Professor Gustav Jacob Henle

Gustav Jacob Henle

Ein Kind jüdischer Eltern, die später zum Christentum übertraten, war der große Göttinger Anatom und Pathologe Friedrich Gustav Jacob Henle. Er wurde 1809 zu Fürth in Bayern geboren, studierte von 1827 — 1832 in Bonn, promovierte daselbst, machte darauf eine Studienreise nach Paris und wurde 1834 Prosektor bei seinem Lehrer Johann Müller, der kurz vorher zum Ordinarius für Anatomie und Physiologie ernannt worden war. Da er jedoch wegen seiner Teilnahme an der Burschenschaftsbewegung eine mehrmonatliche Haftstrafe abzubüßen hatte und bei der Regierung nicht gut angeschrieben war, verzögerte sich seine beabsichtigte Habilitation bis zum Jahre 1837. Da erst wurde er Privatdozent. Doch schon 1840, — er hatte inzwischen durch einige wichtige Entdeckungen die Aufmerksamkeit der medizinischen Kreise erregt — folgte er einem Rufe als Professor der Anatomie an die Universität zu Zürich, wo er außerdem den Lehrstuhl für Physiologie innehatte. Nur vier Jahre wirkte er in Zürich. Nachdem seine „Allgemeine Anatomie" erschienen war, in welcher er wiederum hervorragende neue Beobachtungen veröffentlichte, wurde ihm die Professur in Heidelberg angeboten, die er 1844 annahm und 1852 niederlegte, um in gleicher Eigenschaft als Ordinarius für Anatomie und Physiologie nach Göttingen zu gehen. Hier starb er, von seinen Schülern und Freunden geliebt und verehrt, im Jahre 1885.


Es ist natürlich ganz unmöglich, die Verdienste Henles um die Medizin auf diesen wenigen Seiten ganz zu würdigen. Auch dürfte es schwer fallen, da es sich um Leistungen auf dem Gebiete der mikroskopischen, normalen Anatomie handelt, ihre Bedeutung dem Laien so fassbar zu machen, wie etwa den Wert der Entdeckung des Salvarsans und ähnliches. Und doch braucht sich auch der Nichtmediziner nur zu erinnern, dass sich die Pathologie, d. h. die Lehre von den krankhaften Veränderungen des menschlichen Organismus, auf die genaue Kenntnis der normalen Anatomie, d. h. der Beschreibung des animalischen Körpers in gesundem, normalem Zustande, stützt, um schließlich doch Henle einigermaßen gerecht zu werden.

Henle entdeckte das Zylinder-Epithel im Darmtraktus und fand die Verschiedenheiten und Grenzen der meisten übrigen Epithelien, („Epithel“ ist eine zusammenhängende Lage von Zellen, welche äußere und innere Flächen des Körpers bedeckt. Die Innenlage wird auch oft, z. B. bei den Blutgefäßen, „Endolhel" genannt.) Ferner erkannte er bei der mikroskopischen Untersuchung des Haares die innere Wurzelscheide, die sich in dem unteren Teil des Haarbalges in zwei scharf getrennte Schichten differenziert, deren äußere aus einer einfachen oder doppelten Lage kernloser Epithelzellen besteht und nach ihm „die Henlesche Schicht" genannt wird. Bei der Lehre vom mikroskopischen Bau der Niere begegnen wir seinem Namen in der „Henleschen Schleife“, die eine Fortsetzung der gewundenen Harnkanälchen ist und mit ihrem aufsteigenden Schenkel in die „Schaltstücke'', dann in die Sammelröhrchen und somit in die Ausführungsgänge der Nieren führt. Auch am Sehorgan gelang ihm ein bedeutender Nachweis. Bei der Struktur der Netzhaut stellte er erstens eine radiäre Streifung der der äußeren retikulären Schicht aufsitzenden Basalteile der Sehzellen (Stäbchen und Zapfen) fest, die besonders im Bereiche der „macula lutea" (gelber Fleck, in welchem die fovea centralis, die Stelle des schärfsten Sehens liegt) an Breite zunimmt (Henlesche Faserschicht )und zeigte ferner, dass an der eben erwähnten fovea centralis nur Zapfenzellen, aber keine Stäbchen vorhanden sind, woraus die höhere Bedeutung der Zapfen erwiesen wurde. In dieser Weise arbeitete er in allen Teilen der Anatomie, ohne dabei die anderen Fächer, die Physiologie und Pathologie zu vernachlässigen. In der Physiologie war er der Begründer der sogenannten „rationalistischen Schule", indem er als erster die Ansicht vertrat, dass sämtliche Krankheitszustände von den Nerven ausgehen und an der Hand physiologischer Tatsachen zu erklären und zu heilen sind. In der Pathologie wirkte er bahnbrechend und beeinflusste unverkennbar die wissenschaftlichen Anschauungen und Arbeiten Robert Kochs durch seine „Pathologischen Untersuchungen", in denen zuerst mit Nachdruck der Gedanke von der parasitären Aetiologie sämtlicher Infektionskrankheiten, der ja durch die modernen Forschungen glänzend bestätigt worden ist, verfochten wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden als Erfinder und Entdecker