Die Hungersnot wurde immer schlimmer

Die Hungersnot wurde immer schlimmer

Die Hungersnot stieg bei uns immer höher. Unzählige Mal ließen die Offiziere den Edelmann um Brot bitten, aber er wiederholte nur immer sein altes Spiel, versprach immer, wir würden welches erhalten, aber es kam keines. So ließ dieser Unmensch uns planmäßig hungern, um uns aufzureiben, und mancher hätte gerettet werden können, wenn er nur einen Bissen Brot bekommen hätte. Später erfuhren wir, daß Kaiser Alexander jedem gefangenen Offizier eine gewisse Summe täglich ausgesetzt hatte, den Stabsoffizieren einen Rubel Papier, vom Hauptmann abwärts einen halben Rubel, vom Feldwebel abwärts 15 Kopeken. Aber wir erhielten nichts. Der Bösewicht veruntreute alle diese Beträge und ließ uns kaltblütig verschmachten. Meine Frau war hier ein wahrer Rettungsengel, denn da die Bedienten, wenn sie auch mit Geld nach Lebensmitteln geschickt wurden, sich nicht durften sehen lassen, ohne Gefahr zu laufen, angehalten und ausgeplündert zu werden, so übernahm Walburga meistens dies Geschäft, und verrichtete es mit Glück, denn die Russen kümmerten sich nicht um die Weibspersonen und ließen sie ungehindert herumgehen. Auch war meine Frau, wie schon mehrmals gesagt, so unerschrocken, daß sie sich nicht leicht von einer Gefahr zurückschrecken oder einschüchtern ließ. Als es eines Tages hieß, Kaiser Alexander käme durch Dochschütz, faßte sie den festen Entschluß, sich an ihn zu drängen, es koste wag es wolle, ihm unser Elend vorzutragen, Gerechtigkeit zu verlangen, und um Erlaubnis zur Rückkehr ins Vaterland zu bitten. Ich bin fest überzeugt, daß sie diesen Vorsatz mit Erfolg ausgeführt haben würde, wenn das Gerücht von des Kaisers Durchreise sich bewahrt hätte. Sie erfuhr aber durch einige durchmarschierende russische Offiziere, die sie in Dochschütz sprach, daß der Kaiser eine andere Route eingeschlagen habe. Ihr herzhaftes Wesen und die Freimütigkeit, mit der sie diesen Offizieren, die deutsch verstanden, ihren Entschluß, den Kaiser zu sprechen mitteilte, gefiel diesen Herren so sehr, daß sie Geld für sie zusammenschossen und ihr auch die ganze Schürze mit Brot anfüllten, das wir uns herrlich schmecken ließen. Meine starke unverdorbene Natur rettete mich allmählich, ich fing an zu genesen, und wurde täglich besser, nur aufrecht konnt’ ich mich noch nicht erhalten. Um uns die ewiglangen Winterabende zu verkürzen, erzählten wir uns wechselweise, was wir in dem Feldzuge erlebt und erlitten hatten. Eines Abends erzählte eben der westphälische Offizier von dem unglücklichen Rückzug über die Beresina, den er selbst mitgemacht hatte. Er schilderte lebhaft die Schreckensszenen, deren Augenzeuge er war. In Wilna, sagte er, seien wohl hunderttausend Gefangene von allen Nationen und Waffen beisammen gewesen. Auf allen Straßen und auf dem freien Felde lagen sie bei grimmiger Kalte. Die Hungersnot war bei ihnen so hoch gestiegen, daß sie den Toten das Fleisch aus den Waden und aus dem Hinterteil schnitten, es an einen Spann steckten, am Feuer brieten, und mit Gierde aufzehrten, lange ehe es noch gar gebraten war. — Wir schauderten, und als wir eben unserm Abscheu hierüber Worte gaben, taumelten zwei Russen, Arm in Arm, singend und jauchzend herein, als wären sie betrunken, Sie stellten sich aber nur so, was uns sehr bald klar wurde. Denn plötzlich fuhr der eine auf den Mantelsack des Leutnants Baron Asch wie ein Blitzstrahl zu, riß ihn an sich und im Nu waren sie beide vor der Türe. Die Bedienten, die selbst alle kränklich und schwach waren, konnten nicht schnell genug nachsetzen, und als sie hinaus kamen, waren die Diebe verschwunden. Dem Baron Asch war dieser Verlust sehr empfindlich. Alle seine Habseligkeiten waren in dem Mantelsack und unglücklicherweise hatte er noch kurz vorher seine Pantalons, um sie zu schonen, noch dazu hineingepackt, und sich in der warmen Stube mit den Unterbeinkleidern begnügt. Es war ihm also nichts zu seiner Bedeckung geblieben, als diese schon sehr zerrissenen Unterhosen, das Hemd, und ein Uniformfrack, der glücklicherweise an einem Haken an der Wand hing. Der Leutnant Kramer hatte mir ein Paar Tage vorher schöne grüne Pantalons geschenkt, da meine Hose so sehr zerrissen war. Um diese Pantalons bat mich jetzt der Beraubte, und wie konnte ich sie ihm versagen? Ich hatte doch noch Beinkleider, er aber war ganz entblößt. Dieser Raub gab uns noch lange Stoff zum Gespräch, bis ein trauriger Fall sich ereignete. Leutnant Kramer fing an über Unwohlsein zu klagen, wurde immer kränker, verlor bald die Besinnung und phantasierte Tag und Nacht, wobei er häufig das Dorf Zeswirsch (bei Kopolniki) nannte, wo wir eine Zeit lang gelegen hatten. Mit diesen Worten auf den Lippen gab dieser brave Offizier den Geist auf. Ihm wurde nun, wie es bei allen Verstorbenen der Fall war, die besten Sachen von seinem Bedienten abgenommen, und die Leiche vor die Türe gebracht. Wieder einer weniger, ging die Rede unter uns, und Jeder erwartete mit hoffnungsloser Kaltblütigkeit, daß die Reihe nun auch bald an ihn kommen würde. Auch ich war darauf gefaßt. Ach, ich ahnte noch nicht, daß ich zu einem weit größeren Unglück aufgehoben war. Meine Walburga, die bis jetzt, trotz aller Drangsale und Mühseligkeiten, ununterbrochen gesund und rüstig geblieben war, verließ nun plötzlich die Kraft. Sie fing an zu kränkeln, verlor endlich, wie Leutnant Kramer die Besinnung, und phantasierte und schrie, wie er. Mitten in der Nacht stand sie auf, packle zusammen, und wollte fort, so daß wir sie mit Gewalt zurückhatten mußten. Es war deutlich, daß ein Nervenfieber sie ergriffen hatte. Des andern Tages erschien ein Kosak und rief uns den gewöhnlichen Morgengruß zu: Marschier, Kamarad! Das hieß so viel, als wer noch aufstehen kann, soll weiter transportiert werden. Nur wenige vermochten es, nämlich: Hauptmann Nägel, Lieutenant v. Asch, Oberleutnant v. Schindling, und der westphälische Offizier. Oberleutnant Baumgraz, der krank war und erfrorne Füße hatte, sein Bedienter, ich und meine Frau, wir konnten nicht fort. Mit schwerem Herzen nahmen die Offiziere von uns Abschied, denn sie wußten nicht, welchen neuen Übeln sie entgegen gingen. Der Zustand meiner Frau verschlimmerte sich stündlich, und meine Angst und Sorge wurden immer größer. Abends wurde sie still, und als es schon ganz dunkel war, begehrte sie, daß man ihr aufhelfen möchte. Ich vermocht’ es allein nicht, denn ich war zu schwach aufzustehen. Ich bat den Bedienten des Oberleutnants, mir behilflich zu sein. Er richtete sich empor, und ich half knieend, so viel ich konnte. Plötzlich neigte Walburga den Kopf gegen mich zu, und ließ ihn sinken.