Albert Ehrenstein von Ernst Weiß

Albert Ehrenstein von Ernst Weiß

Albert Ehrenstein, einer der stärksten und eigenartigsten Geister unserer Zeit: diese Stärke ist unverkennbar, aber sie ruht wie Simsons Stärke zuletzt in einem Geheimnis, das für Menschen nie ganz ergründbar ist. Und doch ist an dieser dichterischen Gestalt alles. Form wie Inhalt, und schon vom ersten Werk an, fest umrissen; nur ist es schwer, fast unmöglich, diese einzigartige Linie nachzuzeichnen bis ins Selbstverständliche.


Schon bei dem ersten Werk, das 1910 erschien, bei „Tubutsch“ war es klar, daß jüdischer Geist sich hier mit griechischem Geist vereinigen wollte: der jüdische Geist des alten Testaments, müde gewandert, in Wien gelandet, in staubigen, kleinen, halb rührenden, halb komischen Worten, Räumen, Szenen, Stimmen, auferstehend, todesmüde, wie er war, und doch dem Leben im tiefsten zugewandt, nach rückwärts gewandt, nach den alten Behausungen der vielgewanderten Seele. Der griechische Geist, das Dasein, das tausendtorige Leben in stark umfangenden Armen umklammernd, Ahasver, der ruhelose, auf griechischer Insel, erstaunt über das Groteske der Welt, ewig hungrig nach dem wirklichen Getriebe, nach dem ungeheuren, rettenden Schwung, nach dem großen, endlich beruhigenden, stillenden, und, sei es selbst tötenden Zauberwort.

Tubutsch ist vielleicht das Werk Ehrensteins, in dem er am tiefsten Ghettoluft ein- und ausatmet. Es ist der ewige Jude, aber nicht in ein ewiges Gewand gekleidet, sondern in den schillernden, geflickten Bettelrock zerstörter Illusionen, überallhin spielenden Witzes eingekleidet, und es fehlt auch nicht der wehmütige Zauber des guten jüdischen Herzens. Seine Sentimentalität, schwer und in breiten Wellen wie ein Strom, mündet mit ruhigem Rauschen in die Sentimentalität Wiens; der Erbe eines längst nicht mehr heroischen Volkes, das hinter dem Sarge seiner eigenen Herrlichkeit einhergeht, fühlt die kommende Verwesung, das Längstgestorbensein der österreichischen, der kaiserlich-königlichen, der wienerischen Welt, die ja auch vor dem Kriege nur ein halb witziger, halb wehmütiger Schatten ihrer einstigen Herrlichkeit war, ein Gespenst des Zweifels, aber ein bürgerlich gekleidetes, durchaus nicht dämonisches Gespenst, eine wandelnde Leiche, aber voll von Ironie, Menschlichkeit, Trauer, Güte. Hier ist Ehrenstein eine ganz runde Schöpfung geglückt, Tubutsch ist eine Gestalt, die wirklich lebt.

Wenn man die Entwicklung diese Dichters von Tubutsch weiter verfolgt, muß man, um auch nur annähernd die Kurve nachzuzeichnen, den Begriff des Jüdischen, und sei es nur zu einem kleinen Teil, fester umreißen. Ein Teil des Jüdischen scheint mir in seiner Bipolarität zu liegen. Bipolarität ist die Scheidung: zwischen Gut und Böse, zwischen Hier und Dort, zwischen Gott und Mensch. Bipolarität ist die Forderung des Juden nach Entscheidung. Urteil fordert der Jude, und sei es Todesurteil: Gottes oder des Menschen. In diesem Sinne wird das Buch Hiob das stärkste jüdische Dokument sein, und das, was Hiob ist, wird sich niemals wegdenken lassen aus der Geschichte des menschlichen Geistes.

Eine andere Seite dieser Bipolarität ist das Ringen Gottes um den Menschen. Die ganze Bibel ist nichts als der Wille Gottes, dem Menschen zu erscheinen. Die ganze Bibel spricht von Gottes Kraft, die er daran setzt, dem Menschen evident zu werden; als etwas Selbstverständliches sich ihm einzupflanzen ins innerste Herz, als etwas Gutes, aber vor allem als ein Muß, als ein Anfang ohne Frage und ohne Ende.

Da die Bibel von Menschen geschrieben ist, so ist sie nichts als das, was Ehrenstein in seinem letzten Werke: Briefe an Gott nennt. Vergebliche Briefe, trostlose Rufe in die Leere denn die Welt ist leer, sagt Tubutsch, böse Botschaft, denn die Welt ist böse, die Menschen sind böse, die Gottes Ebenbild sind, von ihm mich Wunsch und Willen geschaffen.

„Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.“ 1. Moses, G. Kap“ 5. Vers. Das ist die Posaune des letzten, des jüngsten Gerichts, das ist der Grundzug aller heiligen Schriften; es wird nicht immer davon gesprochen, aber immer daran gedacht, und wenn sich diese Reue Gottes, dieser ewige, vergebliche Kampf Gottes um seine Evidenz in den Büchern Moses und den anschließenden Schriften vulkanisch, explosiv, in Feuer und in Flammen austobt, so wird er doch nie ausgekämpft, im Buche Hiob wird er ganz rein, Geist gegen Geist, ausgetragen. Hier-Gott, dort Gegengott. Hier Zeugen, dort Zeugen: überall das Gericht und nirgends die Gerechtigkeit.

Am menschlichsten, am verklärtesten ist dieses ewige Remis der unendlichen Schachpartie in den schönen Versen des Predigers: „Ich wandte mich um und sah alle, die Unrecht leiden unter der Sonne; und siehe, es waren Tränen derer, so Unrecht litten und keinen Tröster hatten . . . .“

Ehrenstein sagt: Da Trost stets nur beim Tröster bleibt . . .

Da lobte ich die Toten, sagt der Prediger, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und der noch nicht ist, ist besser denn beide und der des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht.

Weh, dass auch euch Sterblichen Strahl entstürzt des Lebens —
In neun wildwachsenden Monden
Hinfällig ein Same sich zur Sonne krümmt.
Zigarettenkurz euer Tag verraucht in der Pfeife.
Die der steinerne Tod lakonisch ausklopft.
.... Menschen sterben,
Strom ist Ring,
Die Gottwoge Wasser
Bin ich . . . . . .

(Ehrenstein: „Wien“).

*

Wie sich Ehrenstein aus dieser Bipolarität hilft, wie er mit ungeheurem Schwung über den Abgrund setzt, wie er kein Wort des Witzes, der Blasphemie, der blutig bitteren Träne scheut, das ist sein Mut, sein Glück in der Finsternis, sein rettendes Geheimnis, sein Simsonshaar. Er geht nicht vor, er wandelt nicht voran, er kann nicht bleiben, nicht reden, nicht verweilen. Wenn er stehen bleibt, versteint er wie Lots Frau. Hier ist die Grenze der bipolaren Einstellung: die Wage, die zwischen Gott und Mensch zu schwanken aufgehört hat, aus welchem Grunde es sei, ist nichts als leeres Metall. Hier berührt er sich mit Karl Kraus, dem in seiner Art gewaltigsten Menschen, den Wien, vielleicht den Europa hervorgebracht hat. Ungeheuer sind die Fäuste dieser Männer, wenn es heißt, die in Himmel und Hölle auseinander stürzende, die gegen sich selbst zweischneidig rasende Welt zusammenzuschmieden; muss es sein? es muss sein! in einer einzigen Faust, in einem Satz, in einem Gegensatz, in einem Wort, einem Witz.

Frieden, ruhende Gestaltung ist ihnen versagt.

Wäre Ehrenstein ganz versagt, hätte er nicht den Tropfen hellenischen Bluts in sich, von dem anfangs die Rede war. Es ist nicht das kristallisierte apollinische Griechenland Platos und der großen Sophisten, sondern ein phönizisch angehauchtes, vom Ostgestade her süß und geheimnisvoll umduftetes Hellas, von Homer bis Lukian, das des Dichters ausgedörrte Adern neu füllt. Hier gewinnt er neues Blut, neue Farbe, eine aus tausend Toren strömende Welt, eine in tausend Angeln sich wandelnde Sphäre: Dionysos und Ahasver.

Noch bleibt etwas ungelöst: vollkommen ist nichts, was aus diesen Gründen kommt. Die frei im Raum schwebende, sanft knisternde, grenzenlos umgrenzte Kugel, der im Ruhen wandernde Stern des Ostens, das, was uns aus den Schriften der östlichen Meister und aus ihren Landschaftsbildern entgegenweht, die Versöhnung über der Welt, wenn auch nicht in der Welt, das hat auch der ganz große, ganz geniale Ehrenstein nicht. Aber außerhalb dieses vergöttlichten Bezirkes, dieses „dritten Kreises“, hat er alles. Er hat alles, weil er bis ins letzte fühlt. Er spielt mit den Worten, aber seine Seele spielt nicht. Seine Seele verliert nie den furchtbaren, und doch freudevollen Ernst des Zeugens; wer zeugt, der spottet nicht.

Wer zeugt, verzweifelt nicht. Mitten in den furchtbarsten Gräueln, die ein Menschenauge zu sehen je gezwungen war, verzweifelt er nicht, er versagt nicht, er verstummt nicht, er steht da, und was er sagt, steht da, sein Schrei steht vor dem Höllenfahrtzug der Jahre 1914 — 1918 wie eine einzige, Tag und Nacht flammende Fackel.

Von hier führt ein zweiter Weg zu dem jüdischen Wesen, dem jüdischen Urquell: seine Intensität, seine Glaubensstärke. Hier begegnet er sich mit den großen Zornigen, den glühenden Eiferern, den Glocken aus feurig flüssigem Metall.

Zwischen dem Nein Gottes und dem Nein der bösen Welt liegt der Fluch; auch er ein springender, überbrückender Funke, ein positivum, eine rettende Tat, und wenn sie nur den Täter rettet: vor sich selbst; ihn reinigt im Feuer. Jesaias, Hesekiel und die weltweiten Verdammungen und Höllenzwinger der mosaischen Schriften stürzen, neu geboren aus der alten Verzweiflung und dem alten, nie zerstörbaren Willen zum Paradiese. Der Jude ist heroisch; vielleicht ist sein Grundwille der Welt gegenüber heroisch, heldenhaft, die gewappnete Faust gegen das Böse, die spartanische Reinheit im Hassen, im Himmelan, im Sternabwärts bis zum Höllensturz. Fluch ist ein heroischer Ausdruck der Verzweiflung, denn niemand verflucht die Welt, ohne auch sich selbst mit zu verfluchen, Fluch ist das Gebet des heroischen Menschen, die letzte Brücke in die höheren Himmel, die letzte Leine, halb Lasso zum Würgen, halb Rettungsseil, ausgeworfen vom stürmenden Herzen in seiner tiefsten Stunde.

Einen Hauch des Geistes von Jesaias wird man bei Ehrenstein nicht verkennen dürfen. Jesaias sagt:

„Das ist die Last über Babel, die Jesaias, der Sohn Amoz’ sah. Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe. Er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen.


Schrecken, Angst und Schmerzen wird die Menschen ankommen, es wird ihnen bange sein wie einer Gebärerin; einer wird sich vor dem anderen entsetzen, feuerrot werden ihre Angesichter sein.

Denn siehe, des Herrn Tag kommt grausam, zornig, grimmig, das Land zu zerstören und die Sünden daraus zu vertilgen.

Denn die Sterne am Himmel und sein Orion scheinen nicht helle; die Sonne geht finster auf, und der Mond scheint dunkel.

Er will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen, und die Gottlosen um ihrer Untugend willen . . .

Dann will ich den Himmel bewegen, der die Erde heben soll von ihrer Stätte, durch den Grimm des Herrn und durch den Tag seines Zornes.

Und sie soll sein wie ein gescheuchtes Reh.

Wie eine Herde ohne Hirten . . .

Es sollen die Kinder vor ihren Augen zerschmettert werden, ihre Häuser geplündert, ihre Weiber geschändet

Die Jünglinge mit Bogen erschießen, sich der Frucht des Leibes nicht erbarmen, noch der Kinder schonen . . .

Also soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, umgekehrt werden von Gott wie Sodom und Gomorrha . . . dass man hinfort da nicht mehr wohne, noch jemand bleibe für und für . . . und Strauße werden da wohnen, und Feldgeister werden da hüpfen . . .“

Jesaias 13, V. 1—20.

Ehrenstein in seinen Versen: Wien:
„Wien weint hin im Ruin.
Wien, Du alte, kalte Hure,
Ich kauerte an Deines Grabes Mauer . .
Wien — nieder brennt dein Feuer. Dein Tag verkohlt.
Menschen zu Asche sinkt von Höhen weiland der Wald.
Ich rufe Wehe über die Stadt,
Ich rufe Wehe über das Wesen,
Das um Asche und Papier
Den Wald vergessen hat.
Ich bitte euch, zerstöret die Stadt,
Ich bitte euch, zerstöret die Städte.
Ich bitte euch, zerstört die Maschinen.
Zerreißt alle Wahnschienen.
Entheiligt ist euer Ort,
Euer Wissen ist nördliche Wüste,
Darin die Sonne verdorrt.
Ich beschwöre euch, zerstampfet die Stadt, zertrümmert die Städte!“
Ehrenstein, alt-testamentarisch in Zorn, Glut und Fluch.
Keiner verflucht die Welt, der sich selbst nicht mit verflucht:

„Ich habe gelogen,
Ich habe betrogen.
Es war nur Zufall,
Dass ich nicht mordete.“

(Gedicht Ottakring in „Wien“.)

Er ist der gute Sohn, der das herzenswarme Gedicht von der Mutter schreibt:

„Verwundet Mädchenkind, das sich zur Mutter rundet,
Deine Krippe ist gebenedeit:
Messias schläft in jeder Wiege,
Gottverbündet.“

Aber er ist der Hasser, der Mensch, der die Hand aufhebt gegen alle und gegen die Mutter nicht zuletzt.

Er geht im Guten, im Bösen, im: sich selbst segnen, im: sich selbst fluchen bis ans letzte, er lebt bis ins letzte, er schreit und heult, er jammert, jubelt und zischt schlangengleich, das ist so, weil er glaubt. Eine große, gläubige Seele glaubt mit der letzten, tiefsten, rasenden Kraft, mit dem Krampf, mit dem äußersten Kreiselschwung der anima non Candida, und glaubt doch nie genug; nie versöhnt er sich, mit gewaltsam zerrissenem Munde findet ihn der Tag nach fürchterlicher Nacht.

Er, Flucher und Verfluchter, Priester und Verdammter, Prophet und nie zu besiegender Zweifler, stellt sich mit der Stärke der Helden der Welt noch einmal zum entscheidend gewollten und doch nie entschiedenen Zweikampf; dies ist jüdisch im hohen Sinne:

Wie Hamlet springt er ins offene Grab der Welt: ich bin Hamlet, der Däne; ich bin der Dichter, der Zernichter, auf der Spitze seines Schwertes schwankt, in Himmelsund in Höllenfarben funkelnd, das dämonische Gestirn. So kann er stehen, ruhen, befriedet sein.

„ — ich selber will
Still, ernst, bewußt im Weltenwust,
Bescheiden, ohne mein und dein.
Wahrhaftig, jenseits groß und klein,
Meiner Seele Löser und Erlöser sein.“

(Briefe an Gott, S. 15 f.)

Der Messias starb nie in ihm; noch hat es sich, das ewig hoffende, ewig blühende Herz, das nie zerstörte, ungebrochene in der Weltwanderung, das sich ohne Ermüden aufbäumt zu blutiger Flamme in der Verzweiflung.

„Keiner geselle sich zu mir, ich bin allein und will nur die Sonne. Dir kennet nicht die Kälte, denn aller Schatten dieser Erde ist in meinem Antlitz.

Wenn mich Gott fragt, Werde ich antworten ...“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur