Kälte, Schnee, Regen und Diarrhoe

Kälte, Schnee, Regen und Diarrhoe

Wir bekamen Ordre, wieder nach Polozk ins Lager zurückzumarschieren, was uns in der üblen Lage, in der wir waren, sehr zu statten kam. Doch auch da ging es nicht viel besser. Der September war eingetreten. Kälte, Schnee und Regen stellten sich ein. Dies wirkte verderblich auf die Gesundheit der Mannschaft, die ohnehin schon von Entbehrungen und von der Diarrhoe gelitten. Schon bei unserm ersten Anmarsch auf Polozk zu war ich von dieser Krankheit befallen worden, jedoch nicht anhaltend, und da ich damals noch bei Kräften war, so überwand ich das Übel. Jetzt aber befiel es mich neuerdings und wurde fast unerträglich. Die Krämpfe im Unterleibe waren fürchterlich. Wenn man damals schon von einer Cholera etwas gewußt hätte, man würde diese schrecklichen Symptome dafür gehalten haben. Ich krümmte mich oft wie ein Wurm und schien dem Tode nah. Man denke sich solches Leiden ohne Arznei, aller Hilfsmittel beraubt, unter freiem Himmel, bei kalter und nasser Witterung! Meine Frau suchte Hilfe bei dem Regimentsarzt Schmidt, der aber selbst leidend darniederlag, und ihr nur den Rat geben konnte, mich so bald als möglich unter Dach zu bringen. Zur Aufnahme der Kranken war aber eine Kirche in Polozk eingerichtet worden, wo sie reihenweise lagen, und wo man ihnen einen braunen Trank aus Wermut reichte, der in der Gegend häufig wächst. Sonst gab es keine Arznei. Dieser Trank wurde jedem, seine Krankheit mochte den Namen haben wie sie wollte, eingegossen. Auch kamen von denen, die dahin gebracht wurden, nur wenige wieder zurück. Sie starben beinahe alle. In dieses Totengewölbe wollte ich mich nicht schaffen lassen, lieber wollte ich unter Gottes freiem Himmel sterben. Endlich fand meine Frau ein Hans in der Nähe der Stadt, wo bereits ein bayerischer Offizier krank lag. Dahin fuhr sie mich in ihrem Wägelein mit den 2 Pferden, die sie immer noch hatte. Nebst dem Offizier und mir lag noch ein Kranker, ein Gastwirtssohn aus Nürnberg, Namens Hannenberg, der an einer Nervenkrankheit litt. Er war im Dienst des Oberleutnants und Regiments-Adjutanten Baron von Pflummern, der ihn als einen sehr braven Mann meiner Frau zur Pflege empfahl, wofür er ihr Ersatz zu leisten versprach. Meine Frau tat ihr Möglichstes, allein sie wurde dessen bald überhoben, da Hannenberg, wie sie mir später erzählte, in der Fieberhitze Nachts im Hemde entlief, und, wie man später erfuhr, durch Wind und Wetter schreitend, in ein französisches Lager geriet, wo er in der Raserei starb. Unter Dach war ich nun, aber die schrecklichen Leibschmerzen und die Diarrhoe ließen nicht nach. Ich wurde schwach wie ein Kind, und mußte ganz so behandelt und gepflegt werden. Meine Frau, in unsäglicher Beängstigung, erwartete jeden Augenblick mein Ende. Aber die Vorsehung hatte es anders beschlossen. Der Bediente des kranken Offiziers hatte eine gute Quelle in der Gegend entdeckt, und verriet sie meiner Frau. Da mit meiner Krankheit der quälendste Durst verbunden war, so bat ich meine Frau, mich doch vor meinem Ende noch genug trinken zu lassen, dann wollte ich gern sterben. Wer den Durst kennt, diese schrecklichste aller Qualen, die weit ärger ist als der Hunger, der wird mir diesen Wunsch verzeihen. Uns Diarrhöe-Kranken war aber das Trinken von den Ärzten streng untersagt. Auch gab es kein anderes Wasser als aus der Düna, oder aus Sümpfen. Meine Frau erhörte meine Bitte und brachte mir 2 Bouteillen von dem guten Quellwasser. Sie erlaubte mir nur ein paar Schluck zu trinken. Aber sobald ich die Bouteille zwischen den Zähnen hatte, ließ ich sie nicht wieder los, bis sie gänzlich geleert war. Unbeschreiblich ist das Wonnegefühl, das mit diesem Wasser mich durchströmte. So! rief ich aus, indem ich meiner jammernden Frau die Bouteille zurückgab, nun bin ich satt! Nun mag der Tod kommen. — Aber er kam nicht. Das gute Wasser wirkte wie ein Heilmittel. Die Diarrhoe wurde seltener. Nun gewann ich wieder Lebensmut. Sobald sich der Durst wieder einstellte, trank ich auch die zweite Bouteille rein aus. Die Diarrhoe wich allmählich gänzlich und ich fühlte mich wie neugeboren. Nun trat aber ein neuer Umstand ein, der unserm Aufenthalt hier ein Ende machte. Es kamen plötzlich bayerische Soldaten, die aus dem Lager nach Brennholz kommandiert waren. Diese fingen an, die Häuser, die durchgehends hölzern sind, ohne Umstande zu demolieren. Dies geschah auch, trotz aller Einwendungen von unserer Seite, mit unserm Hause, wiewohl nebst uns auch ein kranker Offizier da lag. Wir können uns an nichts kehren, sagten die Soldaten, wir müssen Holz haben, sonst erfrieren wir im Lager. So war es auch, und da sich Niemand mehr in die Wälder wagen durfte, wo die Russen lauerten, so konnte man die Häuser nicht schonen. Zum Glück für mich kam die Nachricht, daß jeder Dienstunfähige, der noch gehen könne, sich zurück nach Dochschütz etwa 24 bis 30 Stunden hinter der Armee begeben möge, wo der Oberleutnant von Furtenbach Etappenkommandant war. Meine Frau packte mich auf unser Fuhrwerk. Leider mußten wir den kranken Offizier zurücklassen, und der Himmel weiß, was aus ihm geworden sein mag, als die Hütte völlig abgetragen war. Langsam bewegten wir uns, mit einem Transport von Mannschaft, wo jeder sich fortschleppte, so gut er konnte, zurück nach Dochschütz, wo wir nach 4 oder 5 Tagen ankamen. Ich hielt vor dem ersten Bauernhaufe und begehrte von der Bäuerin, gegen Bezahlung, Brot und Butter. Da hier Lebensmittel genug waren, die blos aus Mangel an Pferden der Armee nicht nachgefahren werden konnten, so bekam ich beides, wofür ich der Frau einen polnischen Gulden bezahlte. Ich hatte während meiner ganzen Krankheit nicht einen Bissen gegessen, und mein Hunger war jetzt so stark, daß ich trotz des Abmahnens meiner besorgten Frau den ganzen Laib Brot, der so groß war, wie ein Kommislaib, nebst der Butter auf einmal aufaß. Es schadete mir nicht im mindesten. Tags darauf fühlte ich mich ganz gesund und kräftig. Nun hatte ich auch schon keine Ruhe mehr. Ich sehnte mich zu meinem Regiment, und wär’ ich länger fern geblieben, ich würde mir vorgekommen sein, wie ein Deserteur. Wir machten uns also noch denselben Tag wieder auf den Weg nach Polozk. Aber zu meinem großen Erstaunen fanden wir das Regiment nicht mehr da. Die ganze Brigade des Generalmajors von Ströhl, bestehend aus dem 5.ten Regiment, wo ich stand, dem 11.ten Regiment und dem leichten Bataillon Gras Buttler, war nach dem Städtchen Disna aufgebrochen, das etwa 12 Stunden von Polozk auf einer Insel zwischen den Flüssen Düna und Drisa liegt. Es war noch bei guter Zeit, als wir in Polozk angekommen waren, und da sich noch ein Soldat zu uns gesellte, so machten wir uns alle drei sogleich auf den Weg, der Brigade zu folgen. Wir kamen in einen großen Wald, immer tiefer und tiefer hinein, bis uns die Nacht überfiel. Da trafen wir auf eine Schenke (dort Krug genannt) und ich beschloß, da zu übernachten. Das Haus war von allen Bewohnern verlassen und lag zur Hälfte in Trümmern, doch war noch Obdach genug für uns drei. Ich sagte zu meiner Frau und dem Soldaten, sie möchten Feuer machen und eine Suppe kochen, ich wollte mich indes in der Stube zur Ruhe legen, denn ich war sehr abgemattet. Ich trat hinein, stolperte ober gleich an der Schwelle im Dunkeln über einen Gegenstand, und indem ich zu Boden fiel, schlug ich mit der Hand einen Menschen ins Gesicht. Ich schrie, wer da! Keine Antwort, und Niemand regte sich. Nun rief ich dem Soldaten zu, er solle Licht bringen. Er kam, und welch’ ein Schreck! Die Stube lag voll toter Bayern. Der ganze Fußboden und alle Winkel waren mit Leichen bedeckt, die sich hier hingelegt zu haben schienen und vor Hunger, Elend und Müdigkeit verschmachtet waren. Ein Anblick, viel schauerlicher, als die Gefallenen in offener Schlacht. Auch in den übrigen Teilen des Hauses, die wir durchsuchten, lagen Tote zerstreut herum, so daß ich nicht bleiben wollte. Lieber, sagt’ ich, will ich im Wald unter freiem Himmel übernachten, als in diesen Gemächern des Todes. Wir zogen weiter, und ungefähr nach Verlauf einer Stunde erblickten wir fern durchs Gebüsch ein Licht. Wir gingen darauf zu und trafen auf einige Bauernhäuser. Wir klopften an eine Türe. Zwei große bärtige Männer traten heraus und fragten nach unserm Begehr. Da wir schon so viel vom Russischen uns angeeignet hatten, daß wir uns über Lebensmittel und Obdach begreiflich machen konnten, so gaben wir ihnen zu verstehen, daß wir bei ihnen übernachten wollten. Sie sperrten sich anfangs dagegen, bis wir ihnen Geld boten. Dann aber nahmen sie uns auf, aber auf ihren Gesichtern spiegelte sich etwas Unheimliches, das uns eben nicht erfreulich war. Sie sahen uns mit scheelem Blick an, steckten die Köpfe zusammen, und flüsterten als ob sie überlegten, was mit uns wohl anzufangen wäre. Wir waren freilich so vorsichtig gewesen, ihnen weiß zu machen, es folge uns ein Trupp Mannschaft auf dem Fuße, aber wir trauten doch nicht. Sie gingen bald hinaus, bald wieder herein, andere gesellten sich dazu, die auch ab und zu gingen und verdächtige Gesichter machten, so daß wir alle Ursache hatten, Argwohn zu schöpfen. Meine Frau hatte die Pferde in einer Scheune untergebracht. Beherzt, wie sie war, entschloß sie sich, die Nacht draußen auf ihrem Wagen, gleichsam als Schildwache, zuzubringen. Wir, der Soldat und ich, blieben in der Stube, wo wir durch die kleinen Fensterchen den Wagen draußen sehen konnten. Auch hielten wir unsere geladenen Gewehre immer bereit. So hatten wir zwar ein Obdach, aber keine Ruhe, denn wir konnten alle drei kein Auge zuthun. Unter immerwährenden Kämpfen zwischen Wachsamkeit und Müdigkeit graute endlich der Tag. Wir bekamen von den Bauern etwas Milch zum Frühstück, wofür wir ihnen ein paar kleine preußische Münzen gaben, die man Düt (Deut) nennt, brachen auf, und dankten Gott, als wir dieses verdächtige Haus im Rücken hatten. Wir erreichten sehr bald das Ende des Waldes, und gegen Abend kamen wir endlich nach Disna, wo wir das Regiment trafen. Ich meldete mich beim Hauptmann Vallate, da wir keinen Stabsoffizier beim Regiment mehr hatten. Später rückte Major Flad wohl ein, mußte sich aber bald krankheitshalber wieder zurückbegeben. Noch an demselben Tage, wo ich eingerückt war, ging die Brigade wieder über die Düna zurück und bezog ein Lager. So zogen wir noch mehrmals hinüber und herüber. Die Brigade hatte die Ordre, die Masse der Russen, die wohl doppelt so zahlreich war, aufzuhalten. Sie war also durch die Bewegungen der Russen zu diesen Manövers gezwungen. Bei dem nächtlichen Übergang über die Düna, die zwar nicht tief aber sehr reißend ist, stand ich große Angst um meine Frau aus, die in ihrem schwachen Wägelein bei Nacht und Nebel durch das Wasser mußte, während wir eine schlechte Brücke passierten, die kein Wagen befahren durfte. Eine Frau im Feld ist wohl in tausend Fällen eine große Hilfe für ihren Mann, und kann, wie es sich an mir bewies, seine Retterin und Erhalterin werden, aber unbeschreiblich ist dafür die Angst, die man oft um sie leidet; so wie auch ihre Sorge um den Mann unsäglich ist, besonders wenn es zum Treffen geht. Hätte meine Frau bei solchen Gelegenheiten in meiner Nähe weilen können, so wäre ihr wohl gewesen, denn sie scheute die Kugeln nicht, aber da sie ein Fuhrwerk hatte, das sie nicht verlassen konnte, und es keinem Wagen, als den Munitionswagen erlaubt ist, bei einem Treffen in der Nähe zu bleiben, so litt meine Frau oft unbeschreibliche Angst um mich.