Meine geliebte Frau Walburga stirbt

Meine geliebte Frau Walburga stirbt

Walburga! Walburga! rief ich, was ist Dir? Der Bediente strengte seine Kraft an sie aufzurichten. Umsonst! Sie war tot. — Nur wer Ähnliches erlebt hat, kann ermessen, wie mir jetzt zu Mute war. Ich ließ sie los, sank verzweiflungsvoll auf mein Lager zurück, und stieß ein entsetzliches Klaggeschrei aus. Mein Elend war grenzenlos. Sie, der ich das Leben wohl tausendmal zu danken hatte, meine Retterin, Pflegerin, Erhalterin, lag tot an meiner Seite. Meine Sinne verwirrten sich, ich wußte einige Zeit nicht, wie mir geschah, noch wo ich war. Baumgraz sprach mir Trost zu. Sie ist erlöst, sagte er, und wir sind auch nicht ganz verlassen. Können wir gleich nicht mehr auf, so ist ja mein Bedienter noch da, der uns helfen und pflegen kann. Taub für alle Trostworte zog ich meine wollene Decke über den Kopf und ließ meinem Tränenstrom freien Lauf. Es mochte etwa Mitternacht sein, als der Bediente heftig zu röcheln anfing. Sein Herr rief ihm zu, nicht so stark zu schnarchen, aber er gab keine Antwort. Endlich wurde er still. Der Tag brach an, und als ich nach ihm hinüberblickte, lag er tot neben meiner Frau, die Fäuste krampfhaft über der Brust geballt. Sein schwarzer Schnurrbart war mit angefrornem Reif überzogen, denn seit der Entfernung der andern Offiziere, also etwa seit 24 Stunden, hatte der unmenschliche Edelmann unsere Stube nicht mehr heizen lassen. Kaum hatte Oberleutnant Baumgraz Kunde von dem Tode seines Bedienten, so fing er eben so zu jammern und zu wehklagen an, wie ich. Jetzt sind wir ganz verlassen, schrie er händeringend, jetzt sehen wir nur dem Hungertode entgegen. Der Hunger quälte uns aber weniger als der Durst. In dieser hoffnungslosen Lage blieben wir den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht, zwei Lebende allein, verzweiflungsvoll neben zwei Leichen. Niemand ließ sich sehen noch hören, Niemand schürte Feuer in unsern Ofen, Niemand reichte uns einen Bissen Brot, oder einen Tropfen Wasser. Ich war bei all dem noch glücklicher als Baumgraz. Er konnte sich ganz und gar nicht regen, und wenn er es versuchte, so presste der heftige Schmerz an seinen halbverfaulten Zehen ihm ein grässliches Klaggeschrei aus, und er mußte jeden Versuch, sich fortzuschleppen, aufgeben. Ich aber vermöchte, auf allen Vieren kriechend, mich dem Fenster zu nähern, wo ich mit meinen Nägeln, die lang waren, wie Adlersklauen, das Eis und den angefrornen Reif von den Scheiben herunter kratzte, und so meinen Durst löschte. Endlich am zweiten Tag trat ein Bauer herein und sah sich, gleichgültig im Zimmer um. Wir flehten ihn um Wasser an. Wenn Ihr Geld habt, entgegnete er, so will ich Euch Wasser bringen. Hier, sagte ich, und zeigte ihm einen Düt. Wenn Du Wasser bringst, sagte ich in gebrochenem Russisch, so sollst Du dies Geldstück haben. Sogleich, sagte der Barbar, nahm einen Topf zur Hand und bald kam er mit Wasser wieder. Er gab nun Jedem zu trinken, nahm den Düt, stellte den Topf auf die Bank, und ging seines Weges.


Kurz darauf, als der Durst mich wieder quälte, kroch ich zu der Bank, fand aber das Wasser zugefroren. Nun hatten wir alle Aussicht auf Rettung verloren. Es war nicht zu vermuten, daß irgend jemand sich mehr um uns bekümmern würde. Ließ man doch sogar die Verstorbenen liegen, die früher immer weggebracht worden waren So lagen wir drei Tage und Nächte bei den Toten, ohne daß ein menschlicher Fuß sich uns näherte. Doch ja, in einer dieser Nächte schlich jemand herein, aber nicht um uns beizustehen, sondern um mir die wollene Decke, meinen einzigen Schutz gegen die schreckliche Kälte, vom Leib zu reißen. So war ich also von Allem entblößt, und erwartete sehnsuchtsvoll den Tod In der Nacht, die dem dritten dieser Schreckenstage folgte, erblickten wir durch das Fenster den Schein eines Lichtes, und bald darauf trat ein Bauer mit einer Windfackel in die Stube und sah sich um. Wir dachten, man käme, uns den Garaus zu machen, aber der Bauer entfernte sich wieder und kam mit einem andern zurück. Einer packte meine Frau, der Andere den Bedienten auf, und trugen sie vor die Türe, wo wir gleich darauf einen Schlitten wegfahren hörten.

Unser Jammer überstieg allen Begriff. War Walburga gleich tot, so hatt’ ich sie doch in der Nähe, und dies gewährte mir einigen Trost. Jetzt war sie fort, auf ewig fort, für diese Welt nicht wiederzusehen. Wir weinten die ganze Nacht durch. Der Tag kam, aber keine Hilfe, kein menschliches Wesen kam mit ihm. Jetzt entschloß ich mich kurz. Herr Oberleutnant, sagte ich zu Baumgraz, verloren sind wir doch, ich will auf allen Vieren hinauskriechen, vielleicht finde ich jemanden, der sich meiner erbarmt, dann will ich auch sorgen, daß man Sie abholt. Ich nahm also meine ganze Kraft zusammen, und kroch auf Händen und Füßen zur Tür hinaus. Im Schnee herumtappend erblickte ich ein Gebäude, das an das unsrige stieß. Ich schleppte mich an die Tür und kroch hinein. Es war die Gesindestube des Edelhofs. Mehrere Bauern befanden sich eben darin, von denen einer mitten in der Stube Holz spaltete, was in Rußland nicht zu verwundern ist, wo auch das Vieh mit dem Menschen wohnt und zwischen der Lebensweise beider kein bedeutender Unterschied statt findet. Wie diese Barbaren mich erblickten, fingen sie an auf mich zu schimpfen, und wollten mich wieder hinauswerfen. Da trat eine Bauernfrau dazwischen und nahm sich meiner an. Ich durfte also, bleiben, und setzte mich auf den Haufen gehackten Holzes. Aber bald verlor ich das Bewußtsein, und sank ohnmächtig herunter. Ohne Zweifel hatte die plötzliche Wärme diese Wirkung hervorgebracht. Als ich wieder erwachte, lag ich oben auf dem Ofen. Die russischen Öfen haben ungefähr die Form der deutschen Backöfen, nur daß sie sehr groß, oben flach, und zu einer Liegestatt eingerichtet sind. Diesem Lager, auf das ich wahrscheinlich durch Vermittlung der menschenfreundlichen Bäuerin war hinaufgehoben worden, habe ich ohne Zweifel meine Rettung zu danken. Hier war es warm und traulich, ja oft nur zu warm, so daß ich es manchmal kaum aushalten konnte. Ich war gewohnt zu frieren, und nun mußte ich plötzlich eine Brathitze aushalten. Die Bäuerin reichte mir jetzt auch etwas warme Suppe, die mich unbeschreiblich labte. Ich dachte nun an den Oberleutnant Baumgraz und überlegte eben, wie ich auch ihm helfen möge, als plötzlich ein großer Lärm draußen entstand. Die Tür ging auf, und Baumgraz kam mit herzzerreißendem Jammer und Wehgeschrei auf Händen und Füßen hereingekrochen. Der Arme, der sich ebenfalls herausgerafft hatte, um dem Hungertode zu entgehen, litt bei jeder Bewegung die unsäglichsten Schmerzen, denn seine Zehen waren schon weggefault, und seine Fersen bereits von der Kälte bis zur Fäulnis angegriffen. Die Bauern, schon durch meine Gegenwart erbittert, gerieten nun völlig in Wut. Ohne mit dem schrecklichen Zustand des Offiziers das mindeste Mitleid zu fühlen, schickten sie sich an, ihn vor die Tür zu werfen. Aber meine Retterin, die edle Bauernfrau, wehrte aus aller Macht diesen Unmenschen und beschwichtigte sie. Aus ihren Händen erhielt auch dieser Unglückliche, gleich mir, eine warme Suppe. Gott lohne dieser wackern Frau, die bei uns den Glauben an eine Vorsehung und an die Menschheit noch aufrecht, erhielt. Der Oberleutnant legte sich nun auf die Erde beim Ofen hin. Wie gerne hatte ich ihn zu mir heraufgehoben, aber mir fehlte die Kraft, und von den Bauern war nichts zu erwarten. Doch war er noch erträglich daran, da sein guter langer Pelz ihn genugsam vor dem kühlen Erdboden schützte. Uns wurden, wie den Hunden, täglich die Überbleibsel der schlechten Kost dieser schmutzigen Menschen ausgeteilt, nämlich etwas Suppe, eine Krautbrühe, und ein wenig Brot. Des Essens konnten wir ziemlich entraten, denn wir hatten keinen Hunger, wohl aber einen heftigen Durst, den wir mit schlechtem Wasser löschten. Da wir nicht aufstehen und uns nicht von dem Lager wegbegeben konnten, so dringt sich die Frage auf, wie wir unsere natürlichen Bedürfnisse befriedigten Aber man erlasse mir die Beantwortung. Das Wohlanständigkeitsgefühl decke einen Schleier über diesen Teil unsers Elends. Einige Milderung meines Zustandes wurde mir durch einen Baschkiren, der sich zu mir auf den Ofen legte. Anfangs scheute ich mich vor diesem verwilderten Kerl, der in seinem blauen Überkleid, mit seinen winzigen Augen, großen Ohren und Glatzkopfe, unter der blauen spitzen Mütze, unheimlich genug aussah. Aber später lernte ich einsehen, daß es ein seelenguter Schlag war, was ich auch an den Baschkiren überhaupt wahrnahm. Mein Schlafkamerad war, wie ich später erfuhr, als Sauvegarde auf den Edelhof kommandiert und hatte sich meinen Ofen als Bette gewählt. Er bekam täglich eine Portion Reis mit einem Stück Fleisch und Brot, und teilte dies Essen gutherzig mit mir. Als ich eines Tages meine zerrissenen Beinkleider mit einer Nähnadel flickte, die ich noch von meiner Frau besaß, redete er etwas zu mir, das ich nicht verstehen konnte, und da diese rohen Menschen immer etwas Barsches in ihrem Ton haben, so wurde mir bange. Aber die Bauernfrau, die es zufällig gehört hatte, machte mir begreiflich, daß der Baschkir meine Nadel wolle. Ich gab sie ihm sogleich sammt dem Faden, und nun fing auch er an, seine Kleider zu flicken, und es sah possierlich aus, wie ungeschickt sich der arme Krieger dabei benahm. Auch war es drollig, daß der Kerl sehr redselig war, und sich alle ersinnliche Mühe gab, es dahin zu bringen, daß ich ihn verstehen sollte. Bei all meinem Elend zwang mir der gute Mensch oft ein Lächeln ab. Als er nach ein paar Tagen abzog, vermißte ich ihn sehr ungern. In diesem Zustande lagen wir ungefähr 5 oder 6 Tage. Genau weiß ich es nicht mehr, denn das Zeitmaß hatte ich ganz vergessen, und wußte kaum, daß wir im Januar 1813 lebten. Da trat eines Abends der Edelmann in das Zimmer, fragte nach dem Offizier, redete ihn in französischer Sprache an und erhielt eben so Antwort. Das Gespräch wurde noch lange fortgesetzt, Schnapps und Brot wurde gebracht, und der Edelmann reichte dem Offizier aus einer mit Silber beschlagenen Meermuschel zu trinken. Auch ich erhielt Schnapps und Brot. Während des Gespräches, von dem ich nur Einzelnes verstand, und den Zusammenhang nicht fassen konnte, saß der Edelmann auf der Erde neben dem Offizier, sah im aber nie recht gerade ins Gesicht, sondern schielte ihn nur seitwärts an, und warf zuweilen einen tückischen Blick nach mir hinauf. Endlich verließ er uns, und Baumgraz rief mir zu: Freuen Sie sich, Sergeant! Nun bekommen wir es gut. Wir bleiben hier, und erhalten täglich unser gutes Essen aus dem Edelhof. Der Edelmann hat mir das versprochen. Ach, Herr Oberleutnant, sagte ich, bauen Sie doch nicht auf die Zusage dieses falschen Menschen. Sie wissen, wie er uns behandelt. Sollte der plötzlich ein anderer Mensch geworden sein? Ich traue ihm nicht. — Die Folge bewies nur zu bald, wie gerecht mein Argwohn war. Kaum war der Tag angebrochen, als ein Kosak erschien, und uns das wohlbekannte: Marschier, Kamerad, zurief. Man denke sich unseren Schrecken. Wir machten dem Kosaken begreiflich, der Edelmann habe uns den Aufenthalt hier zugesagt, aber der Kosak schüttelte den Kopf und gab uns zu verstehen, wir würden im Städtchen untergebracht werden. Aber, bedeuteten wir ihm, wir können ja nicht marschieren. Da wies er uns zwei Schlitten, die draußen bespannt standen. Es half also nichts, wir mußten auf, und traten, unterstützt von dem Kosaken und einem Bauer den Weg vor die Tür hinaus an, wurden jeder in einen Schlitten gepackt, und so ging es rasch ins Städtchen Dochschütz hinunter. Wir konnten nicht anders denken, als daß man uns wenigstens ein erträgliches Quartier anweisen würde. Aber ach, wie täuschten wir uns! Wir hielten vor einem verlassenen Hause am Ende des Städtchens, wurden von den Schlitten heruntergehoben, und in einer elenden Stube abgesetzt, wo keine Fenster waren. Hier lag ein toter Russe, und zwei andere tödliche Kranke. So nahe sie dem Tode waren, so hatten sie doch ihren Grimm gegen uns nicht vergessen. Sie grinsten uns mit gefletschten Zähnen an, und murmelten Schimpfwörter gegen uns. Kurz darauf gaben sie beide den Geist auf. So lagen wir denn wieder auf dem Erdboden in der Kälte, bei den Toten. Indem wir unser neues Elend überdachten, wurden neue Gefangene, Bayern, Hessen und Franzosen hereingebracht, und die drei Toten hinausgeworfen, so daß wir im Ganzen, unser 16 teils Kranke teils Gesunde, in der Stube lagen.

Dieser Zuwachs erleichterte unsere hilflose Lage, da wir nun mehr Beistand hatten. Ich war schon so weit genesen, daß ich mühsam auf einen Stock gestützt, mich allmählich an das Gehen gewöhnte. Durch etwas Bewegung hoffte ich meine Gesundheit wiederherzustellen, aber leider dauerte es mit dem Gehen nicht lange. Die Füße fingen mir an zu schwellen, so daß mir die Schuhe zu eng wurden. Um nicht ganz barfuß bleiben zu müssen, schnitt ich das Oberleder auf, wiewohl die Lumpen, die ich um die Füße gewickelt hatte, mich nicht genug vor der Kälte schützen. Dennoch gab ich die Übung des Gehens nicht auf, sondern zwang mich täglich zur Bewegung. Mein Leidensgefährte, Oberleutnant Baumgraz, ließ sich von seinem neuen Bedienten, Namens Herzinger vom 4ten Linien-Infanterie-Regiment, auf dem Rücken herumtragen. Da sich bei mir allmählich der Appetit wieder einstellte, so ließ ich meinen noch übrigen bairischen Thaler wechseln, und Baumgrazens Bedienter kaufte Milch und Grütze und kochte für uns drei ein Gericht Brei. Welch herrliches Gastmahl, nachdem wir so lang, kaum satt Brot gehabt halten! Die übrigen Gefangenen gingen im Städtchen herum, und bettelten vor den Türen, um ihr armes Leben zu fristen. An diesem Jammerort brachten wir wieder 4 bis 5 Tage zu, da erschien ein Baschkir, und schrie: Marschier Kamerad! Wir stellten ihm vor, daß wir krank seien und nicht gehen konnten. Aber er gab uns zu verstehen, daß Schlitten für uns bereit ständen. Wir brachen also auf, und fanden auf der Straße l6 Schlitten, die uns erwarteten, alle mit Heu und Stroh reichlich versehen. Jeder Bauer nahm nun einen Mann in seinen Schlitten, und wir wurden in das Stroh und Heu so sorgfältig eingehüllt und bedeckt, wie Wickelkinder, denn es war schrecklich kalt. So verließen wir einen Ort, wo es uns über alle Beschreibung elend ergangen war, wo wir unerhörte Leiden erduldet, wo ich den härtesten Schlag dieses Erdenlebens erlitten, den Verlust meiner edlen unvergeßlichen Walburga, wo wir so, viele Kameraden blos durch die Unmenschlichkeit des Edelmannes tot zurückgelassen hatten. Wäre mir der Name des tückischen kalten Bösewichts, der die größte Schuld all dieses Jammers trägt, der sich einen Edelmann nannte, und keiner edlen Gesinnung fähig war, nicht entfallen, ich würde nicht anstehen, ihn der Verabscheuung jedes Menschlichgesinnten preis zu geben.