In meinem dichten Bart trieb das Ungeziefer sein Unwesen

In meinem dichten Bart trieb das Ungeziefer sein Unwesen

Seit meinem Ausmarsch aus Nürnberg hatte ich kein Stück Montur mehr gefaßt, und die Hemden, die ich zu Kopolniki erhalten, waren mir bei der Gefangennehmung abgenommen worden. Mein körperlicher Zustand war nicht besser, als der meiner Kleider. Mein Gesicht war mit einem dichten Bart verwachsen, worin das Ungeziefer sein Wesen trieb. Mit meinen viertelszolllangen Nägeln hatte ich mir die Haut überall zerkratzt, so daß ich selbst im Gesicht ganz wund und blutrünstig war. So schleppten wir alle uns wie lebendige Bilder des Jammers und Elends herum. Oberleutnant Schindling war so zerlumpt, daß er die verborgensten Teile des Körpers kaum mehr bedecken konnte. Dieses Elend lichtete auch unsere Anzahl mit großer Schnelligkeit und täglich wurden 10 bis 15 Tote von den Bauern auf kleinen Wägelchen hinaus in die Wälder gefahren. Einst trieb uns die Neugier, nachzuspähen, wohin, unsere abgeschiedenen Leidensgefährten wohl gebracht würden. Wir folgten von ferne den Wagen, und waren nicht wenig entsetzt, als wir auf einem freien Platz tief im Walde einen hohen Haufen von Toten erblickten, die alle nackt ausgezogen waren. Ein schaudererregender Anblick. Alle, die den Winter über gestorben waren, lagen hier unbedeckt, und wurden erst im Frühjahr in große Gruben geworfen und notdürftig mit Erde bedeckt, so daß Ellenbogen, Hirnschalen, und Kniee oft noch aus der Erde hervorragten. — Die unglückliche Lage, in der wir uns befanden, besonders die elende Kost, brachte einen Polen auf den Einfall, ob nicht Flucht möglich wäre. Er beredete sich mit einem seiner Landsleute über die Art und Weise, wie, das auszuführen: wäre. Dann zogen sie mich, einen Sachsen, und einen in der Gegend von Wesel gebürtigen französischen Soldaten ins Vertrauen. Wir haben, sagten sie, eine russische Bauerfrau, eine Witwe, an der Hand, die uns wesentlich bei der Entweichung behilflich sein kann. Wir haben ihr weiß gemacht, wir seien die Söhne reicher Leute in Warschau, und unsere Eltern würden sie für ihre ganze Lebenszeit mit Geld und Gut versehen, wenn sie uns wohlbehalten nach Warschau brächte. Sie ist bereit, unsere Führerin zu sein. Wir wollen uns eines Abends unbemerkt wegschleichen, die Nächte durchmarschieren, uns am Tage versteckt halten, das Weib immer voraus auf Kundschaft und um Lebensmittel ausschicken, und so mit Gottes Hilfe Warschau erreichen. Sind wir erst da, so können wir uns leicht weiter helfen. — Diese Vorspieglung, so abenteuerlich sie war, fand Eingang bei uns, und das Bild der Freiheit verlockte uns. Unser Elend war so groß, daß wir nichts zu wagen glaubten, da wir nicht dachten, daß es noch größer werden könnte. Wir fassten den unsinnigen Entschluß, eine so ungeheure Strecke auf der Flucht zurückzulegen, und machten uns eines Abends, es war noch im März, wenn ich nicht irre, wirklich auf den Weg, und befolgten den entworfenen Plan, indem wir die Richtung von Borisof nahmen, von wo aus wir, nach Äußerung des Weibes, leichteres Spiel haben würden. Zwei Nächte waren wir so fortmarschiert, und zwei Tage hatten wir uns versteckt gehalten, als wir am dritten Abend am Saume eines Waldes nicht weit von Borisof anhielten. Da wir wußten; daß dort Militär lag, so wurde beschlossen, daß wir Deutsche hier zurückbleiben, die Polen aber, da sie der Sprache kundig und durch ihre grauen Kittel weniger kenntlich waren, mit dem Weibe vorausgehen, und erst ausspähen sollten, wo wir am sichersten uns hinzuwenden hätten, dann sollte das Weib uns abholen. Wir trennten uns also, aber wir sahen das Weib nie wieder. Wir warteten und warteten, und verloren endlich die Geduld. Nach ungefähr ein paar Stunden entschlossen wir uns, in derselben Richtung vorwärts zu gehen. Wir traten aus dem Wald, und als wir uns schon Borisof näherten, sahen wir fern im Dunkeln etwas auf uns zukommen. Wie erschraken wir, als wir erkannten, daß es ein Kosak war! Er ritt hart an uns, und fragte, ob wir Franzosen seien? Wir sind Deutsche, sagten wir. Darauf befahl er uns, ihm zu folgen, und trieb uns nach Borisof in eine Wachtstube, wo wir die Nacht in großer Herzensangst zubrachten. Am andern Morgen führte man uns vor den Kommandanten. Wer seid ihr? fragte dieser in deutscher Sprache. Wir sind Deutsche, sagten wir.—Wo kommt ihr her? — Von Galopinitz. Warum seid ihr hier? — Ach, sagte ich, wir wollen es gern gestehen, wir hatten es in Galopinitz so übel, daß wir diesem Elend entgehen wollten. Ihr wolltet also desertieren? sagte er. Ihr wolltet wieder zu eurem Napoleon zurückkehren, um aufs Neue auf uns loszuschlagen? Ich werde Jedem von euch 50 Kantschuhiebe geben lassen. Ach, sagte ich, wir sind so elend, daß wir diese Strafe nicht aushalten würden. Seien Sie also barmherzig und erlassen Sie uns diese Marter. Gut, sagte er, weil ihr Deutsche seid, so will ich euch verzeihen. Nehmet euch aber in acht, denn fallt ihr mir zum zweitenmal auf diese Art in die Hände, dann weh euch! Er rief nun einen Kosaken und gab ihm Befehl, uns wieder zurück nach Galopinitz zu transportieren. So traten wir, ohne Schläge, aber auch ohne die mindeste Labung erhalten zu haben, den Rückweg wieder an, mit der Angst, wie uns der Kommissär aufnehmen würde. Die beiden Polen und das Weib sahen wir nicht mehr, und erst später, als wir ausgewechselt wurden, erfuhr ich auf dem Rückweg, daß diese drei glücklich bis Warschau gekommen, dort aber doch aufgefangen worden waren. Als wir nach zwei - oder dreitägigem Marsch wieder in Galopinitz anlangten, befand sich eben der Kommissär vor dem Magazin, mit Verteilung beschäftigt. Er erblickte uns von Weitem, merkte gleich den Zusammenhang und drohte uns mit dem Finger. Als wir herangekommen waren, rief er auf deutsch (denn er konnte alle Sprachen und redete mit jedem Gefangenen dessen Landessprache): Ihr wolltet entlaufen, ihr Schelme. Ich werde euch tüchtig karbatschen lassen. Wir stellten ihm unsern Jammer vor, und baten ihn um Erlassung der Strafe. Es war ihm aber damit ohnehin nicht Ernst gewesen. Er vermahnte uns wie der Kommandant von Borisof, künftig klüger zu sein, und reichte uns gleich unsere Portion Brot und Grütze. Wer war froher als wir! Wir konnten von Glück sagen, unter so barbarischen Menschen, die uns oft unschuldig misshandelten, bei einem wirklichen Vergehen mit dem Schrecken davon gekommen zu sein.


Ich kehrte wieder zu meinen beiden biedern Württembergern zurück, die mich wie Brüder aufnahmen. Unsere Beschäftigung war wieder, wie sonst, Spazierengehen und, das Reinigen vom Ungeziefer. Durch die ganze Stufenleiter des Elends war ich gegangen, nur eins fehlte noch, der Aussatz. Auch dieser stellte sich nun bei mir ein. Zwar war er nicht von gefährlicher Art, doch bei den andern Plagen von Wanzen, Schwaben und Läusen eine sehr unwillkommene Steigerung des Elends.

Es war im Anfang des Sommers, als der Befehl kam, daß wir weiter nach Czernikof transportiert werden sollten. Am Tage unsers Abmarsches äußerte der Kommissär, wir könnten von Glück sagen, daß wir noch lebten, denn von 5.000 Gefangenen die hier waren seien nur noch 180 Mann übrig, und unter diesen etwa 18 bis 20 Offiziere. Nun war uns der ungeheure Haufen von Toten, die wir im Walde gesehen, noch begreiflicher. Unser Zug bestand aus allen möglichen Nationen, Franzofen, Italienern, Deutschen aller Länder, Polen, Schweizern, Portugiesen, Dalmatinern usw. Auch waren 2 Österreicher dabei. Wir wurden unter Kommando eines Kommissärs, von 20 Kreuzbauern eskortiert, die alle steinalt, und mit sechs Fuß langen jungen Bäumen bewaffnet waren, woran sie die Wurzeln zu einem Knollen zu gestutzt hatten. Sie kamen mir mit ihren langen Bärten und diesen Knitteln vor, wie der große Christoph. Einen ganzen Monat lang brachten wir auf diesem Marsche zu und gingen manchen Tag von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang, ohne ein Haus anzutreffen, weshalb die Lebensmittel uns nachgefahren wurden. Mein Ausschlag nahm so überhand, und das dadurch verursachte Kratzen mit meinen scharfen Nägeln wurde so heftig, daß sich eine Kruste über meinen ganzen Körper verbreitete. Das Hemd, immer noch dasselbe, in dem ich Nürnberg verlassen hatte, klebte mir am Leibe und ich bekam eine solche Lazarusgestalt, daß man sich endlich erbarmte und mich auf einen Wagen legte. Dies war eine große Erleichterung in meinem Zustand. Eines Tages entstand zwischen unserm Kommissär und einem gefangenen französischen Major, Namens Fournier, der Lebensmittel wegen ein heftiger Streit, der beinahe einen tragischen Ausgang genommen hätte. Der Kommissär beging nämlich bei Verabreichung der Portionen allerhand Unterschleife und Betrügereien, wie denn überhaupt in dem russischen Beamtwesen Veruntreuungen aller Art hergebracht und ein Raubsystem gleichsam organisiert ist, dessen Opfer besonders wir arme Gefangene waren. Der Major widersetzte sich dem Kommissär, indem er die gute Sache der Gefangenen führte. Der Kommissär rechtfertigte sich auf russische Weise, indem er den Major ins Gesicht schlug. Dieser versetzte dem Russen auf französische Weise mit dem spanischen Rohr einen Fechterhieb über den Kopf, daß gleich das Blut floß, und Gott weiß wie der Kampf geendet haben würde, wenn die andern gefangenen Offiziere nicht dazwischen getreten wären. Wir würden den Major nicht im Stich gelassen haben, und so schwach und abgemattet wir waren, so würden wir doch mit dem Kommissär und seinen 20 Invaliden, die gar keine Kampflust bezeigten, bald fertig geworden sein. Doch war es besser, denn wenn wir sie auch alle erschlagen hätten, was hätt’ es uns genützt? Entfliehen konnten wir nicht aus einem Lande das auf 500 Stunden in die Runde ein einziges großes Gefängnis war.