Benedikt Stilling

Benedikt Stilling

Ein Zeitgenosse des berühmten Berliner Klinikers Traube war der bedeutende Anatom und Frauenoperateur Benedikt Stilling, dessen Name in Laienkreisen fast ganz unbekannt ist, Benedikt Stilling wurde 1810 zu Kirchhain (Hessen) geboren, studierte 1828 — 1832 in Marburg, wo er die Doktorwürde erlangte, und wurde 1833 Assistent an der dortigen chirurgischen Klinik von Ullmann. Schon während dieser Zeit veröffentlichte er die Aufsätze „Die Bildung und Metamorphose des Thrombus oder Blutpfropfes in verletzten Blutgefäßen** und „Die Gefäßdurchschlingung, eine neue Methode, Blutungen aus größeren Gefäßen zu stillen“, wo er die bis dahin unbekannte Methode der Gefäßunterbindung bei Blutungen empfahl. Diese Erfindung, die wegen ihrer praktischen Erfolge rasch bekannt wurde und viel Segen stiftete, brachte ihm große Anerkennung ein, doch konnte er sich nicht entschließen, aus äußeren Rücksichten das Judentum zu verlassen. Unter solchen Umständen musste er natürlich auf die akademische Laufbahn, die seinen sehnlichsten Wunsch bildete, verzichten und blieb in Kassel, wo er seit 1833 als Landgerichtswundarzt lebte. Als er 1840 gegen seinen Willen nach Elberfeld versetzt wurde, nahm er den Abschied als Gerichtsarzt und unternahm jetzt mit kurzen Unterbrechungen verschiedene Studienreisen. 1843 finden wir ihn in Paris, wo er bei seinen Kollegen und Freunden Magendie und Amussat Studien über Operationen der Harnwege macht, 1858 in Italien, 1869 wieder in Paris, London, Edinburgh und 1873 in Wien. Dann blieb er bis zu seinem Tode (1879) in Kassel, wo er als Arzt und Forscher praktisch und literarisch tätig war.


Stilling bewies durch seine Forschungen auf den verschiedensten medizinischen Gebieten seine Vielseitigkeit. Außer der Physiologie, in deren Gebiet man wohl auch seine oben erwähnten Arbeiten zu rechnen hat, verdankt ihm auch die Anatomie und Chirurgie, speziell bei Frauen, bedeutende Fortschritte. Die Anatomie des Zentralnervensystems, der er fast 40 Jahre seines Lebens widmete, wurde durch ihn zum größten Teil übersichtlich und verständlich gemacht. Zum ersten Male tauchte der Begriff der „vasomotorischen Nerven“ in seiner Arbeit „Physiologisch-pathologische und medizinisch-praktische Untersuchungen über die Spinal-Irritation“ auf, und nun folgten in ununterbrochener Reihenfolge seine anderen nervenphysiologischen Arbeiten über den Bau und die Struktur des Rückenmarks, über die „medulla oblongata" (Verlängerung desselben), über „den Bau und die Verrichtung des Gehirns“, die Varols-Brücke, die nach ihm benannten Wurzeln des Rückenmarks usw. So schuf er die Basis für die Nervenphysiologie der heutigen Medizin. Vor ihm hatte man dem Cerebrospinalsystem (Bau des Gehirns usw.) völlig unwissend gegenüber gestanden. Die gröbere Formbeschaffenheit der einzelnen Teile hatte man zwar schon gekannt, ihm aber blieb es vorbehalten, durch Einführung der kontinuierlich fortschreitenden Schnittreihen zu einer exakten Untersuchung des Faserverlaufs zu gelangen und so den feineren Bau des Gehirns und Rückenmarks in seinen wichtigsten Grundlagen festzustellen.

Als Landarzt fand er besonders Gelegenheit, sich als Operateur zu betätigen. Seine Operationen der Harnwege, die er vor allem bei seinen Pariser Kollegen gelernt hatte, verschafften ihm den Namen eines tüchtigen Operateurs. Am wichtigsten jedoch ist die Tatsache, dass er jahrelang der einzige Arzt in Deutschland war, der die Ovariotomie (Entfernung des Eierstocks) unternahm. Schon 1837 hatte er die erste Operation dieser Art, und zwar zur Vermeidung einer inneren Blutung extraperitoneal (außerhalb des Bauchfells) ausgeführt und das Resultat seiner Beobachtungen in der „Geschichte einer Exstirpation eines krankhaft vergrößerten Ovariums nebst einigen Bemerkungen über diese Operation“ veröffentlicht. Aber dieser Aufsatz, der nicht recht gewürdigt worden war, geriet in Vergessenheit, so dass zehn Jahre später der Engländer Duffin diese Methode als eigene Erfindung veröffentlichen konnte. In Wahrheit gebührt jedoch Benedikt Stilling der Ruhm dieser bedeutsamen Neuerung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden als Erfinder und Entdecker