Unser Rückzug war traurig

Unser Rückzug war traurig

Unser Rückzug war sehr traurig. Überall trafen wir auf Blessierte, die sich elend fortschleppten und uns um Hilfe anriefen. Aber leider konnten wir ihnen nicht helfen und mußten sie ihrem Schicksal überlassen. Sie blieben zurück und fielen später alle in Feindeshand. Endlich waren wir von diesen schauerlichen Szenen fern, und es, wurde uns immer leichter ums Herz, je näher wir dem Vaterlande rückten. Die Trümmer der Armee bewegten sich auf verschiedenen Wegen weiter. Der unsrige, wenn ich mich noch recht entsinne, führte nach Rudina. Unter immerwährender Verfolgung, die wir von den Russen auszustehen hatten, marschierten wir einen ganzen Tag fort und kamen Abends, als es schon dämmerte, an ein Städtchen, dessen Name mir entfallen ist. Kaum hatten wir einen Lagerplatz gewählt, als russische Kavallerie gegen uns aufmarschierte. Wir lehnten uns in Halbmondsform an das Städtchen und hatten an beiden Flügeln Kanonen. Kaum hatten diese zu spielen angefangen, als die Russen die Flucht ergriffen. Wir setzten unsern Marsch nun die ganze Nacht durch, auf ungebahnten Wegen fort, immer querfeldein über Wiesgründe und Äcker und passierten mehrere Gewässer, wo wir hinter uns immer die Stege und Brücken abwarfen. Überall lagen Tote herum, so daß es aussah, wie ein immerwährendes Schlachtfeld. Wir kamen an vielen Edelhöfen und Ortschaften vorbei, wo Feuer brannten und wo sich überall Soldaten von allen Nationen und Waffen herumtrieben. In einem dieser Edelhofs sah ich einige Bagagewagen und einer davon kam mir vor, wie der meiner Frau. Da es aber viele solcher Wagen gab, und die Nacht mich auch täuschen konnte, so hatt’ ich deß nicht acht, zumal da ich wußte, daß die Wagen der Soldatenweiber stets fern von der Truppe weggeschickt wurden und meine Frau demnach schon voraus sein mußte Die Folge lehrte mich, daß ich leider recht gesehen und daß sich meine Frau hier leichtsinnig verspätet hatte. Wir marschierten noch eine geraume Zeit und kamen endlich an einen Platz, wo, so viel ich Nachts unterscheiden konnte, rechts ein Wald und links eine Mühle stand. Auch einige andere Häuser und einen Kirchturm konnt’ ich wahrnehmen. Wir passierten eine Brücke, die, sobald die Truppen alle hinüber waren, sogleich von den Pioniers zum Teil abgeworfen, zum Teil in Brand gesteckt wurde. Da ich nicht zum Dienst kommandiert wurde, so eilte ich, meine Frau aufzusuchen, denn Hunger und Durst quälten mich sehr. Aber sie war nirgends zu finden. Auch die Frau des Sergeanten Winkler, die ebenfalls ein Fuhrwerk hatte, und gewöhnlich in Gesellschaft meiner Frau fuhr, war nicht zu finden. Wir vermuteten nun, die beiden Frauen seien, schon weiter voraus, und trösteten uns, so gut wir konnten. Aber wie erschrocken wir, als wir jenseits des Flusses beim Schein der brennenden Brücke die beiden Weiber in ihren Wägelein ganz langsam, daher fahren, sahen. Da standen sie, getrennt von der Truppe, die Feinde vielleicht keine Viertelstunde weit hinter ihnen. Angst um ihr Schicksal und Zorn über ihren Leichtsinn ergriffen mich zugleich. Ich rannte über die brennende Brücke und Sergeant Winkler tat ein Gleiches. Wir schalten unsere Weiber, die in Tränen ausbrachen und jetzt erst die Gefahr berechneten, der sie sich ausgesetzt hatten! Ich nahm meinen Tornister und einen Laib Brot vom Wagen. Nun magst Du, sagt’ ich, Deinen Ranzen und das Brandweinfässchen auf den Rücken nehmen, und sehen, wie Du, zurecht kommst. Winkler machte es wie ich, und so kehrten wir wieder über die Brücke zurück, die Weiber hinter uns und die Flammen schlugen über uns zusammen. Auf einem Wöhrd stand Generalleutnant Graf Wrede mit verschränkten Armen und sah dem Brand zu. Die beiden Weiber stürzten auf ihn zu und flehten ihn um Hilfe und Rettung ihrer Wagen an. Was begehrt Ihr von mir? sagte er, kann ich eure Wagen herüberschaffen? Wärt Ihr eher gekommen, wie Ihr solltet. Ich kann Euch nicht helfen. In diesem Augenblicke kamen zwei Chevauxlegers angeritten, die sich ebenfalls verspätet hatten und fanden die Brücke zerstört. Sie besannen sich aber nicht lange, sprengten in den Fluss und schwammen glücklich durch. Sergeant Winkler fragte sie, ob ihre Pferde Grund gefunden hätten? Stellenweise, antworteten sie; doch öfter auch nicht. Da lief Winkler wieder hinüber, bestieg seinen Wagen, trieb die Pferde in den Fluss und kam glücklich herüber. Ich kämpfte mit mir, ob ich es auch so machen sollte. Aber der Gedanke um eines elenden Wagens und zwei elender Pferde willen vielleicht mein Leben auf eine so unrühmliche Art einzubüßen und meine Frau zur Witwe zu machen, schreckte mich ab. Mag das Fuhrwerk verloren sein, dachte ich, mein Leben gehört dem König und Vaterlande. Da trat ein Soldat, Namens Knoll, zu mir, der gewöhnlich meiner Frau in Besorgung der Pferde, in Fourage- und Lebensmittelsammeln beizustehen pflegte, und erbot sich, das Fuhrwerk zu retten, wenn ich ihm vom Hauptmann die Erlaubnis auswirken wollte, sich vom Trupp zu entfernen. Er habe drüben einen Weg längs dem Flusse bemerkt, sagte er, dem woll’ er folgen, da er irgendwo an eine andere Brücke führen müsse. Ich wirkte ihm die Erlaubnis aus, bedeutete ihm aber, daß er, sobald er Gefahr merke, sogleich die Stränge abbauen und sich retten solle. Nun rannte er hinüber, bestieg den Wagen und ich sah ihn noch eine Zeit lang am Ufer hinfahren, doch gab ich alle Hoffnung auf, weder ihn noch das Fuhrwerk je wieder zu sehn. Mittlerweile war es Tag geworden und bald brachen wir auf und setzten unsern Marsch fort. Wir zogen durch einen Wald und hörten plötzlich Schüsse fallen, gerade in der Gegend, wo Knoll hingefahren war. Als wir aus dem Wald herauskamen, sahen wir rechts vor uns in der Entfernung, wie die französischen Kürassiere eine Attaque auf Kosaken machten und sie in die Flucht jagten. Wir setzten unsern Marsch fort, und kamen an eine Anhöhe, auf welcher ich einen Wagen erblickte, der aussah, wie der meinige. Da es aber, wie gesagt, viele solcher Wagen gab, so gab ich keiner Hoffnung Raum. Wie groß aber war meine Freude, und die meiner Frau, als ich bald darauf wirklich die Pferde als die unsrigen erkannte. Wir konnten nun wieder unser Gepäck und unsere Lebensmittel aufladen. Knoll war, wie er, erzählte, so rasch die Pferde laufen konnten, fortgefahren und auf einen Edelhof gekommen, wo französische Soldaten nach Lebensmitteln herumstöberten. Er tat dienstfertig, als wollt’ er ihnen suchen helfen, erwischte einen Schinken und warf ihn in den Wagen. Da näherten sich schon die Russen und wurden von den Franzosen mit Gewehrfeuer empfangen. Knoll machte sich indes aus dem Staube, ereichte glücklich eine Brücke, aber kaum hatte er sie im Galopp passiert, als schon die Kosaken hinter ihm drein sprengten. Sie hätten ihn auch bald eingeholt, wenn sie nicht von französischer Kavallerie wären angegriffen und versprengt worden. Dies war der Angriff, den wir von fern gesehen hatten. Wir bezogen diese Nacht ein Lager. Den andern Morgen früh setzten wir unsern Weg fort. Vorher wurden auf Befehl des Generalleutnants Grafen Wrede eine Menge Wagen verbrannt, um Pferde für die Kanonen zu gewinnen, und den Verfolgern nichts übrig zu lassen, als das unverbrennbare Eisen. Unter unablässiger Verfolgung marschierten wir weiter. Rechts und links in Wäldern und Feldern lagen tobte Soldaten, Pferde, zertrümmertes Fuhrwerk usw. Eine traurige Szene. Aber auch der Anblick der Lebenden war traurig. Hier schleppten sich Einzelne mühsam fort, dort zog ein Haufen ohne Waffen, ohne Anführer, sich selbst überlassen, einher, dort wurden Kanonen mit Ochsen bespannt. Sie blieben stecken. Nun fiel man über die Ochsen her, und schichtete sie, die Kanonen überließ man ihrem Schicksale, da man sie nicht essen konnte. Kürassiere ohne Pferde hatten ihre Säbel und Harnische einem elenden Gaul aufgeladen und trieben ihn mit Stöcken vorwärts, er stürzte und stand nicht wieder auf, und die Franzosen, die schon zu schwach waren, die Kürasse selbst zu tragen, ließen Gaul und Gepäck liegen und zogen weiter. Alles war aufgelöst und niemand kümmerte sich mehr um den andern. Nur wir Bayern wurden noch durch unsers Generalleutnants Grafen Wredes Geist und Energie so viel wie möglich zusammengehalten und mit Lebensmitteln versehen, so daß wir noch das Ansehen eines organisieren Trupps behaupteten. So erreichten wir Danielowitz, nachdem wir auf diesem weiten Marsch, durch die heftige Kälte, den Hunger, das Elend, und die Verfolgung des Feindes bei Tag und Nacht viele Menschen verloren hatten. Hier blieben wir über Nacht und biwakierten unter freiem Himmel, wie wir schon seit 5 bis 6 Monaten unter kein Obdach gekommen waren. Daher waren unsere Kleidungsstücke auch so morsch, daß sie kaum noch zusammenhielten, und wir selbst so abgemattet, daß wir aussahen wie Leichen. Wir rissen hier, wie überall, wo wir dazu kommen konnten, das Stroh von den Dächern der Häuser und Scheuen, um uns nur einigermaßen gegen die Kälte zu schützen. Tags darauf kam der Befehl, daß alle überzähligen Offiziere und Unteroffiziere abgesondert werden und nach dem Städtchen Kopolniki abgehen sollten, um ihre weitere Bestimmung dort zu erwarten. Dieselbe Einrichtung fand bei allen Regimentern statt. Demzufolge verließen die Jüngsten an Dienstjahren, zu denen ich ebenfalls gehörte, das Regiment, welches noch aus 90 Mann bestand. Es wurde vom Hauptmann Vallade kommandiert, denn seit Disna war kein Stabsoffizier mehr da, indem dieselben teils krank, teils zu andern Regimentern mit Avancement übergetreten waren. Ungern trennte ich mich vom Regiment, um so mehr, da wir nur die simple Ordre aus Kopolniki zuzugehen, aber keinen Vorweis (Marschroute) bekamen. Wir machten uns unter Führung des Oberleutnants Rogenhofer auf den Weg. Von Offizieren waren außerdem bei diesem Detachement: die Oberleutnants Friedrich Roth, (jetzt Hauptmann im 5. Linien-Infanterie-Regiment) Melzer, Wehler, die Lieutenant Kramer, Leutnant und Bataillons-Adjutant Weinig, Leutnant Langensee (jetzt Oberleutnant bei der Gensdamerie), Lieutenant Geuder, Junker v, Stromer jetzt Oberleutnant im 5. Linien-Infanterie-Regiment) und Junker Schnitzlein u. a. m. Wir erlitten viele Mühseligkeit auf diesem Weg. Unter andern kamen wir durch einen Ort, wo die Franzosen einige Stunden vorher übel gewirtschaftet und eine Branntweinbrennerei zerstört hatten. Die Franzosen waren abgezogen und wir kamen eben des Weges, als ein Haufen Bauern mit Knütteln und Heugabeln bewaffnet anrückte, um sich an den Zerstörern zu rächen. Sie trafen auf uns, und wir mußten Feuer auf sie geben, um ihrer los zu werden. Endlich erreichten wir Kopolniki, und die Offiziere meldeten sich bei dem dortigen Stations-Kommandanten Hauptmann von Spitzel, vom 3. leichten Jäger-Bataillon. Wir wurden bis auf weitere Ordre nach dem Dorf Zeswirsch, 3 Stunden von Kopolniki, und eine halbe Stunde von der Hauptstraße, verlegt, wo die Offiziere in den Edelhof, wir Unteroffiziere aber zu den Bauern in Quartier kamen. Von allen Branchen, die um Kopolniki herum lagen, mußte täglich eine Ordonnanz nach Kopolniki gehen, um die Befehle zu empfangen. Eines Tages traf die Reihe mich. Da ich früh um 7 Uhr schon beim Kommandanten sein mußte, so brach ich um 4 Uhr morgens auf. Es war mondhelle Nacht, und die Kälte war schrecklich. Indem, ich in meinem zerrissenen Mantel, das Gewehr auf den Rücken über die unabsehbare Schneeflur hinschritt, um die Hauptstraße zu gewinnen, stieß ich an etwas und stolperte. Ich besah den Gegenstand näher. Es war ein Toter der halbverdeckt im Schnee lag. Da es noch dämmerig war, so konnte ich ihn nicht recht unterscheiden. Ich schaute nun weiter umher, und überall stieß mein Blick auf Tote, die herumlagen. Die feierliche Stille der Nacht, das blasse Dämmerlicht des Mondes, die entsetzliche Kälte, das unermessliche Schneemeer rings umher, besäet mit martervoll Verstorbenen, und ich der einzige Lebende aus diesem unabsehbaren, Kirchhof—dies alles machte einen solchen Eindruck auf mich, daß mir ein Schauder durch die Gebeine rieselte. Ich eilte vorwärts, ohne mich weiter umzusehen, aber schwermütige Gedanken drückten meine Seele. Tags darauf, als ich abgelöst war, kam ich denselben Weg zurück, und nun konnte ich alle Gegenstände erst unterscheiden. So sehr, wir alle an die Szenen des schauderhaftesten Elends gewöhnt waren, so bot sich doch immer noch ein schrecklicherer Anblick dem Auge dar, und wenn man glaubte, dies sei das grässlichste und letzte, so zeigte sich doch oft plötzlich etwas, das noch weit ärger war. So ging mir es auf dieser Schneehaide. Die zahlreichen Gruppen halb, im Schnee versunkener erstarrter Menschen und Pferde boten ein so mannigfaltiges Bild des Jammers dar, daß Auge und Herz, wenn auch von Schreck gesättigt und gleichgültig geworden, doch eine neue Nahrung und Trübsal fanden. Über allen Ausdruck grässlich und jammervoll waren aber die Feuerstellen, um die sich die Soldaten gelagert hatten. Schon halb wahnsinnig und bewusstlos vor Kälte waren sie dem Feuer immer näher und näher gerückt. Sie sahen nicht, sie fühlten nicht den Brand, der sie ergriff, und während ihre abgestorbenen Füße schon verzehrt waren, rückten sie immer noch näher und suchten nach Wärme. So sah man die Unglücklichen bei den längst verloschenen Aschenhaufen mit abgebrannten Füßen daliegen. Überdies waren sie fast aller ihrer Kleider beraubt, denn jeder, der noch einiges Leben in sich fühlte, riß den Toten oder Sterbenden die letzte Bedeckung vom Leibe, um sich zu erwärmen und vielleicht noch eine halbe Stunde länger zu leben. Das Herz erstarrt vor solchem Gräuel. Ich traf wieder auf den Leichnam, über den ich auf dem Hinweg gestrauchelt war. Er hatte noch Kleider, aber die Gebärde, in der er dalag, erfüllte mich mit Schauder. Beide Hände hielt er, krampfhaft geballt, am Kopf, als wollte er sich die Haare ausraufen. Ein unbeschreiblicher Jammerausdruck lag auf seinem verwilderten Antlitz. Man sah, er war in Verzweiflung gestorben. Ich wendete mich mit Grausen von ihm und schritt meines Weges. Ich stieß auch auf einzelne Häuser, die der Dächer beraubt und von ihren Bewohnern verlassen, aber mit toten Soldaten angefüllt waren, die hier Schutz gesucht hatten und vor Hunger und Kälte umgekommen waren.