Die Wahl des Magisters Joachim Slüter zum Prediger an der St. Petrikirche in Rostock

Solch ein Zusammenströmen von Menschen jeden Alters und Geschlechtes, wie am Morgen des Sonntags Lätare im Jahre 1525, war auf dem freien geräumigen Platz vor der Kirche St. Petri in der wohlbekannten und geehrten Hansastadt Rostock noch niemals vorgekommen. Zwar fehlte es in jener Zeit nicht an gar mannigfachem Zusammenlaufen des Volkes, denn ein kühnes, trotziges, zu Raufhändeln jeder Art nur zu leicht geneigtes Geschlecht bewohnte die Stadt und ihre alte Chronik ist fast nur zu reich teils an Zwistigkeiten der Bürger unter sich, teils an kürzeren oder längeren, häufig viel Blut auf beiden Seiten kostenden Fehden mit den Herzögen von Mecklenburg. Wollte Rostock bis auf die jüngste Zeit herab deren Herrschaft doch nie in dem gleichen Maße, wie sie die übrigen Städte der mecklenburgischen Herzogtümer tragen mussten, anerkennen und suchte stets sich, so viel als nur möglich, dagegen aufzulehnen. Kaum ein halbes Menschenalter war damals vergangen, seit der mehrjährige blutige Kampf, den Rostock mit so großer Kühnheit gegen den Herzog Magnus von Mecklenburg führte und wobei der Bischof von Schwerin sogar sich gemüßigt fand, den großen Kirchenbann gegen die seiner geistlichen Macht spottende Stadt zu verhängen, im Jahre 1491 durch einen Vergleich beendet wurde. Das heutige Zusammenströmen der Menschen vor der hochtürmigen Kirche zu St. Petri schien jedoch ziemlich friedlicher Art zu sein. Zwar trugen nach der stolzen Sitte jener Zeit alle ansässigen Bürger ihr gerades Schwert in oft sehr zierlich ausgearbeiteter Lederscheide am breiten Leibgurt um die Hüfte und waren somit jeden Augenblick zur blutigen Rauferei gerüstet wie auch oft gerne bereit, allein das weibliche Geschlecht war doch diesmal unter dieser hier versammelten Volksmasse den Männern an Zahl weit überlegen; ein deutlicher Beweis, dass keine wilde Fehde, welche die Weiber von den Straßen in die Häuser scheuchte, sobald zu befürchten war. Sonst freilich schien es an heftiger Aufregung und gegenseitiger Zwistigkeit nicht zu fehlen. Schon äußerlich getrennt, schienen zwei sich mit vieler Schroffheit feindlich gesinnte Parteien gegenüber zu stehen, denn Alle, welche rechts von der Kirche auf dem weiten Altmarkt standen, äußerten ganz andere Ansichten, Wünsche und Neigungen, als Diejenigen, welche sich links befanden, mit oft ziemlich lautem Geschrei kundgaben.

Es war eine Predigerwahl, welche die Gemeinde der Kirche zu St. Petri an dem heutigen Sonntage vornehmen wollte, wodurch diese große Versammlung hier jetzt veranlasst wurde. Aus allen Kirchspielen der Stadt, von der St. Nicolai, von St. Marien, der St. Jacobi und St. Michaelskirche her waren viele Menschen jetzt hier zusammengeströmt, um ja so schnell als möglich das Ergebnis der Wahl zu erfahren, solche Bedeutung legte man ihr allgemein bei. Die St. Petrikirche selbst war, bis auf den letzten Raum, Kopf an Kopf, angefüllt, denn wer als Angehöriger der Gemeinde ein Recht zum Eintritt darin besaß, der hatte bei, dieser Gelegenheit sicherlich Gebrauch davon gemacht. Selbst kranke Frauen hatten sich, in warme Decken gepackt, schon am frühen Morgen in ihre Chorstühle tragen lassen und Greise, die vor Altersschwäche oder Gebrechlichkeit nicht allein mehr gehen konnten, waren am Arm ihrer Angehörigen mit zitternden Schritten diesmal in die Kirche gewankt. Wer freilich aus den fremden Kirchspielen kein Recht zum Eintritt ins Gotteshaus besaß, der musste sich schon damit begnügen, draußen auf dem Platze davor sich aufzuhalten, und so war dieser denn so ungewöhnlich angefüllt. Zwar fegte der Wind von der Warnow her oft mit gar heftigen Stößen über den Raum und schwere Regen- und Hagelschauer prasselten mitunter auf die Köpfe der Harrenden darnieder. Doch solch raues Frühlingswetter ist man ja am deutschen Ostseestrande von jeher gewohnt gewesen und waren die Bewohner jener Gegend außerdem damals noch viel zu abgehärtet, um sich aus der Ungunst der Witterung viel zu machen.


Waren nun die beiden Volkshaufen, die rechts oder links durch eine ziemlich breite Gasse von einander getrennt standen, an Zahl ungefähr gleich, so unterschieden sie sich doch sonst in ihrem Äußern recht merklich von einander. Aus den Köpfen der Männer, die sich zur Rechten hielten, sah man häufig zierliche Baretts von Samt und Seide oder auch die runden Kappen von Tuch oder Leder waren kunstvoll gesteppt oder mit Borten von kostbarem Pelzwerk verbrämt, wie auch die Mieder und Röcke der Frauen häufig mit edlem Rauchwerk oder schwerem Samt verziert waren. Die auf der linken Seite schienen ihrer gröberen Kleidung nach schon mehr darauf eingerichtet zu sein, solchem Unwetter zu trotzen, und so erscholl aus ihrer Mitte oft ein höhnisches Gelächter oder derbes Spottwort, wenn eine oder die andere gar so vornehm geputzte Frau oder ein zierliches Herrlein mit kurzem Samtmantel und engen, grellfarbigen Strumpfhosen, die oben an der Hüfte mit bunten Seidenpüffen noch aufgebauscht waren, vor einem so recht heftigen Regenguss eiligst in den nächsten Häusern Schutz suchten.

Während rechts die Angehörigen der meisten Geschlechter der Stadt und mehrere angesehene Rats- und reiche Kaufherren sehr zahlreich vertreten zu sein schienen, sah man links mehr gewöhnliche Handwerker mit ihren Ehehälften, dann auch viele Seefahrer, Schiffszimmerleute von den großen Schiffswerften und Bäcker und Fleischerknechte, obgleich auch manch wohlhäbiger Zunftmeister hier, zum sichtbaren Ärger der Rechtsstehenden, seinen Platz genommen hatte. Auch von den Studenten der weit berühmten Hochschule in Rostock hatte ein ziemlich ansehnlicher Haufe sich in der ersten vorderen Reihe links aufgestellt, doch schienen dies, wenigstens dem äußeren Anscheine nach, meist solche zu sein, die nicht mit allzu reichlichen Glücksgütern gesegnet waren. Schwarze, oft schon etwas zerknitterte und mitgenommene Baretts von vierkantiger Form auf dem, in langen Locken bis auf die Schultern darniederwallenden Haar, ein kurzes Wams von grobem Tuch, an den Ärmeln aufgepufft; dazu in der Regel hohe Stiefel von ungeschwärztem Wildleder, weite Pluderhosen und der niemals fehlende lange spitze Stoßdegen in schwarzer Lederscheide, bildeten gewöhnlich den Anzug dieser Studenten. Gar manche wilde trotzig Gesellen, oft schon über das erste Jünglingsalter hinaus, befanden sich darunter und man sah es ihnen schon äußerlich an, dass sie lieber den Raufdegen in der kräftigen Faust führten, als sich die Köpfe mit dem Corpus juris oder einem andern in weißes Schweinsleder eingebundenen, dicken Folianten allzusehr zu plagen. Aus der Menge dieser langbärtigen Studenten erscholl gewöhnlich auch das lauteste Hohngeschrei, wie sie sich denn überhaupt die lange Zeit des Wartens und Harrens mit mancherlei, gewöhnlich nicht gerade sehr feinen Späßen und derben Neckereien, zu verkürzen suchten.

Aber auch unter der gegenüberstehenden Zuschauermasse befanden sich mehrere Studenten, obgleich doch in bedeutend geringerer Zahl als links. Der Anzug dieser war in der Regel feiner und weit reicher mit Samt und Seide und vielfarbigen Puffen verziert, als der ihrer linksstehenden Kommilitonen. Auf ihren häufig rund aufgeschlagenen Hüten von feinem Filz prangte mitunter sogar eine mächtige, rot oder gelb gefärbte Straußenfeder, dazumals die neueste, aber sehr kostbare Mode, die sich aus den reichen italienischen Handelsstädten bis an die Ostsee verbreitet hatte. Auch sogar einige kurze Samtmäntel, reich besetzt und mit bunter Seide gefüttert, wie solche der junge Kaiser Karl V. aus Hispanien bei den reichen Edelleuten in Deutschland einzuführen anfing, sah man hier. Mächtige Sporen von Silber, oft in kunstreich getriebener Arbeit rasselten an den, von feinem Sämischleder gefertigten, sauber gesteppten Reiterstiefeln, während die langen Stoßdegen mit oft sehr geschmackvoll ziselierten Stahlkörben, die an buntgesticktem, breitem Wehrgehänge getragen wurden, auf dem Pflaster klirrten. Diese so vornehmen, reichgeputzten Studenten waren meist adlige Junker aus Mecklenburg oder über der Elbe her aus dem Hannöverschen, die sich häufig einige Jahre in Rostock, angeblich um zu studieren, aufzuhalten pflegten. Es befanden sich jedoch auch einzelne Söhne reicher Handelsherrn aus den Hansastädten, welche den kurzweiligen Aufenthalt auf der Hochschule der langweiligen Arbeit in den väterlichen Schreibstuben vorzuziehen schienen, darunter.

Ein nichts weniger als gutes Einvernehmen schien aber zwischen diesen sich gegenüberstehenden Studenten zu herrschen. Spöttische Ausrufungen und höhnische Worte wurden hin und her gewechselt, denen dann häufig eine lautgerufene und gern angenommene Anforderung zur blutigen Rauferei folgte. Ja Einige der Heftigsten schienen sogar mitunter Lust zu haben, ihrem Groll auf der Stelle Luft zu machen, denn man sah sogar schon entblößte Klingen blitzen und nur mit Mühe konnten die Ruhigeren ihre aufgeregten Kommilitonen von solch wilder Rauflust abhalten.

Es wäre überhaupt wohl von der überaus bewegten Volksmenge auf beiden Seiten des Platzes sehr leicht zu wirklichen Kämpfen gekommen, wenn nicht der wohlweise Rat der Stadt die kluge Vorsicht gebraucht hätte, eine starke Abteilung der Scharwache unter einem bewährten Rottmeister dahin zu senden. Altgediente Söldner, oft aus den verschiedensten Ländern, die aus dem Waffenhandwerk ihren Lebensberuf gemacht und in schon gar manchen Fehden mitgefochten hatten, bis sie jetzt in den Dienst der Stadt getreten waren, bildeten den Kern dieser Scharwache. Hatten Manche darunter doch schon unter den deutschen Landsknechten in Welschland gefochten, während Andere im Dienst der edlen Republik Venetia auf Morea gegen die Türken gekämpft. Auf ihrem oft etwas wirren ungepflegten Haupthaar trugen diese alten Soldknechte eine niedere Pickelhaube von starkem Eisenblech, deren viele Buckeln und Beulen zeigten, dass sie schon manchen wuchtigen Hieben hatten Trotz bieten müssen, über das kurze Wams von grobem Tuch oder häufig auch braunem Leder, was durch vieljährigen Gebrauch mitunter jedoch schon längst fast jegliche Farbe verloren hatte, war ein starker Brustpanzer von festgeschmiedeten Eisenplatten geschnallt, und weite Pluderhosen von grobem Tuche reichten bis an das Knie, von wo strammgezogene gestrickte Strümpfe von grauer Wolle bis in die sehr breiten Schuhe von derbem Rindsleder mit mächtigen Zinnschnallen liefen. Um die Hüften war ein breiter Flamberger, der oft schon gar manchen blutigen Hieb geschlagen haben mochte, geschnallt, während die kräftigen Fäuste eine wuchtige Hellebarde an langem Stiel, oben am Schaft mit zwei wollenen Büscheln in den Rostocker Stadtfarben verziert, umspannten. Unbekümmert um alles wüste Geschrei und Höhnen aus dem Volkshaufen, was besonders auch eifrig von den Seefahrern, mit denen die Scharwächter in alttraditionellem stetem Hader lebten, ausging, standen diese bewährten Söldner fest auf den Plätzen, die ihnen ihr Rottmeister angewiesen hatte. Nach dem damaligen Gebrauch aller Landsknechte hatten sie mit weitaus gespreizten Füßen Position gefasst, vorne den auf den Boden gestützten starken Eichenschaft der Hellebarde mit breiten Fäusten umfassend und so schon im Stande, einem etwaigen Anprall festen Widerstand zu leisten. Gegen alle Worte schienen sie gänzlich unempfindlich zu sein, versuchte aber ein allzu Vorwitziger, einen solchen Scharwächter zu stoßen oder gar die in der Mitte des Platzes freigehaltene breite Gasse betreten zu wollen, so erhielt er einen so unsanften Stoß mit dem Schaft der Hellebarde, dass er von solchem frechen Beginnen sehr bald wieder abstand.

In der Mitte der von diesen Scharwächtern mit Mühe freigehaltenen Gasse zwischen den beiden feindlichen Volkshaufen stand ihr in der ganzen Stadt vielgefürchteter und ebenso gehasster Rottmeister. Es war schon ein alter Graukopf, über dessen von Wind und Wetter, vielleicht auch wohl von nicht allzu mäßigem Genuss geistiger Getränke stark gerötetes Gesicht sich der Kreuz und Quere mehrere breite Schmarren und hoch aufgeschwollene Narben als sichtbare Zeichen mancher heiß bestandenen Kämpfe hinzogen. In dem Dienst der Stadt stand der Rottmeister Horwath, ein geborner Böhme aus der Podiebrader Gegend, wohl schon über ein Dutzend Jahre und hatte sich in dieser Zeit den allgemeinen Ruf eines tollkühnverwegenen und sehr diensteifrigen, dabei aber auch rohen, harten, heimtückischen und zu jeder Gewalttat geneigten Menschen erworben. Nicht sehr groß, aber ungemein stark gebaut, mit breiter Brust und einem fast stierähnlichen Nacken, besaß er eine beinah übernatürliche Körperstärke und hatte mehr als einmal den kräftigsten Matrosen im Faust- oder Ringkampf besiegt. Dabei war der Alte, der mit seinem braunen Gesicht, über welches das grauweiße Haupthaar und ein ebenso farbiger Schnauz- und Zottelbart wild herabhing, bei Tag und Nacht im Dienst unermüdlich und von allen wilden Strolchen und bösen Raubgesellen, und es gab deren damals eine nur zu große Menge in den Mauern der Stadt, nicht wenig gefürchtet. Selbst einige verkommene Strauchjunker von dem in der Umgegend Rostocks sehr zahlreich sesshaften Landadel, die häufig aus Raublust oder höhnendem Übermut böse Händel mit den Stadtbürgern anzufangen versuchten, hatten die Kraft seines Armes und die wuchtigen Hiebe seines scharfen Schwertes schon zu ihrem Nachteil empfinden müssen.

Freilich wusste der Volksmund auch dabei dem alten Rottmeister Horwath manch schlimme Geschichten von seiner Rachlust, Habgierde und bösen Grausamkeit gegen seine Feinde nachzusagen. Ging doch in einigen Volkskreisen sogar die Sage, der verfluchte Böhmacke habe seine Seele dem Teufel verschrieben und dafür die Gabe erhalten, sich hieb- und stichfest und unsichtbar zu machen. Er könne deshalb auch nur mit einer aus reinem Silber gegossenen Kugel erschossen oder mit einem aus dem Pfosten eines Galgens geschnittenen Knittel erschlagen werden.

Außerdem war aber Rottmeister Horwath ein fanatischer Katholik, der es gewiss nicht versäumte, täglich die heilige Messe zu hören, und dabei auch sonst ein sehr fleißiger Besucher des Dominikaner-Klosters zu St. Johannie. Freilich wollten Manche wissen, dass die guten Speisen im Refektorium und der kühle Trunk aus dem Mutterfässchen im Keller, mit denen der Pater Kellermeister nicht karge, ebenso vielen, ja vielleicht noch größeren Anteil an diesen so häufigen Besuchen im Kloster hätten, als die geistlichen Reden und die religiösen Übungen der frommen Mönche selbst. Sei dem nun wie ihm wolle, so viel war gewiss, dass der Rottmeister Horwath nicht allein mit diesen Mönchen, sondern auch mit allen geistlichen Herren und den Häuptern der streng katholischen Partei in der Stadt, und der größte Teil aller Ratsherren gehörte bis jetzt noch hierzu, — in dem allerbesten Einvernehmen stand. Außer dass er ihnen alle möglichen öffentlichen wie geheimen Dienste leistete, waren sie seine gewichtigen Beschützer, wenn sich die Klagen gegen ihn wegen begangener Gewalttätigkeiten allzu sehr häuften. Trug er doch, schon um sich auch äußerlich als ein besonderer Anhänger der katholischen Kirche zu zeigen, einen langen Rosenkranz von in St. Loretto geweihten Ebenholzkugeln um den Hals, dessen Ende bis auf den blanken Brustpanzer von Stahl darnieder hing.

Auch an diesem Morgen bei der Volksversammlung auf dem Altmarkte vor der Kirche zu St. Petri konnte man deutlich bemerken, dass der Rottmeister Horwath ein besonderer Anhänger der katholischen Partei, die sich rechts aufgestellt hatte, sein musste. So roh und rücksichtslos er sich auch oft gegen die links Stehenden benahm und solche mit groben Fluchworten oder, half dies nicht, mit den Hellebarden seiner Untergebenen Zurückzutreiben suchte, so aufmerksam, ja selbst mitunter sogar von der devotesten Haltung war er gegen alle Personen vornehmen Standes und gegen die Geistlichen, die ihren Platz auf der rechten Seite genommen hatten.

Ein tiefer Zwiespalt, der sich auch heute recht wieder bei der Wahl eines neuen Predigers an der Kirche zu St. Petri zeigte, durchzog aber damals in religiöser Hinsicht fast die gesamte Bürgerschaft der Stadt Rostock. Fast alle, ohne Ausnahme, nahmen mehr oder minder heftigen Anteil und es waren nur wenige Familien, die sich bei diesem allgemeinen Kampfe ziemlich indifferent verhielten. Die Anhänger der einen Partei hatten in ihrem Innern die unendlich vielen groben Missbräuche aller Art, an denen die damalige katholische Kirche in nur zu reichem Maße litt, schon längst erkannt und sich deshalb mehr oder weniger von den aus Rom gepredigten Lehren abgewandt, obgleich es zu einem öffentlichen Abfall und zur Bildung einer eigenen Kirche bisher in Mecklenburg noch nicht gekommen war. Der hellleuchtende Blitzstrahl den Dr. Martin Luther, der größte Mann, den Deutschland wohl jemals erzeugt hat, von Wittenberg aus mit kühner Hand gegen den Missbrauch der päpstlichen Macht und die Tyrannei der römisch-katholischen Kirche schleuderte, hatte weithin durch alle Länder an den Gestaden der deutschen Ostsee gezündet und ein heiliges Feuer in den Herzen vieler mutigen Männer erweckt. Nicht umsonst hatte Dr. Martin Luthers begeisterter Mund seine herrlichen Worte gesprochen, denn mit einer für den damaligen langsamen Verkehr fast unerhörten Schnelligkeit verbreiteten sich solche durch alle deutschen Gauen und fanden einen mächtigen Wiederhall in den Herzen von Tausenden und abermals Tausenden. Von Eifer glühende Schüler dieses großen Reformators der Kirche zogen durch alle Länder, die edlen Lehren ihres Meisters mit beredter Zunge zu predigen und deren Wahrheiten überall mit einer so überwältigenden Kraft, wie solche nur aus der tiefinnersten Überzeugung hervorgehen kann, zu verkünden. Ein gewaltiges Regen und Drängen der Geister begann sich jetzt überall im heiligen römischen Reich zu zeigen und ein neuer Frühling der Kirche, voll der köstlichsten Blüten, die dereinst nach gehöriger Reife auch die herrlichsten Früchte versprachen, fing endlich nach der langen starren Öde des Winters an zu tagen. Aber gar raue Kämpfe musste diese Reformation noch bestehen und heftige Stürme ertragen, bis sie zu einer wirklich gedeihlichen Ausbreitung gelangen konnte und aus zahllosen Wunden floss noch das Blut gar vieler edler Männer, bis die Lehren Luthers die weite Ausbreitung gefunden und große Macht erhalten hatten, wie sie solche zu unser aller Heil in der Gegenwart jetzt besitzen. Ward doch das Luthertum in allen Ländern, in denen das für Deutschlands Wohl und Wehe bis auf die neueste Zeit so verderbliche Szepter der Habsburgischen Dynastie herrschte, sogar mit Feuer und Schwert auf die grausamste Weise wieder ausgerottet.

Von diesen kraftvollen, durch ihren großen Lehrer und Meister hoch begeisterten Jüngern, die zu Wittenberg dessen Lehren mit Inbrunst gelauscht und deren Wahrheit tief in ihre Brust aufgenommen hatten, war nun einer der Fähigsten und in jeder Hinsicht Tüchtigsten Joachim Slüter, der ruhmvolle Verkünder der Reformation in allen mecklenburgischen Landen. In dem kleinen Städtchen Dömitz, unweit der preußischen Grenze an der Elbe gelegen, hatte er das Licht der Welt erblickt und war, wie sein großer Lehrmeister Luther selbst, ein echtes Kind des Volkes und von ganz niederer Herkunft. Sein Vater, der den Namen Kutzker trug, war ein armer Fährmann gewesen, der sich sein kümmerliches Brot damit verdiente, die Leute über die bei Dömitz ziemlich breite Elbe zu setzen. Er starb früh und seine junge Wittwe, der es allein zu schwer fiel, ihre unmündigen Kinder zu erziehen, heiratete bald einen Frachtfuhrmann Slüter wieder, dessen Name sich dann später, wie das zu seiner Zeit oft Sitte war, auch auf seine Stiefkinder mit übertrug. Wie so Manche seines Standes war der Fuhrmann Slüter ein zwar rauer und ungebildeter, dabei aber braver Mann, der seine Kinder in strenger Gottesfurcht erzog. Schon von frühster Jugend an mussten sie hart arbeiten, um so auch das Ihre für den dürftigen Haushalt mit zu erwerben. So ist es bekannt, dass Joachim Slüter zuerst die Gänse, und als er etwas kräftiger wurde, die Rosse auf der Dömitzer Stadtweide gehütet hat, bis der Vater ihn dann auf seinen Frachtfahrten nach Rostock mitnahm, um als Junge auf den Vorspannpferden zu sitzen und diese antreiben zu helfen. Gar Niemand ahnte damals Wohl, dass dieser arme Fuhrmannsjunge, der im groben Wams gekleidet, so oft in die Tore Rostocks einritt, von hier aus später das Licht der Reformation verkünden und dadurch einen unermesslichen Einfluss auf das ganze Kulturleben der deutschen Ostseeländer ausüben würde. Einige mildtätige Bürger zu Dömitz, welche die ungewöhnlichen geistigen Anlagen des Knaben und seinen besondern Hang zum Lernen erkannten, verschafften ihm die Geldmittel, um die gelehrten Schulen zu besuchen und später sogar auf der damals so weit berühmten Hochschule zu Wittenberg einige Jahre theologische Studien zu treiben. Freilich war die größte Dürftigkeit dabei unablässig sein Los und die schwersten Nahrungssorgen bedrückten seine Jugend, ja eigentlich sein ganzes Leben. Joachim Slüter hat, wie sicher bekannt, als Student oft lange Wochen nur von Milch und Brod leben müssen, da seine spärlichen Geldmittel nicht zu anderer Nahrung ausreichten, und sich durch Abschreiben und später auch durch Erteilen von Repetitionen an wohlhabendere Kommilitonen die Summen verdienen müssen, deren er auch bei der größten Einschränkung nun einmal notwendig zu seinen Studien bedurfte. Aber unter dieser großen äußeren Dürftigkeit litt sein frischer Geist und der unveränderte Eifer, mit dem er aus dem klaren Born der Wissenschaft schöpfte, nicht im Mindesten. Ja im Gegenteil sogar, es schien, als ob grade der Mangel au äußeren Glücksgütern ein vermehrter Trieb für ihn sei, sich die kostbaren Schätze des Geistes in desto reicherem Maße zu erwerben. Wenn viele der vornehmeren Studenten nach der Sitte damaliger Zeit die ganzen Tage, mitunter auch die Nächte in unbändigen Trinkgelagen vergeudeten, saß der junge Slüter in seinem kleinen Kämmerlein zu Wittenberg, was im Winter nicht einmal geheizt werden konnte, eifrig über die dicken Folianten der Kirchenväter gebeugt und die Stunden, welche seine Kommilitonen auf dem Fechtboden oder bei den damals sehr häufigen Mummereien verbrachten, benutzte er, um den Vorträgen der berühmtesten Lehrer der Hochschule mit gespanntester Aufmerksamkeit zu lauschen und deren goldene Worte seinem Ohre einzuprägen. So galt denn der Studiosus theologiae Joachim Slüter sehr bald als einer der fleißigsten, sittsamsten und dabei auch geistig begabtesten Schüler auf der Hochschule zu Wittenberg, der seinem Vaterlande Mecklenburg in jeder Hinsicht die größte Ehre machte und dereinst ein ausgezeichnetes Kirchenlicht zu werden versprach. Selbst ältere Professoren widmeten dem jungen, so vielversprechenden Mann ihre besondere Aufmerksamkeit und die streng römisch-katholische Partei, die zu jener Zeit, als sie fühlte, dass ihre bisherige unumschränkte Herrschaft in Deutschland immer mehr von dem gewaltigen Sturm der Zeit zerbröckelt wurde, mit vielem Eifer danach strebte, jüngere vielversprechende Talente in ihre Dienste zu ziehen und dadurch die so arg gelichteten Reihen ihrer geistigen Kämpfer wieder zu verstärken, machte ihm bald sehr bedeutende Anerbietungen, wenn er sich ganz ihrer Sache widmen wolle. Allein vergebens waren alle diese Verlockungen, denn Joachim Slüter besaß nicht nur einen fleißigen Sinn und großes Talent, sondern, was noch weit höher anzuschlagen war, dabei auch einen äußerst festen männlichen Charakter. Weder Rang noch Reichtum konnten ihn nur im allermindesten verleiten, von dem, was er einmal für recht erkannt hatte, auch nur ein Haarbreit abzuweichen; er folgte nur seiner innersten Überzeugung und fühlte dabei den wahrhaft begeisterten Beruf in sich, mit beredter Zunge nun auch in die weitesten Kreise seine Lehren verbreiten zu helfen. Was galten ihm bei seinem einfachen Sinn und der steten Gewöhnung an ein spärliches Leben auch wohl alle Schätze der Welt gegen die innere so hoch beglückende Überzeugung, ein Lehrer des Rechts und der geistigen Freiheit und ein Verkünder der reinen Lehren Luthers dereinst in seiner Heimat sein zu dürfen.

Hatte er sich doch während seines mehrjährigen Aufenthaltes in Wittenberg mit der größten Inbrunst zu den eifrigsten Schülern Luthers gezählt und gar aufmerksam allen den kostbaren Lehren, welche dieser große Mann und sein gleichgesinnter Freund und Genosse Melanchton dort den zahlreichen Kreisen der Studenten vortrugen, gelauscht. Wie ein Wanderer, der, in heißer Sommerglut fast verschmachtend, auf staubiger Heerstraße wandelt, plötzlich im kühlen schattigen Grunde eine silberhelle klare Quelle hervorsprudelnd findet und nun die durstigen Lippen gar nicht wieder von derem köstlichen Wasser abzubringen vermag und solches fort und fort in nicht endenden Zügen in sich einschlürfen möchte, so war es auch dem jungen Joachim Slüter gegangen, als er bei dem oft sehr unerquicklichen Studium der meisten theologischen Schriften jener Zeit zuerst den Vorträgen Luthers beiwohnen durfte. Wie oft hatten bange Zweifel, ob auch das, was er künftig zu lehren und zu predigen berufen sei, wirklich das Wahre und Rechte enthalte, seine Seele gar arg gequält und das Gemüt ihm verdüstert und in bangen schlaflosen Nächten hatte er gar viel gegrübelt, ob seine innere Überzeugung es ihm auch erlauben würde, ein eifriger Priester der römisch-katholischen Kirche zu werden. Gar trübe Stunden, die ihm bis an das innerste Mark der Seele zehrten, waren dies gewesen und sein Lebensmut hatte dabei fast gänzlich zu verschwinden gedroht. Wie ein hell leuchtender Sonnenstrahl aber plötzlich in siegender Gewalt alle düsteren Nebel durchbricht und eine Landschaft, die bisher aschgrau und farblos dalag, mit glänzendem Lichte erfüllt, so hatten sogleich auch die ersten Vorträge Luthers jeden bangen und schweren Zweifel in seiner Brust gänzlich gehoben. Von nun an war ihm in dem Labyrinth der damaligen theologischen Streitfragen ein sicherer Kompass, dem er unbedingt sich anvertrauen durfte, geworden und auch nicht der leiseste Argwohn an der Wahrheit jener Worte, die er aus dem Munde des großen Reformators vernahm, drückte fortan sein Gemüt wieder. Bald ward der junge Student der fleißigste Zuhörer und begeistertste Anhänger des edlen Doppelgestirns, Luther und Melanchthon, welches damals die Hochschule von Wittenberg mit einem Glanze erfüllte, wie solchen, nicht einmal annähernd, irgend eine andere Universität Deutschlands jemals, weder vorher, noch nachher besessen hat.

Und auch Luther selbst, der mit seinem klaren Blick wohl einsah, dass er zur Verbreitung seiner hehren Lehren gar begeisterter Jünger, die vor drohenden Gefahren oder steten Entbehrungen und Plage durchaus nicht zurückschreckten, dringend bedürfe, widmete dem jungen Slüter bald seine besondere Aufmerksamkeit. Sein seltener Scharfsinn erkannte den Geist, wie den Charakter des strebsamen Hörers in richtiger Weise und er sah ein, dass ihm ein würdiger Schüler durch dessen Person geworden sei. So nahm er sich denn seiner auch mit besonderem Eifer an, würdigte ihn außer den Vorlesungen seines speziellen Umgangs und erlaubte dem dadurch hoch entzückten Studenten, ihn öfters auf seinen weiten einsamen Spaziergängen an den Ufern der Elbe zu begleiten.

So verlebte Joachim Slüter trotz aller äußern Bedrängnisse und der größten Armut einige köstliche Jahre auf der Wittenburger Hochschule; eine fast unablässige Zeit der höchsten innern Freude und des reinsten geistigen Genusses, in der er für sein ganzes ferneres Leben die reichsten Schätze des Wissens sammelte, die ihm kein Feind jemals wieder rauben konnte. Fort und fort durfte er in der Nähe der vielgeliebten Lehrer weilen und die edelsten Worte der Gottesgelährtheit aus deren weisem Munde vernehmen. Ein großer Kreis von in gleicher Begeisterung für Luthers wahre Lehren erfüllten Studenten hatte sich in Wittenberg damals versammelt, und in den eifrigen Unterhaltungen und den nicht selten angestellten Disputationen mit den Kommilitonen übten sich die jungen Männer in gewandten Vorträgen und lernten die schwere Kunst, die Gedanken, die ihre Köpfe erfüllten, nun auch in klaren, wohlgefügten Sätzen ihren Zuhörern vorzutragen oder die Gründe ihrer Gegner nach den Gesetzen der Logik zu bekämpfen. Und nun gar, wenn Luther selbst, dessen frohes, jeder erlaubten Lust des Lebens so sehr geneigtes Gemüt, sich zu dem Umgang mit jungen Leuten überaus gerne hingezogen fühlte, von einer ganzen Schar seiner treuesten und besten Schüler begleitet, in weit ausgedehnten Spaziergängen durch die üppigen Elbauen wandelte, oder sie an rauen Herbst- und Winterabenden, wenn die Witterung den Aufenthalt im Freien nicht mehr gestattete, in seiner Studierstube um sich versammelte, um bei einem guten Trunk Zerbster Bier manch trauliches Wort mit ihnen zu sprechen und die an ihn gestellten Fragen liebreich zu beantworten; welch’ köstliche Stunden waren dies!

Doch auch diese reiche Zeit in Wittenberg ging vorüber und die Stunde des Scheidens von der teuren Hochschule und ihren geliebten Lehrern schlug für den jungen Joachim Slüter. Nur durch die äußerste Sparsamkeit, unterstützt durch die Freigebigkeit eines Kommilitonen aus Pommern, hatte er es überhaupt zu ermöglichen vermocht, ein ganzes Jahr über das sonst übliche Triennium daselbst zu verweilen. Jetzt aber trat die Pflicht in ihr gebieterisches Recht und erforderte die unverzügliche Rückkehr, in die Heimat. Es war ein gar schwerer Abschied, den der scheidende Student von der trauten Stadt nahm, der er in geistiger Hinsicht so ganz unermesslich viel zu verdanken hatte und die als hellstrahlende Leuchte des Geistes damals ihr Licht durch alle Gauen Deutschlands verbreitete. Und nun gar die Trennung von den geliebten Lehrern Melanchthon und Luther!

Als er vor Letzterem in stummer Wehmut stand, da reichte der herrliche Mann ihm seine Rechte zum letzten männlichen Abschiedsgruß und legte dann wie segnend die andere Hand auf sein Haupt, dabei mit seiner sonoren, aus dem vollen Herzen kommenden und so tief wieder zum Herzen dringenden Stimme die Worten sprechend: „Und so ziehet denn hin, mein vielgeliebter Schüler und junger Freund, an dem ich stets mein Wohlgefallen haben konnte, in das Land der teuren Heimat und helft Eure Landsleute von den Irrlehren des römischen Papismus erlösen und predigt solchen die reinen Worte des Evangeliums! Dornenvoll wird zwar Euer Pfad sein, an schweren Mühen, ja selbst Bedrängnissen und Gefahren aller Art wird es nicht fehlen, der äußere Lohn dagegen kann nur gar dürftig ausfallen und kaum für des Lebens Notdurft ausreichen, doch das innere Bewusstsein und das hehre Gefühl, nach Pflicht und Gewissen stets gehandelt und treu die Wahrheit verkündet zu haben, wird mehr als alle äußeren Schätze, welche Fürsten und hohe Herren nur spenden konnten, Euch reich belohnen. Hierzu aber gebe Gott der Allmächtige seinen Segen und verleihe Euch Kraft und Ausdauer zu Eurem schweren Werke!“

Wie diese feierlichen Worte Luthers in sein Ohr drangen, da füllten sich die Augen Slüters mit Tränen der Rührung und er gelobte sich mit heiligem Schwur, nichts zu scheuen, und gerne Arbeit, Kummer und Elend zu ertragen, ja wenn es sein müsse, selbst dem Tode freudig entgegen zu gehen, wenn es ihm nur vergönnt sein könnte, diese hohen Erwartungen, die sein geliebter Lehrer von ihm hege, möglichst zu erfüllen und sein ganzes ferneres Leben dem edeln Werke der Reformation in Deutschland zu weihen.

Mit diesem Gelöbnis verließ Joachim Slüter die Stube Luthers, den sein Auge niemals wieder erblicken sollte, und bald darauf auch, von dem Abschiedsgesang treuer Freunde geleitet, die alte Stadt Wittenberg an der Elbe Strand. Was er in jener feierlichen Stunde aber sich selbst versprach, das hat er auch mit seltener Treue sein ganzes Leben hindurch gehalten. Weder Armut noch Gefahr konnten ihn davon abhalten, der Verkünder und begeisterte Prediger der Reformation in den mecklenburgischen Landen zu werden, ja als selbst später die Heimtücke seiner Feinde ihm das tödliche Gift heimlich unter die Speisen mischte und er an dessen schleichenden Folgen sein edles Leben noch in der Kraft seiner Jahre frühzeitig enden musste, hat er noch auf dem Totenbette mit letzter schwacher Stimme ein Zeugnis geleistet, wie glücklich er sein Geschick preise, dass es ihm vergönnt gewesen sei, die ersten Samenkörner der Reformation in Mecklenburg mit ausstreuen zu helfen und an deren gedeihlicher Entwicklung sich erquickt zu haben.

Unter den Städten Mecklenburgs war Rostock, wie es dies auch bis auf unsere Gegenwart geblieben ist, bereits damals die weitaus bedeutendste. Schon die dort befindliche, zu jener Zeit sehr besuchte Hochschule gab der Stadt ihren ersten Rang und machte sie auch besonders geeignet, von hier aus das schwere Werk der Reformation an der Ostseeküste zu beginnen. So lenkte Joachim Slüter denn seinen Wanderstab von Wittenberg nach der alten Hansastadt, fest entschlossen, hier sein Domicil zu nehmen und seine segensreiche Tätigkeit zu beginnen. Wie ihm bekannt war, fand er hier auch schon einen einigermaßen vorbereiteten Boden, um seine Pflanzsaat aussäen zu können. Bereits im Jahre 1516 hatte daselbst ein junger Geistlicher, Nicolaus Ruß, ein äußerst fähiger und tatkräftiger, leider dabei nur auch zu exaltierter und phantastischer Mann, der in näherer Verbindung mit den Überresten der sogenannten „böhmischen Brüder“ in Böhmen stand, die Lehren, für welche Huß in Constanz den Feuertod als ein Märtyrer der Wahrheit gelitten, zu verbreiten gesucht. Mit lauter Stimme hatte Ruß an verschiedenen öffentlichen Orten gegen die Schädlichkeit, ja Schändlichkeit zu predigen angefangen und gezeigt, wie schlaue habgierige Pfaffen dadurch dem armen betörten Volke den letzten Pfennig aus der Tasche zu locken versuchten, um die so erschwindelten Gelder in üppigem und frivolem Leben wieder zu verprassen. Auch sonst hatte er gegen die vielerlei Missbräuche der römisch-katholischen Geistlichkeit manch kühnes, aber wahres Wort gesprochen und sich dadurch den grimmigen Hass der Hunderte von Pfaffen und Mönchen aller Art, von denen es damals in der ganzen Stadt wimmelte, und deren zahlreichen Anhängern, zugezogen gehabt. Ihre Nachstellungen wurden zuletzt so heftig und der Schutz, den der junge begeisterte Prediger bei der Bürgerschaft fand, war leider ein so geringer, dass sein Leben immer heftiger bedroht wurde und er endlich heimlich bei Nacht und Nebel aus Rostock flüchten musste. Einige Wochen fand er in Warnemünde, wo seine Reden einen besonderen Anklang gehabt hatten und ganz besonders der alte beinlose Fischer Wegner zu seinen unerschrockensten Anhängern gehörte, eine verborgene Zuflucht, bis ihn dann ein Rostocker Schiffer mit nach Liefland nahm, um ihn dadurch den unablässigen Verfolgungen seiner erbitterten Feinde gänzlich zu entziehen. Dort fand er bei einem angesehenen Edelmann, welcher der neuen Richtung zugetan war, einen ehrenvollen Platz als Hausgeistlicher, soll aber bald darauf schon gestorben sein. War Nicolaus Ruß nun auch glücklich den Nachstellungen der Rostocker Pfaffenpartei entronnen, so verfolgte deren Hass in blinder Wut noch die von ihm hinterlassenen Druckschriften und Manuskripte. Auf Veranstaltung der pfäffischen Partei ward auf dem freien Platz vor der Kirche zu St. Marien ein mächtiges Feuer angezündet und dabei nicht allein das grob auf einer Holztafel gemalte Bild des Flüchtlings, sondern auch seine Bücher und die Abschriften der von ihm gehaltenen Predigten feierlich den Flammen übergeben, wobei der fanatische Mönch des Dominikanerklosters zu St. Johannis, Pater Rothstein, eine sehr heftige Rede hielt und den Wunsch aussprach, dass alle Ketzer und Ungläubigen, welche die Autorität des päpstlichen Stuhles in Rom anzutasten wagten, ein gleiches Schicksal in den Flammen finden möchten. Die Bücher selbst konnte man freilich wohl dem Feuer übergeben, allein von ihrem Inhalt war gar manches goldene Wörtlein doch unter das Volk gedrungen und verbreitete sich gleich einem edeln Samen, den eine kundige Hand ausgestreut hat, immer weiter und Weiler in stets größeren Kreisen. Besonders unter einem Teile der Studenten und zwar namentlich unter solchen, die durch ein geringeres Vermögen mehr von den Zechgelagen und anderen rauschenden Vergnügungen abgehalten und zu einer stilleren, mit geistigen Arbeiten und selbsttätigem Nachdenken verbundene Lebensweise hingewiesen wurden und dann unter den kühnen Seefahrern und deren Augehörigen, hatten diese Lehren schon manche stille Anhänger gefunden. So war bereits in aller Verborgenheit eine zwar noch kleine und nach Außen hin nicht sonderlich mächtige aber doch in sich feste und kräftige Partei, welche für die Lehren Luthers offene Ohren und empfängliche Herzen hatte, vorhanden, obgleich von der öffentlichen Trennung vom Papismus und der Gründung einer besonderen Konfession noch keine Rede sein konnte.

Von diesen Verhältnissen in Rostock schon in Wittenberg unterrichtet, hoffte Joachim Slüter desto mehr, hier Gutes stiften und der reinen Lehre Luthers viele warme Anhänger zuführen zu können.

So wanderte denn an einem schönen Frühlingstag des Jahres 1521 ein junger Mann in der bescheidenen Kleidung eines reisenden Studenten, den Ränzel auf dem Rücken, den Knotenstab in der Hand, das damals keinem Wanderer fehlende kurze Schwert an der Seite, durch das Steintor in die alte Stadt Rostock ein. War auch sein Äußeres sehr bescheiden und konnte er wegen seiner knappen Geldmittel nur eine untergeordnete Herberge aussuchen, so hat doch selten ein größerer, geistig höher stehender Mann die vieltürmige Stadt betreten, als dies in jenem armen Fußwanderer geschah.

Es gelang Slüter bald eine, wenn auch nur sehr geringe Stelle als Lehrer an der Knabenschule der Kirche zu St. Petri zu erhalten. Zwar war sein Gehalt so dürftig, dass er kaum zur Notdurft des Lebens ausreichte, und dabei seine Tätigkeit eine sehr beschwerliche und anstrengende, allein dennoch freute sich der junge Mann, dass ihm das Glück so schnell dieses Amt verliehen. Hatte er doch dadurch nun gleichsam einen festen Fuß in Rostock gefasst und fand durch seinen Beruf die ihm so sehr erwünschte Gelegenheit, mit den Bürgern der Gemeinde St. Petri in vielfache nähere Berührung zu kommen und sich so allmählich deren unbedingtes Vertrauen zu gewinnen. Es lag so ungemein viel Edles in der ganzen Natur Slüters und alle Worte, die er sprach, verrieten so sehr den reichen Quell der wahren inneren Begeisterung, der in ihm sprudelte, dass er überall sich bald zahlreiche und treu ergebene Freunde zu gewinnen wusste. Kaum ein Jahr war nach seinem Eintritt in die Stadt verflossen, da gehörte der tätige Mann schon zu den beliebtesten Volkslehrern, dessen Ruf sich bereits auch über die anderen Kirchspiele auszubreiten begann und der zahlreiche Freunde in allen Quartieren besaß. Namentlich der ganze Teil der Bevölkerung, der zu den Anhängern des Nicolaus Ruß gezählt hatte, stand jetzt unbedingt auf seiner Seite, denn frei und mit männlicher Unerschrockenheit bekannte er sich zu den Lehren Luthers und benutzte jeden Augenblick, Angehörige dafür zu werben. Dabei gewann seine ungekünstelte Popularität, mit der er gern und oft trotz seiner großen Gelehrsamkeit in allen Kreisen des Volkes verkehrte, ihm besonders auch viele Verehrer unter den niedrigen Ständen. Obgleich selbst von der äußersten Mäßigkeit und dem starken Trinken, wie solches damals so sehr in der Sitte der Zeit lag, abhold, verweilte er häufig doch ganze Abende in den großen, zahlreich besuchten Trinkstuben, da er hier die beste Gelegenheit fand, mit den Seefahrern und den Mitgliedern aller Zünfte auf eine unbefangene Weise zu verkehren und manch gutes Wort, welches nicht verloren ging, zu ihnen zu sprechen. Gar merkwürdig war aber der Zauber, den seine Gegenwart selbst auf die rohesten Besucher jener Lokale auszuüben pflegte. So wie er nur erschien, verstummten alsbald alle lauten Scherze und kein rohes Wort ward mehr gehört, was sonst für gewöhnlich vielfach damals der Brauch war. In ernsten und dabei doch vertraulich heitern Gesprächen suchte Slüter sich nun mit diesen Gästen zu unterhalten, ihnen über die mancherlei Vorkommnisse in ihrem häuslichen Leben einen guten Rat zu erteilen und somit allmählich sich ihr unbedingtes Vertrauen zu gewinnen. Daneben versäumte er aber nicht, die Missbräuche des damaligen Papismus seinen Zuhörern offen zu erklären und sie zugleich auf die Reinheit der von Dr. Martin Luther gepredigten Lehren aufmerksam zu machen und wusste dies auf eine so beredte Weise zu tun und jeglichen steifen langweiligen Predigerton so glücklich dabei zu vermeiden, dass nicht allein alle seine Zuhörer diesen Worten gerne lauschten, sondern auch viele gute Früchte mit davon nach Hause nahmen. So viel vermochte ein einziger junger, an Rang und äußerer Stellung höchst unbedeutender Mann, der nebst geistiger Begabung auch den kräftigen Willen besaß, ein wahrer Lehrer des Volkes in des Wortes höchster und edelster Bedeutung zu werden und der jeden Tag, an dem er nicht etwas Gutes getan hatte, selbst als einen verlorenen seines Lebens betrachtete. Da es ihm bisher noch nicht gelungen war, öffentlich als Kanzelredner auftreten zu können, denn die ihm größtenteils schon sehr feindlich gesinnte Geistlichkeit wusste dies stets zu hintertreiben, so hielt Slüter mitunter an langen Winterabenden häusliche Erbauungsstunden ab. Die Schulstube hierfür zu benutzen, ward ihm untersagt und da seine Wohnung sehr beschränkt war und der Kreis der Besucher dieser Stunden in rascher Frist immer mehr anschwoll, so nahm er den Saal der vielbesuchten Schifferherberge „Zur Rose“, die am Strande unweit des Kosfeldertores lag. So war es ihm möglich geworden, das Versprechen, welches er seinem großen Lehrer Luther beim Scheiden gegeben hatte, auf eine wider Erwarten glückliche, schnelle und umfangreiche Weise zu erfüllen, und noch nicht zwei Jahre weilte er nun in Rostock, da bestand dort bereits ein fester Kern einer zahlreichen Partei der gläubigsten Anhänger der Reformation, als deren Haupt der Lehrer Slüter allgemein angesehen wurde. Meistenteils gehörten seine, von ihren fanatischen Gegnern als Ketzer verschrieenen und bitter gehassten Zuhörer dem unteren und mittleren Bürgerstande an. Der wohlweise Rat, wie überhaupt mit geringen Ausnahmen die vermögenden Kaufherren und die meisten erbangesessenen Bürger waren der katholischen Kirche noch zugetan, ja zeichneten sich mitunter sogar durch blinde Ergebenheit gegen deren Priester aus. Im Geheimen mochte freilich auch schon manch angesehener Mann ein Wohlgefallen an der neuen Lehre finden und deren volle Wahrheit erkennen, doch scheute er sich, dies öffentlich einzugestehen, um seine gesellschaftliche Stellung durch solch öffentliches Bekenntnis nicht zu gefährden oder seine Würde gar zu beeinträchtigen. So herrschte denn jetzt eine gewaltige religiöse Gährung in der Stadt und mit immer steigender Heftigkeit standen die Freunde der alten und der neuen Lehre sich gegenüber. Noch bildeten Letztere die schwächere Partei, besaßen noch keinen eigenen Prediger, ja hatten es sogar vermeiden müssen den entscheidenden Schritt einer öffentlichen Lossagung vom Papismus zu unternehmen und eine eigene getrennte Gemeinde zu bilden.

Zwei Jahre hatte Slüter nun bereits als Lehrer an der Schule der Gemeinde zu St. Petri gewirkt, als eine Predigerstelle an dieser Kirche erledigt wurde. Ihrem geliebten Freunde diese zu verschaffen und ihm dadurch die von ihm selbst, wie von allen seinen Verehrern so heißersehnte Gelegenheit zu geben, die neue Lehre auch fortan frei von der Kanzel verkünden zu können, war nun der eifrigste Wunsch seiner Anhänger. Auf der andern Seite war freilich die katholische Partei auf das Äußerste entschlossen, sich diesem, in ihren Augen ruchlosen Vorhaben ganz entschieden zu widersetzen und jegliches Mittel anzuwenden, dass der so bitter gehasste Mann keine Kanzel in Rostock besteigen könne. In allen Familien der Gemeinde, in denen sie irgendwie nur zugängliche Ohren zu finden hofften, liefen die Pfaffen umher und baten und beschworen, dem Slüter ja nicht die Stimme bei dieser Predigerwahl zu geben. Verstieg sich sogar ihr Eifer mitunter so weit, denen, die ihren Ermahnungen nicht folgen und in frechem Ungehorsam anders stimmen würden, als die streng klerikale Partei dies wünschte, mit dem Bannstrahl der Kirche und der ewigen Verdammnis der Seelen im Fegefeuer zu drohen. Selbst bis in die anderen Kirchspiele der Stadt verbreitete sich die Aufregung dieser Wahl, denn auch dort war die pfäffische Partei nach Kräften tätig gewesen, Alle, welche durch Verwandtschaft oder sonstige Verbindungen irgendwie nur Einfluss auf Mitglieder der Petrigemeinde besaßen, dahin zu bearbeiten, dass sie solchen für ihre Zwecke verwenden möchten. Freilich gab es schon gar manche Familien in allen Kirchspielen, in denen sich die Pfaffen und Mönche zu diesem Zwecke gar nicht mehr zu zeigen wagten, da sie doch gewiss sein konnten, kein geneigtes Ohr daselbst zu finden, ja sogar selbst einen unsanften Empfang zu befürchten hatten.

So hatte denn diese am Sonntag Lätare des Jahres 1523 zu St. Petri stattfindende Predigerwahl in der ganzen Stadt schon wochenlang vorher eine so gewaltige Aufregung der Gemüter hervorgebracht, wie dies früher bei ähnlichen Vorkommnissen auch nicht einmal annähernd geschehen war. Fast von nichts Anderem ward in den Trinkstuben, den Lokalen der Bader, damals sehr besuchte Orte von allen Neuigkeitskrämern, ja selbst in den vertrautesten Klosetts der ersten Geschlechterhäuser gesprochen, wie auch auf den Marktplätzen, Werften der Schiffsbauer und in allen Werkstätten der Zünfte, das Streiten und Hin- und Hergerede über diese Wahl kein Ende nehmen wollte. Dass Slüter bei allen Klassen, die mit der Seefahrt, dem Schiffbau und der sonstigen Arbeit am Strande zusammenhingen, die meisten und eifrigsten Verehrer besitze, zeigte sich in diesen, der Wahl vorausgehenden Wochen sehr bemerklich, und da gerade von dieser Klasse der Bevölkerung ein bedeutender Teil zu der Gemeinde von St. Petri gehörte, so konnte er wohl eine gegründete Hoffnung hegen, bei der Stimmensammlung die größte Mehrheit zu erhalten. Hatte doch ein unverschämter Bettelmönch, der am Strande eine wütende Predigt gegen diesen Liebling der Schiffsbauer und Matrosen gehalten und ihn darin eine Ausgeburt der Hölle genannt hatte, die böse Erfahrung machen müssen, dass ihn die darob erzürnten Arbeiter einer Werft, nach der gewalttätigen Sitte jener Zeit, die überhaupt immer rasche Handlung liebte, ohne Weiteres an seiner Kutte packten und in die Warnow warfen, damit er dort seinen Eifer in dem kalten Märzwasser abkühlen möge. Nur mit Mühe konnte der laut um Hilfe schreiende Mönch von einigen mitleidigen Männern wieder aus dem Wasser gezogen und gerettet werden, worauf er hoch und heilig es verschwor, jemals wieder vor solchen Zuhörern eine Predigt gegen das Ketzertum halten zu wollen. Wer also an diesem Sonntag Lätare nur ein Recht dazu besaß und seine Stimme mit abgeben durfte, befand sich gewiss in der Kirche; ein nicht geringer Teil der sonstigen Bevölkerung aber, als nicht zum Kirchspiel gehörend, hatte sich vor Ungeduld auf dem Altmarkt aufgestellt und bildete dort die Volksmasse, die wir im Anfang unseres Kapitels möglichst treu zu schildern versuchten. Alle, welche links des breiten Ganges, der zur Haupttür der Kirche führte und mit Mühe von den Söldnern der Schaarwache freigehalten wurde, sich aufhielten, bestanden aus den Anhängern Slüters, jene rechts aber aus seinen Feinden und Widersachern.

Ganz außergewöhnlich lang währten dieses Mal aber die Formalitäten in der Kirche, deren sämmtliche Türen, um den ungestümen Andrang der Menge zu verhüten, fest geschlossen waren. Schon hatte die Uhr an dem hohen, spitzen, ersichtlich schief nach der einen Seite hängenden Turme zu St. Petri, dies weit sichtbare Wahrzeichen der Stadt Rostock, längst die elfte Stunde, damals die allgemein übliche Mittagszeit, geschlagen und noch immer wollten die Türen sich nicht öffnen, um der ungeduldig harrenden Menge das Endergebnis der Wahl zu verkünden. Und nun dies festtägliche Mittagsmahl und gar besonders am Sonntag Lätare, wo ein alter Gebrauch es forderte, dass jeder, der es nur irgend möglich machen konnte, gebratene Fische aß, kalt werden zu lassen, war in der Tat eine starke Zumutung an den gesunden Appetit, dessen sich die guten Rostocker wie überhaupt alle Bewohner der Küstenländer, in denen die Seeluft gewaltig zehrt, stets zu erfreuen hatten. Doch das Interesse, welches Alle an dem Ausfall der Wahl nahmen, war ein so reges, dass trotz der Aussicht der auf dem Tische harrenden gebratenen Aale mit ihrem verführerischen Dampfe nur sehr vereinzelte Personen den Platz verließen, um zu Hause das Mittagsmahl nicht verdampfen zu lassen. Besonders Alle, die auf der linken Seite standen, hielten wacker aus und boten kalten Regenschauern, heftigen Windstößen und, was den meisten von ihnen noch empfindlicher war, selbst dem Hunger nach dem verspäteten Mittagsmahl heldenmütigen Trotz, um ja so bald als möglich das Endergebnis der Wahl zu erfahren. Freilich immer unruhiger und unruhiger ward nach und nach die Volksmenge, immer lautere Spottworte und höhnische Neckereien flogen von beiden Parteien herüber und hinüber und nur mit äußerster Anstrengung vermochten die Söldner den Gang in der Mitte frei zu halten und offene Feindschaftlichkeiten zu verhüten.

Da endlich — es mochte ungefähr 12 Uhr sein — öffnete sich die Haupttüre der Kirche und der Ratsherr Cordes, welcher als Bevollmächtigter eines hohen Rats die Ordnung der Wahl überwacht hatte, trat in schwarzer Festkleidung, das Schwert an der Seite, zuerst heraus. Vor ihm und hinter ihm als Ehrenwache, marschierten je zwei Söldner der Schaarwache mit ihren Hellebarden. Der Ratsherr, ein wohlangesehener Mann in der Stadt, sah ungemein verdrießlich aus und sein ohnehin schon strenges Antlitz hatte jetzt einen gar finstern Ausdruck. Er gehörte zu den eifrigsten Anhängern der streng papistischen Partei und so ließ sein Aussehen das Ergebnis der Wahl und dass solche für Joachim Slüter sehr günstig ausgefallen sein müsse, schon im Voraus mit Ziemlicher Sicherheit vermuten. Zwar war es eigentlich gegen den damaligen Brauch, dass ein Ratsherr, wenn er in Amt und Würden unter der Ehreneskorte von Hellebardierern feierlich durch die Straßen schritt, so ohne Weiteres angesprochen werden durfte, allein diesmal war die Spannung doch zu groß und so versuchten einige nähere Bekannte von der rechts stehenden Partei die Fragen: „Wie ist’s? Wie steht’s? Wohl nur schlecht?“ an ihn zu richten. Ein stummes ärgerliches Neigen mit dem Kopfe war aber die einzige Antwort, die den Fragern zu Teil ward, denn einerseits liebte der Ratsherr Cordes eine solche Nichtbeachtung der Etiquette gar nicht sonderlich, andrerseits war er auch selbst viel zu verdrießlich, um sich auf längere Unterredungen hier jetzt einzulassen. Ward sein innerer Ingrimm dazu noch durch das laute Jubeln der linken Partei, die aus seinem brummischen Aussehen mit Recht schließen durfte, dass Slüter die Stimmenmehrheit der Wahl erhalten hatte, nicht wenig gesteigert.

Bald nachdem der Ratsherr die Kirche verlassen hatte, quollen aus deren weit geöffneten Türen von allen Seiten die Bürger, welche ihre Stimmen abgegeben hatten, heraus und mischten sich, je nach ihrer Partei, unter die verschiedenen Volkshaufen. Und nun gab es Fragen und Antwortens und der lauten Ausrufungen der Freude und des Zornes genug auf beiden Seiten, als erst das Resultat der Wahl bekannt geworden war. Ein brausendes Geräusch der immer mehr anschwellenden Volksmasse, denn aus allen Häusern des Altmarkts und der angrenzenden Straßen kamen die Neugierigen herbeigestürzt, um das Neueste zu vernehmen, erfüllte die Luft. Wo die Gruppen der streng katholisch Gesinnten standen, hörte man laute Reden des Zornes und Unwillens und selbst die Ausrufungen „die Wahl sei eine Schande für die Stadt“ oder „es sei das Beste, den verfluchten lutherischen Ketzer am ersten Baum nur aufzuknüpfen“ wurden wiederholt gesprochen. Ganz anders freilich klang der Jubel und das Freudengeschrei von der entgegengesetzten linken Partei, denn bald war es allgemein bekannt, dass Joachim Slüter eine sehr bedeutendere Mehrheit aller gültigen Stimmen erhalten habe und somit zum wirklichen Prediger der Gemeinde ernannt sei.

Immer feindseliger ward jetzt aber die Haltung beider Parteien und gehässiger ertönten die Spott- und Hohnworte von hüben und drüben, ja manche kräftige Fäuste ballten sich drohend und kampfgewohnte Arme wollten hier und da schon zu den Schwertern greifen. Da blutige Raufhändel zu jener Zeit leider nicht zu den ungewöhnlichen Erscheinungen gehörten, so musste man befürchten, dass auch dieser Tag der kirchlichen Feier mit einer solchen enden würde.

Schon fing der bei allen wilden Kämpfen wohlerfahrene Rottmeister Horwath an, seine Leute alle nach der rechten Seite zusammen zu ziehen, um die Macht der dort stehenden Partei bedeutend damit zu verstärken, wenn es wirklich zu einem ernstlichen Kampfe kommen sollte. Wohl an 50 Söldner der Scharwache, lauter kräftige in Wehr und Waffen wohlgeübte Männer, standen dicht geschart um ihren Führer und streckten die langen schweren Hellebarden drohend vor sich her. Freilich fingen auf der andern Seite auch die Matrosen an sich zu vereinigen und mit lautem Geschrei ihre Enterschwerter zu ziehen, um in wildem Anlauf sich gegen diese bitter gehasste Schaarwache zu stürzen. Klagend und schreiend liefen die meisten Frauen von dem Plätze, der vielleicht in wenigen Minuten schon von dem Blute der sich gegenüber, in wilder Wut zerfleischenden Bürger gerötet werden sollte, und auch manche friedlicher gesinnten Männer, die Lärm und Zank lieber vermieden als aufsuchten, rüsteten sich zum Fortgehen. Als aber die Aufregung schon am Höchsten gestiegen zu sein schien, da öffnete sich plötzlich die Tür, die zu der Sakristei der Kirche führte und der Mann, um dessenwillen sich all dieser wilde Streit zu entspinnen drohte, Joachim Slüter, trat auf den Platz heraus. Seine ganze Erscheinung war eine so würdevolle und eine unwillkürlich, Ehrfurcht gebietende, trotz seines noch ziemlich jugendlichen Alters, dass sie auch jetzt wieder ihren Eindruck nicht verfehlte. Eine sofortige Stille trat auf dem großen weiten Platze ein und wenigstens für den Augenblick schien aller Streit beendet zu sein. Der Sitte der katholischen Geistlichen, welche möglichst bunte Farben und reiche, das Auge bestechende Stickereien in Gold und Silber an ihren Gewändern liebten, entgegen, trug Slüter den einfach schwarzen, in langen edlen Falten darniederwallenden Chorrock, wie Martin Luther solchen bei den Predigern seiner Schule bereits eingeführt hatte, und dazu auf dem Haupte ein schwarzes vierkantiges Barett. Nur ein blendend weißer, steifgekräuselter Halskragen unterbrach diese dunkle, so einfach und würdevoll aussehende Schwärze seines Anzuges. Das ziemlich lang herabfallende Haupthaar und ebenso der volle Bart waren bei Slüter ebenfalls von schwarzer Färbung, weshalb ihn seine vielen Gegner später auch wohl häufig aus Hohn und Spott kurzweg mit dem Namen „der Schwarze“ bezeichneten, da solche dunkle Haarfärbung in Mecklenburg sonst nur ziemlich selten vorkam. Sein edel geformtes Antlitz, bei dem die hohe Stirn sehr hervortrat, zeigte eine große Blässe, wie solche bei Männern, welche sich einer angestrengten geistigen Beschäftigung widmen und den größten Teil ihrer Zeit hinter dem Studiertisch verbringen, oft eintreten wird. Der Blick des großen dunkeln Auges war milde, hatte dabei zugleich aber auch einen ernsten Ausdruck, in dem seltene Willenskraft und eine nicht zu beugende Festigkeit des Geistes lagen. So war die ganze äußere Erscheinung Slüters sowohl eine ungemein fesselnde und die Herzen gewinnende, dabei zugleich aber auch bedeutungsvolle und Respekt einflößende, obgleich seine Gestalt sonst nur klein und schwächlich und die Körperhaltung vornüber gebeugt und etwas nachlässig sich zeigte.

Mit schnellem Blick hatte er den ganzen Volkstumult übersehen und sogleich erkannt, welche blutige Zwistigkeiten alsbald entstehen könnten. Hell und volltönend erklangen gleich darauf seine Worte:

„Lasst ab von Eurem ebenso törichten wie frevelhaften Beginn, meine Freunde, und entheiligt nicht den Tag des Herrn durch schnödes Blutvergießen. Die Sache, der wir anhängen, steht zu hoch und hehr, als dass sie durch solche grobe Unordnungen entweiht werden dürfte. Wer daher zu mir hält und meinen Lehren getreu sein will, der stecke sein Schwert oder Messer ein und senke seine Faust und eile daheim zu seiner Familie, wo schon das dampfende Mittagsmahl seiner harrt. Dort möge er den Seinen die frohe Kunde erzählen, dass ich am heutigen Tage durch Gottes Gnade und meiner lieben Freunde Eifer zum Frühprediger an dieser Kirche erwählt wurde und hoffentlich in wenigen Tagen mein neues Amt zum Heil und Frommen der Gemeinde schon antreten kann.“ So sprach Slüter mit lauter, weit über den Platz schallender Stimme und wirklich wunderbar schien die Wirkung zu sein, welche seine Rede ausübte. Die entblößten Schwerter der Seefahrer fuhren schnell wieder in ihre Scheiden und die schon zum Schlagen erhobenen Stöcke und Spieße sanken nieder. In kleine Gruppen lösten sich die zusammengedrängten Volkshaufen auf, um den Heimweg in die verschiedenen Stadtteile anzutreten, und bald darauf war der geräumige Altmarkt wieder ebenso menschenleer, als dies sonst für gewöhnlich der Fall war.

Erfreut, dass seine wenigen Worte eine solche gute Wendung hervorgebracht hatten, schritt nun auch Slüter von einigen besonders treuen Freunden geleitet und gegen etwaige Insulten der papistischen Partei geschützt, nach dem Hause des ehrsamen Bürgers und Baders Peter Schmidt, der ihm seit zwei Jahren bereits auf die uneigennützigste Weise den Mittagstisch umsonst gegeben und somit ihm ermöglicht hatte, mit seinem geringen Gehalt als Lehrer auszukommen. Wollte er doch heute auch an seinem Ehrentage absichtlich das Mahl des wackern Mannes nicht verschmähen und so ihm durch die Tat zeigen, dass er auch als Prediger nicht zu stolz geworden sei, mit einem gewöhnlichen Bader auf die freundlichste Weise zu verkehren.

So war der Sonntag Lätare im Jahre 1523 ein bis in die fernsten Zeiten in der Geschichte Mecklenburgs und der gesamten deutschen Ostseeküste hochwichtiger und erfreulicher Tag, denn an ihm wurde der erste Prediger, welcher offen die Lehre Luthers verkündete, von der Gemeinde zu St. Petri in Rostock gewählt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Joachim Slüter - Band 1