A. Juden in der medizinischen Forschung.

Auf keinem Gebiete der Wissenschaften haben sich die Juden einen so unbestrittenen Vorrang gesichert, wie in der Medizin. Schon in der Thora begegnen wir hygienischen Vorschriften und diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen, die trotz ihrer Einfachheit durch ihre Exaktheit und Konsequenz — wenn man vom religiösen Motiv absieht — ganz wissenschaftlich anmuten. Durch diese mit religiösen Ideen verbundenen medizinischen und hygienischen Lehren waren die Lehrer des Judentums eigentlich von selbst auf die Heilkunde verwiesen, und so bildete sich diese Kunst im Laufe der Zeit zu einem wichtigen, ernsthaft betriebenen Zweige der Wissenschaft im jüdischen Volke aus. Zu dieser Entwicklung trug auch wesentlich der Umstand bei, daß das Talmudstudium die rationelle Denkmethode, die ja auch für die Medizin von besonderem Werte ist, begünstigte. Auch ein psychologisches Moment kam fördernd hinzu: daß die Juden, die zu allen Zeiten den Verfolgungen ihrer Umgebung ausgesetzt waren, dadurch nicht verbittert wurden, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern ihrer Veranlagung gemäß noch weichherziger und milder. Durch ihr taktvolles Eingehen auf die Leiden der Menschen, durch ihr Verständnis für die Qualen anderer, erhielten sie rasch den Ruf hilfsbereiter, tüchtiger Ärzte.

Dass die Juden seit jeher als tüchtige Praktiker, fast als Zauberer angesehen wurden, beweisen die geschichtlichen Tatsachen. Juden waren die Leibärzte von Päpsten, Bischöfen und Kaisern. Aber auch in der medizinischen Wissenschaft spielten sie stets eine bedeutende Rolle. Die medizinischen Hochschulen in Spanien und Italien sind durch sie begründet worden. Dabei waren ihre theoretischen Leistungen nicht etwa nur reproduktiver Natur, sondern wie der genaue Beobachter feststellen kann, von einer gewissen Originalität. Schon im 3. Jahrhundert stellte der bekannte Talmudlehrer Mar Samuel den Grundsatz auf, daß man die meisten Krankheiten von verdorbener Luft ableiten müsse, wodurch er in gewissem Sinne als Vorläufer der modernen Bakteriologie gelten kann. Während des Mittelalters war wohl auch für die Juden die Lehre Galen’s die wesentlich maßgebende, aber bei den Übersetzungen, die die Juden lieferten, verrät sich doch ein kritischer Sinn, der den Dingen eine neue Seite abgewinnt. Man kann das am besten bei Maimonides, dem berühmten Religionsphilosophen und Arzt beobachten, den Richard Löwenherz zu seinem Leibarzt ernannte und der diese Stelle ablehnte. Er hat in seiner Galen-Übersetzung und -Bearbeitung eine ganze Menge von Irrtümern und Widersprüchen aufgedeckt und besonders die Lehre über die Gifte in ganz neuer selbständiger Weise ausgeführt.


In späterer Zeit, als die Heilkunst endlich nicht mehr in der einseitigen, von Galen begründeten Art betrieben wurde und jeder Arzt wagte, eigene Anschauungen zu haben und zu vertreten, zeigte sich der produktive Geist der Juden am deutlichsten. Auf den Gebieten der klinischen Methoden, der Botanik und Physiologie wurden jetzt neue Beobachtungen gemacht und verwertet; besonders der portugiesische Arzt Amatus Lusitanus, der allerdings zur Taufe gezwungen war, und Abraham Zakuto waren bedeutende Vertreter ihres Standes.

Bei dem gewaltigen Fortschritt, den die Medizin seit dem 18. Jahrhundert gemacht hat, waren Juden auf allen Spezialgebieten hervorragend beteiligt. Meist ausbauend, sehr oft jedoch auch begründend, arbeiteten und arbeiten sie mit Energie und Ausdauer und haben besonders zu einer Zeit, wo ihnen außer dem Handel und der Jurisprudenz kein anderer Beruf offen stand, Erfolge erzielt, die von einem jüdischen Einfluss auf die Fortbildung der Medizin zu reden berechtigen.

Dass auf den folgenden Blättern nicht alle hervorragenden jüdischen Ärzte, die bahnbrechend gewirkt haben, verzeichnet sind, entspricht der Absicht des Buches, das nur an Beispielen die Bedeutung der Juden kennzeichnen will.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden als Erfinder und Entdecker