Wunsch, wahrhaftig und brüderlich zu sein, die Lage der Menschheit zu erkennen und zu verbessern. Es ist zu viel gesagt, jene Zeit als eine der völligen Hoffnungslosigkeit zu bezeichnen. Es war eine Zeit sehr fruchtbarer Zweifel, eine sehr notwendige Zeit der Dämmerung; sonst hätte auch nicht das Ethos der Wahrhaftigkeit und Innigkeit gegenüber der Wirklichkeit in ihr bestehen können. In hoffnungslosen Zeiten ist alles erlaubt, und der Marquis de Sade ist da nicht inkonsequent. Aber dass in den tiefen Zweifeln jener Jahre der Funke des Menschlichen, Redlichen, Wahrhaftigen nicht erloschen ist, könnte dem heute Denkenden die Hoffnung geben, dass die Seele unsterblich ist, dass sie von den zweifelhaften Dingen der Welt das Sicherste und Vertrauenswürdigste ist.

In jenen Jahren der Zweifel suchte die Bühne sinnliche Menschengegenwart zu geben und Fragen dämmern zu lassen. Die Stimmung des Verzichtens auf Überirdisches musste an einer möglichst auf Erlebniswirkliches ausgehenden Handlung zwischen fragenden, sehnsüchtigen, ratlosen, verlassenen Menschen gegeben werden. Je wirklicher die Handlung war, um so stärker musste die Frage nach dem Überirdischen (Gespenst bei Ibsen. Sehnsucht bei Hauptmann) empfunden werden.

Der Sinn des Wirklichkeitsstücks war also: die Stimmung von der Fragwürdigkeit des Überwirklichen zu vertiefen. Man war so deutlich anwesend, damit das Fehlen des Abwesenden noch schärfer hervortrete. Auf diese Stimmung des Zweifels und der Sehnsucht und des Aufrechten, Aufrichtigen in Zweifel und Sehnsucht kam damals alles an.

Um dieser Stimmung willen mußte das Wirklichkeilsstück ohne Monologe und ohne direkte Charakteristik sein.

Der Ewigkeitszug

Die „gefestigt-hoffnungslosen“ Menschen, die auf überirdische Gewißheit verzichtenden, aufrichtigen Erdenmenschen hätten sich ein Leben voller Genüsse leisten können. Après nous le déluge. Und: carpe diem.

Es zeigte sich aber, dass sie die Sache der Menschheit doch noch nicht ganz für aussichtslos zu halten schienen, also nicht ganz hoffnungslos sein konnten.

Hierfür gab es nun zwei Erklärungen. Man konnte sagen, die Verfechtung menschlicher Interessen geschieht hier bei gewissen höheren Menschen, weil sie ihnen Freude und einen hohen geistigen Genuß gewährt. Wenn auch auf wesentliche Ergebnisse nicht zu rechnen ist: diese Beschäftigung ist für Menschen unseres Schlages genussreich. Sie erfolgt um des Genusses willen. Man konnte aber auch sagen: diese Beschäftigung ist für Menschen unseres Schlages unvermeidlich. Sie quält uns, schließt uns von der übrigen, animalisch-zufriedenen Welt aus, dies Erkennenmüssen ist unser Fluch. Gewißheit ist nur, dass wir leben, mit verschiedenen, sich oft bekämpfenden Trieben. Wir können nicht zufrieden genießen, „höhere“ Neigungen entfremden uns dem Genuß: und wir können nicht immer nur denken und arbeiten, wie leicht könnte uns da ein Genuß entgehen!

Diese Frage entscheidet Kerr dahin: man soll im Sommer genießen, im Winter arbeiten. Diese Halbmenschen, sagt er, sind die Doppelmenschen. Ein Gipfel ist der Juljännerich.

Was ist nun eigentlich das letzte Wort in dieser ganzen Stimmung? Die Suche der Menschen nach einem festen Ankerplatz mag als Genussmittel empfohlen oder als widernatürliche Grille bekämpft werden —, da als genau gewusste Wirklichkeit nur das Leben einschließlich der menschlichen Unzufriedenheit übrig bleibt, und alles andere höchst fragwürdig ist und unerreichbar, kann das letzte Wort für hochgradig Grillenkranke nur „Selbstmord“ sein, und für die anderen: „es sei, wie es wolle, es ist doch so schön“. Nämlich: der Spatz in der Hand ist mir lieber als die Taube auf dem Dach.

Dies zweite ist aber eigentlich kein letztes Wort, sondern eine Vertagung der Entscheidung. Im stillen bleibt doch die Sehnsucht nach der Taube. Das „carpe diem“ ist nur dann ein großes Wort, wenn der Verzicht groß ist, und der Verzicht ist nur dann groß, wenn die Sehnsucht groß ist. Diese Sehnsucht ist das Entscheidende.

Was aber heißt groß und klein, gut und böse, — wenn nach uns die Sintflut oder die „große Stille“ kommt?

Im Grunde glauben selbst jene Menschen tiefer als an die Sintflut und an die Sterblichkeit an das Gegenteil: an die Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit des Seelischen.

Man kann alles bezweifeln, man kann aussprechen: „das Leben ist der Güter höchstes“ — am Ende ist einem doch der „Ewigkeitszug“ das Teuerste im Leben. Der Mensch lebt außer vom Brot nicht von der Skepsis allein, auch nicht vom Genuß allein, sondern eben von dem, was Kerr den „Ewigkeitszug“ nennt. Die Flut der skeptischen und nihilistischen Zweifel verbrandet, — den Ewigkeitszug muss sie doch lassen stan. „Es gibt den Ewigkeitszug“ heißt soviel wie „meine Seele ist unsterblich“. Wenn dies nicht schon bei Dostojewski gestanden hätte, hätten die Schüler jener Skeptiker von selbst dahin kommen müssen, und es ist auch der ruhende Pol in der Flucht der expressionistischen Erscheinungen.

Die tiefen Zweifel, Leiden und Desperationen der Älteren haben diese Frucht getragen und den Jüngeren vererbt. Wir könnten damit jetzt neu beginnen, aufbauen, glücklich und hoffnungsvoll sein, wenn diese Erkenntnis nämlich uns schon in Fleisch und Blut übergegangen wäre. So haben wir sie nur als Glauben und Wissen einzelner, die Gesamtstimmung ist heute eher „intelligent“, „aufgeklärt“, d. h. eigentlich sehr beschränkt, kurzsichtig, gewissenlos.

Die Größe der alten Zweifler bestand aber gerade darin, dass sie Gewissen hatten.

Aude sapere

Das bedeutet aber bei Kerr keinen sogenannten platten Rationalismus, sondern einen menschenhaften, promethidischen, wie er sagt, „luciferischen“ Rationalismus. Einen Rationalismus, der „Aufwärtsstimmungen voll positiver Kraft“ gibt. Mir scheint es darauf anzukommen, dass dieser Rationalismus sehr religionshaltig, ewigkeitshaltig, symbolhaltig ist.

„Kerr ist zuerst ein Künstler, dem der Ewigkeitszug das Wichtigste ist. Erst dann, wenn das Künstlerisch-Unmittelbare unwirksam bleibt, geht er bei der Kritik eines Werkes mit Logik vor . . .“ Nein, das trifft nicht zu. Manchmal ist ihm die Predigt des Rationalismus wichtiger. Manchmal nennt er das Symbol einen Umweg. Obwohl schließlich Ewigkeitszug gar nichts anderes heißen kann, als was man mehr theoretisch als „Symbolwert“ bezeichnet.

„Kerr ist ein Künstler. Er sagt kein letztes Wort; er gibt mehr eine letzte Stimmung: Liebe zur Vernunft und unvergängliche Liebe zur Vernunft. Die Betonung wechselt. Sein bestes Gewissen sagt ihm, dass das Leben zu reich und zu lebendig ist, um widerspruchslos zu sein . . .“

Kommt es nun mehr auf den Rationalismus oder mehr auf die mit ihm legierte Aufwärtsstimmung an, auf den Ewigkeitszug?

Kerrs letztes Wort ist wohl eine Frage.

Im Grunde glaube ich aber: auf den Ewigkeitszug kommt es an, auch bei ihm, — und das Rationalistische ist nur ein Vorletztes, ein Inhalt.

Doppelt phantastisch

Das bisher Gesagte bezog sich allzu sehr auf die Doktrinen eines Lehrers, auf die Gesamtstimmung eines bedeutenden Gewissens dem Leben gegenüber. Es kam noch nicht zum Ausdruck: die strahlende und innerliche Kraft dieses Dichters und dieses Gewissens. Musik, Bewegung, Innerlichkeit, Klarheit: das sind die allgemeinen Worte für Kerrs Forderungen und Eigenschaften. In seinem Ton ist aber ein nicht definierbares Zusammen dieser Erscheinungen: er ist zart, männlich, dämmernd, entschieden zugleich. Wie soll man das beschreiben? Es gibt keine Formeln für den Reichtum einer Seele, für das Wunder eines besonderen Menschen. Sein Ton ist wehend und fruchtbar, betaut und wieder trocken, klar und träumerisch, verzichtend und hoffend, beglückt und leidvoll und fest, kämpfend und fragend, ja, zuletzt fragend; dem Ewigen fragend zugewandt trotz aller Bejahung des Diesseitigen; seelenhaft-dunkel trotz aller Liebe zum irdischen Licht; Lyrik, Musik aus dem Geisterreich. Oft ist er sogar mehr als einfach fragend, nämlich doppelt phantastisch, wenn in den Kapiteln Tatsachen weit und Seelenwelt durcheinanderkommen, wie besonders in den Aufsätzen, die in der „Neuen Rundschau“ erschienen sind. Wie sonderbar ergriff es, scheinbar beziehungslose Dinge tief beziehungsvoll nebeneinandergesetzt zu lesen. Es berührte wie der Übergang bei Offenbach, wenn Hoffmann aus dem Lied von Klein-Zack in den Sang von der Geliebten gerät. Es ergriff wie manches bei E. T. A. Hoffmann selbst oder bei Heine. Eine Phantastik, phantastischer als das Unwirkliche allein. Und dies bei einem Rationalisten, der sich zu Voltaire bekennt!

Dieser Widerspruch ist auch das Wesen des Kerrschen Witzes.

Der jüdische Witz besieht oft darin, dass ein wahrer Sachverhalt in so extremer Weise konstatiert wird, daß das Wahre daran heiter wird, nicht schwer und ernst bleibt. Er kennzeichnet scharf und gesalzen ein bestehendes Verhältnis, durchdringend, auf den Kern dringend, — aber es wird witzig durch die übertriebene, alle Zwischenstufen, ja die extremste Fassung des Richtigen noch überspringende Formulierung. Zwei Sozien streiten wegen einer Kaution, die die Firma für den Verwandten des einen gestellt hat. A.:„Es musste sein, bedenke, ich bin Familienvater.“ B.: „Sehr gut, — für mein Geld bist du Familienvater!“ A. hat eine nicht einwandfreie Begründung gegeben; B. macht den Einwand in einer nun erst recht angreifbaren Behauptung. Diese Art, witzig zu sein, vereinigt Durchblick und Energie mit einer gewissen Weisheit und alten Kultur. Deutlich und scharfsinnig, aber heiter das Widerspruchsvolle noch übertrumpfend. In dieser Übertreibung der Richtigstellung ins Absurde und Komische liegt am Ende etwas relativ Höfliches.

Auch Alfred Kerrs Witz wiegt sich zwischen Welten, die sich widersprechen. Er kommt aus dem Widerspruch innerhalb des Lebendigen; dem Durcheinander von Logik und Ahnung, von Tatsache und Phantasie. Sehr sonderbar ist seine Art, sich zu unterbrechen, auf etwas anderes zu kommen, beziehungslos, doch wesentlich die Wahrheit, dass es noch etwas anderes gibt, als das ihm zufällig Vorliegende, wiedergebend.

Das Wesen Kerrs lässt sich nicht auf eine mathematische Formel bringen. Er stellt innig ewige Fragen, wartet also auf die Lösung der Widersprüche, — und sagt doch Ja zu allem widerspruchsvoll blühenden Reichtum. Im tiefsten scheint er mir Kerr zu sein, wenn er auf einem Blatt in mehreren getrennten Welten weilt. Unterbrechungen, Abschweifungen, ernstestes Fragen; dann wieder Anwesenheit im Tatsächlichen, Realen, Rationalen. Die Welten begegnen sich in ihm; in ihnen gelten verschiedene Valuten; Erinnerungen, Wünsche kommen; dann wieder Taghelle; dann ein fragendes Abklingen, Entschweben . . Nichts im Grunde ist phantastischer als dies Leben (c'est la vie), als diese Begegnung von greifbar Tatsächlichem mit Fernem, deutlich Gefühltem, dies übergehen ineinander, dies Auseinanderkommen, diese Fülle, dies Zugehören zu verschiedenen Welten, in mehreren scheinbar heimatlich erwartet, und doch alles auch fremd und vertauscht; geliebt sein und doch einsam, gefährdet und doch voll dunklen Glanzes. Gerade diese Halbwirklichkeit, ins Unwirkliche ragend, seltsam sich verschiebend und vertauschend, — diese Halbwirklichkeit ist doppelt phantastisch. Wie ein sinnfälliger, gewöhnlicher Rumpf auf phantastischen Füßen und mit wechselndem, jetzt bekanntem, dann wieder fremdartigem Antlitz doppelt phantastisch ist.

Kerr ist auf der Erde ein Gast; diesseits des Stromes in einer unvollständigen, missratenen, aber immer noch schönen Welt ist er ein Gast, der sich wie zu Hause fühlt und doch weiß, dass die Abschiedsstunde jeden Tag schlagen kann. So steht er oft an der unabsehbaren Brücke, das Diesseits mit schwärmerischer Lust betrachtend und alle Wünsche, alle nach dem anderen Ufer gerichtete Sehnsucht des Menschen als geheimnisvolles Wunder empfindend. Sind wir hier nur zu Gast und haben drüben im Ewigen unsere Heimat? Jedenfalls ist der Ewigkeitszug eine Brücke oder eine Fähre.

Vieles auf Erden ist nüchtern zu behandeln. Kerr ist manchmal, weil ihn ein Theaterstück nicht trunken machte, mit betonter Nüchternheit ans Werk der Kritik gegangen. Aber noch seine Nüchternheit war geladen mit elektrischem Feuer. Man muss den eigentlichen Ton einer Kritik verstehen; man darf sich nicht nur an die formulierten Gedanken halten; es kommt sehr auf das Unwägbare an.

Mehrere Schichten. Eine Schumann-Welt und eine Voltaire-Welt: das ergibt zusammen etwas höchst Phantastisches, das manchmal von Heine, manchmal von E. T. A. Hoffmann stammt. Mit Shaw berät Kerr oft Fragen der praktischen Vernunft; mit Hauptmann hört er das sonderbare, leispochende, leis-eingreifende, undefinierbar Fragende in der dichtesten, gedrängten Wirklichkeit: mit Ibsen ist er phantastisch und real zugleich.

Mehr als den guten Menschen liebt er den guten Musikanten, den kräftigen Könner, die streitbare, mannhafte Seele. Denn er fühlt wohl, dass in der Kunst etwas Streitbares enthalten ist, ein begeistertes Ringen, das Bauen einer Brücke ins Ewige. Er ist nicht bodenständig, er lebt im Unterwegs, im Hoffen und Angreifen. Er baut keine Kirchen und keine Heimstätten für Menschen, sondern er baut an jener Brücke oder Fähre, sie stark und haltbar zu machen. Er hat einen Arbeitsraum: das ist sein vorläufiges Heim. (Freilich, auch dies ist für ihn ungewiss: vielleicht ist auch der Arbeitsraum nur ein Gastzimmer?)

Gleichviel: wir halten uns nicht nur an seine Lehren, sondern auch an seine Töne.

Von Ibsen hat er gesagt: „Gewiß mehr ein Anreger als ein Erfüller; gewiß mehr ein Frager als ein Antworter. Wer aber von uns ist ein Antworter?“

Wage du zu irren und zu träumen

„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.“

Kerr, der agnostische Tambour, besiegt mit diesem Aufruf zu Musik und Mut die Anfechtungen. Auf dem Fahrzeug des Ewigkeitszuges hat er das Kap der Hoffnungslosigkeit umschifft. Denn nichts ist dem Menschen so zu eigen wie die Hoffnung. Nichts ist so sehr die Voraussetzung einer Existenz als Mensch, wie die Hoffnung. Nichts so real, wie die Hoffnung auf Ewigkeit, Unsterblichkeit. Nichts so rational, wie dies Irrationale. Nichts ist so unmöglich, wie die Hoffnungslosigkeit.

Dies heute nicht zu sehen, wäre ein Zeichen von Kurzsichtigkeit.


Sonderbar klingt es bei diesem reisenden Enthusiasten an. Eine Stimme beginnt, eine andere meldet sich, unterbricht die erste, — sie singen durcheinander, nebeneinander; nun sind sie auseinandergekommen. Eine seltsam-durchbrochene Musik.

Nun spricht einer, fest, nüchtern, klug; aber da sprüht es schon von elektrischen Funken. Hier öffnet sich eine Tür, dort fällt eine ins Schloß hinter einem geliebten Wesen, das fortging. Und die elektrischen Funken reisen weiter.

Soeben waren sie wie menschliche Augen, die mich ernsthaft und brüderlich ansahen und grüßten.

Wo seid ihr nun, ihr unsterblichen Funken?

Nachschrift

Wenn man mir die Frage stellt: „Ist in Kerrs Wesen für das Judentum Charakteristisches zu entdecken?“, so antworte ich: seine erste Heimat ist das Geisterreich, danach das Domizil Westeuropa, drittens sind allerdings Eigenschaften vorhanden, die man als „jüdische“ bezeichnen kann.

Er selbst ist stolz darauf, Jude zu sein. Er nennt die Juden: „die starken Stehaufmänner; die (glücklicherweise) dauernd Unerlösten; die Härtesten wie die Lindesten; mit Shylocks und Heilanden.“ Er liebt die Juden, weil sie ein hochgeartetes und unverwüstlich starkes Volk sind. Er liebt die Kultur und die Kraft, das Alter und die Jugend dieses Volkes. Liebt er die Juden als sein Volk? Er liebt sie auch, weil sie in der Minorität sind — wie die Geistigen, die Begeisterten, die Schaffenden in der Minorität sind.

Buber nennt als Hauptideen des Judentums die Ideen der Einheit, der Tat, der Zukunft. Ich bin in diesem Fall nicht gern ein Prokustes, der mit brutaler Gewalt ein lebendiges Wesen zerrt oder preßt, bis es in seine Idee passt. Freilich drängt Kerr zum Erkennen des Wesentlichen, zum tätigen Durchsetzen der Wahrheit, zum Heraufbeschwören einer besseren Welt. Aber das geschieht nicht in einer sonderlich jüdischen Form. Er ist nicht ein Mythoszeuger, kein Mose, kein Posaunenschall, sondern von westeuropäischer Zivilisiertheit, geschmeidig, stählern, durchdringend, voltairisierend. Von seinen Vettern fallen mir nur Heine und Offenbach als jüdische Verwandte ein. Wie Voltaire, liebt Kerr nicht die metaphysische Spekulation der Deutschen; selbst ist er aber nicht nur durchdringend, peitschend, sondern oft betrachtend, sinnend, zurückblickend, deutscher Musik nachträumend. „Aber gerade, dass Kerr französische Lucidität und Wahrhaftigkeit im Erkennen und deutsche Wärme, Tiefe. Fülle im Musikalischen liebt — gerade diese Art ist jüdisch“, könnte einer sagen und hinzufügen: „Sie nannten ihn einen Gast, einen reisenden Enthusiasten ohne Bodenständigkeit.“ Ich könnte antworten: „Auch andere, nichtjüdische Geister haben auf der Erde keine bleibende Statt, sondern suchen die zukünftige.“ Eher erscheint mir als jüdische Eigenschaft Kerrs: Die Verbindung von alter Kultur mit unermüdet jugendlichem Drängen ins Zukünftige; die Überlegenheit ältesten Adels mit den Gaben des wesentlichen Durchschauens, der Weisheit, des Witzes — und das jugendliche Zugreifen, Erneuern, Durchsetzen. Hier ist freilich etwas in Westeuropa sonst nicht Vorkommendes, durchaus Jüdisches: es ist zugleich älter und jünger als Westeuropa.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur
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