Neunte Fortsetzung

Es war beinahe sieben Uhr, als Kolja nach Hause kam und die Nase in die Rote Ecke steckte. „Jack, wir müssen gehen, wenn wir zurecht kommen wollen.“ Wir holten unsere Bücher aus unserem Zimmer. Kolja hatte schon im Technikersaal zu Abend gegessen, wo ihm drei Karten zur Verfügung standen.

„Ich war im Krankenhaus, um nach Waska zu sehen“, sagte Kolja, während er seine schmutzigen Filzstiefel mit einem Paar anderer vertauschte. „Viel scheint nicht mehr mit ihm los zu sein. Der Arzt sagte, dass er vermutlich in dieser Woche sterben wird.“


Waska war ein Schweißer aus unserer Baracke und unserer Gruppe. Vor zwei Wochen war er abgestürzt und hatte sich den Brustkasten eingeschlagen. Seitdem lag er in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses zwischen Leben und Tod. Ich hatte ihn zweimal besucht, aber das Krankenzimmer war kein angenehmer Ort, und ich versuchte daher, einen neuen Besuch so lange als möglich aufzuschieben. Es war dort kalt und schmutzig. Die Schwestern waren in Schafpelze gekleidete Bauernmädchen, die allmählich vollständig gleichgültig gegen alle Schmerzen und alles Leiden rund um sich herum geworden waren: Männer, die von glühenden Eisen verbrannt waren und drei Tage schrien, ehe sie starben, Männer, die wie Fliegen zerdrückt waren vom Erz, unter Kränen oder anderen schweren Gegenständen. Es war nur unnütze Mühe mit ihnen. Waska wurde leidlich gut behandelt, weil er infolge seines zerschmetterten Brustkastens nicht schreien konnte und weil er ein netter Junge war. Aber nicht alle Patienten hatten es so gut.

„Ich hab ihn seit vier Tagen nicht besucht“, sagte ich.

Wir nahmen unsere in Zeitungspapier eingeschlagenen Bücher und gingen zur Schule.

Um diese Zeit verließen viele Leute die Baracke; einige gingen ins Kino, andere in den Klub, bei den meisten verriet das Buchpaket unterm Arm den Bestimmungsort. Sie befanden sich auf dem Schulweg. Vierundzwanzig von den Bewohnern der Baracke besuchten eine der Unterrichtsanstalten.

Ich besuchte die Komwus genannte höhere Lehranstalt. Der Unterricht erstreckte sich über drei Jahre. Er umfasste Russisch, Mathematik, Nationalökonomie, Leninismus, Geschichte der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, Geschichte der revolutionären Bewegungen in den westlichen Ländern, Parteilehre und Dialektischen Materialismus. Die meisten Schüler dieser Schule wurden nach bestandenem Examen Berufspropagandisten oder Funktionäre der politischen und administrativen Organisationen. Die Mehrzahl der Studenten konnte beim Eintritt in die Kommunistische Hochschule nur leidlich lesen und schreiben. Die Eintrittsbedingungen waren dieselben wie für die fünfte Klasse der Elementarschule, aber wichtig war eigentlich nur, dass der Eintritt Suchende lesen und schreiben konnte. Das akademische Niveau der Komwus war infolgedessen sehr niedrig. Die Schulbücher verursachten allerlei Schwierigkeiten, besonders in solchen Fächern wie Dialektischer Materialismus, für den es nur ein von Bucharin geschriebenes Buch gab, das später für „opportunistisch“ erklärt und auf die schwarze Liste gesetzt wurde, weshalb es nicht in den Schulen verwendet werden durfte. Bücher wie der „Anti-Dühring“, „Die Dialektik in der Natur“ oder „Materialismus und Empirio-Kritizismus“ in den Händen von Studenten mit derart begrenzter Allgemeinbildung erzeugten natürlich eine zum Himmel schreiende Oberflächlichkeit. Die Lehrer befanden sich daher in einer schwierigen Lage. Der Lehrstuhl für Dialektischen Materialismus wechselte denn auch im Verlaufe des Unterrichtsjahres 1933/34 viermal den Inhaber. In sämtlichen Fällen war die Veränderung durch „Abweichungen“ veranlasst, und in zwei Fällen führte sie zur Verhaftung. Eine der wichtigsten Aufgaben des Schulleiters war das Jagen nach Abweichungen. Wenn seine hierauf gerichteten Anstrengungen kein Ergebnis zeitigten, so konnte er sehr leicht selber Unannehmlichkeiten wegen „Gleichgültigkeit“ bekommen, oder weil er „Feinde tolerierte“.

Ich begann mit dem Besuch der Komwus schon drei Monate nach meinem Eintreffen in Magnitogorsk, um meine russischen Sprachstudien zu fördern. Dann wurde ich auf die Behandlung der übrigen Fächer aufmerksam. Besonders faszinierte mich der Geschichtsunterricht. Jeder historische Vorgang war entweder schwarz oder weiß; alle Bestrebungen und Ziele waren stark vereinfacht. Auf jede Frage gab es eine absolut entscheidende Antwort. Aber damit nicht genug, musste die Formulierung der Frage so oder so sein. Folgte man allen diesen Regeln, so schien alles vollständig vernünftig. Die Geschichte war in ein neues System gebracht, ungefähr wie Mathematik. Das einzig Bedauerliche bei alledem war nur, dass es oft durchaus nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte.

Ich erinnere mich einer Diskussion der Marx’schen Gesetze über die Ausbeutung der Arbeiter in den kapitalistischen Ländern. Nach diesem Gesetz so wie es in Magnitogorsk ausgelegt wurde waren die arbeitenden Klassen in Deutschland, England und den Vereinigten Staaten ebenso wie in allen anderen kapitalistischen Ländern seit dem Durchbruch der Industrialisierung im 19. Jahrhundert fortschreitend verarmt. Nach einer Vorlesung ging ich zum Lehrer und erzählte ihm, dass ich zufällig in England gewesen sei und dass die Verhältnisse unter den Arbeitern dort, so weit ich es beurteilen konnte, bedeutend besser als in den Tagen Charles Dickens’ wären oder als zur Zeit, da Engels seine Abhandlung über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ schrieb.

Der Lehrer wollte mich nicht anhören. „Schau ins Buch, Genosse“, sagte er. „Es steht im Buch.“ Es spielte für den Mann keine Rolle, dass das Buch im nächsten Monat als konterrevolutionär erklärt werden konnte. Dann würde er eben ein neues Buch erhalten. Die Partei beging keine Fehler. Er hatte das Buch von der Partei bekommen. Das genügte.

Kolja besuchte das Technikum, eine Lehranstalt mit einem wenn auch unbedeutend höheren Niveau als die Kommunistische Hochschule. Die Bewerber mussten sieben Jahre Schulbesuch nachweisen und sich einer Eintrittsprüfung unterziehen. Der Unterricht umfasste Algebra, Physik, Chemie, Mechanik, Materiallehre, Linearzeichnen, Konstruktionszeichnungen, Betonarmierung und Holzkonstruktionen unter besonderer Berücksichtigung der in Magnitogorsk notwendigen Konstruktionstypen. Die meisten Lehrer waren Ingenieure, die in den Konstruktionskontoren oder draußen auf den Anlagen arbeiteten. Nach ihrer Tagesarbeit kamen sie zum Unterricht, müde und unvorbereitet. Die Anforderungen an die Studenten waren insofern noch größer, als sie viermal in der Woche abends hörten, während die Lehrer gewöhnlich weniger oft unterrichteten. Ein „Komsomol“, das heißt ein Arbeiter, der der Partei nicht angehörte, wurde zu denselben Bedingungen zum Studium zugelassen wie ein Parteimitglied. „Klassenfeinde“ und deren Familienmitglieder hatten dagegen keine Aussicht hineinzuzukommen. Schabkow, dessen Vater Kulak war, konnte also nicht aufs Technikum kommen. Dieses Verbot für „Lischentsi“ (ihre Rechte beraubter Mitbürger) galt bis 1936, als ein Dekret von Moskau allen gleiches Recht auf Unterricht gewährte.

Ein halbes Dutzend anderer Schulen wurde jeden Abend von den Arbeitern der Baracke Nr. 17 besucht: die Chauffeurschule, ein Kursus, der auch verschiedene militärische Fächer umfasste, Spezialkurse zur Ausbildung von Landwirten, Hebammen, Postbeamten und Telegraphisten. Diese Schulen wurden von verschiedenen Behörden und Organisationen geleitet.

Die Schulkosten, die Ausgaben für Licht, Wärme, Lehrergehälter und manchmal auch die Bücher und das Papier für die Schüler wurden aus den großen Staatsfonds zur Ausbildung von Technikern und qualifizierten Arbeitern bestritten. Die Studenten bezahlten gar nichts. Sie erhielten sogar gewisse Vergünstigungen, längere Urlaube, Befreiung von der Arbeit während der Examensperioden usw.

Zu jener Zeit konnte Magnitogorsk nur einige Tagesschulen für Erwachsene aufweisen. Die meisten Arbeiter studierten wie Kolja und ich nur abends. Es gab in Russland zu viel und zu eilige Arbeit, als dass man Millionen junger Arbeiter am Tage aus den Fabriken hätte in die Schulen schicken können. Die Abendschulen verschwanden jedoch nach fünf Jahren und wurden durch freiwillige Tagesschulen ersetzt, deren akademischer Standard bedeutend höher lag als der der Abendschulen. Die Studenten an diesen Institutionen erhielten staatliche Stipendien von 40 bis zu 500 Rubel im Monat. Dieses System bestand bis 1940; dann war die Regierung infolge der Notwendigkeit, Millionen für Rüstungszwecke aufzubringen, gezwungen, Gebühren für den Unterricht von der siebten Klasse an zu erheben.

Die unerhörten wirtschaftlichen Opfer, die die Sowjetunion den höheren Lehranstalten bringen musste, waren durch den Mangel an Fachleuten auf allen Gebieten hervorgerufen. Die Revolution, der Bürgerkrieg, die Massenauswanderung der „alten“ Elemente verursachten einen beträchtlich größeren Mangel an ausgebildeten und qualifizierten Leuten, als er vor dem Kriege bestanden hatte. Das wirtschaftliche und das politische Leben wurde anfangs der dreißiger Jahre immer komplizierter und machte es zur Notwendigkeit, eine Sowjetintelligenz zu schaffen. Das war der ursprüngliche Anlass für die enormen Anstrengungen in dieser Richtung, die in Magnitogorsk unter anderem ihren Ausdruck in dem gewaltigen Betrag von fast 100 Millionen Rubel fanden, die in das Baubudget zur Ausbildung tüchtiger Arbeiter aufgenommen wurden. Diese Riesensumme wurde als Kapitalanlage verbucht, also ebenso wie die in die Hochofenbauten gesteckten Beträge.

Die Notwendigkeit, eine Sowjetintelligenz zu schaffen, hatte noch andere einschneidende Folgen. Die Einführung abgestufter Lohnskalen, die Vergrößerung der Unterschiede zwischen den Löhnen qualifizierter und unqualifizierter Arbeiter war hauptsächlich ein Versuch, die Lust zum Studium anzufeuern. Um das zu erreichen, mußte die Stumpfheit und traditionelle Trägheit des russischen Bauernstandes überwunden werden. Der Bevölkerung, besonders den Bauern, mußte die Lust zum Lernen eingeimpft werden. In gewisser Weise war dieser Wunsch schon vorhanden als Reaktion gegen jahrhundertelange Absperrung von allen Ausbildungsmöglichkeiten. Auch regten sich die gesunde menschliche Neugier und der natürliche Wissensdrang. Aber stärkere Antriebe waren nötig. Wenn ein Ingenieur keine größeren Einnahmen hätte als ein Hirtenjunge, würden die meisten Bauern es vorziehen, bei ihren Herden zu bleiben, und sich wenig um Newton und Descartes bekümmern.

Im Jahre 1933 waren die Lohnverhältnisse ungefähr folgende: Ein gewöhnlicher, unqualifizierter Arbeiter hatte in Magnitogorsk etwa 100 Rubel im Monat; der Gehilfe eines qualifizierten Arbeiters 200 Rubel; ein qualifizierter Arbeiter 300; ein Ingenieur ohne längere Praxis 400 bis 500; mit Praxis und Erfahrungen 600 bis 800; Verwalter, Direktoren usw. von 800 bis 3000 Rubel im Monat. Diese kräftigen Gehaltsabstufungen und die Gewissheit, dass ein jeder in jedem Fach Arbeit finden konnte, reizte die intellektuelle Neugierde. Die Zusammenwirkung dieser beiden Faktoren war so stark, dass sie 1933 in den Abendschulen von Magnitogorsk eine Studentenschaft schufen, die durchweg bereit war, tagsüber acht, zehn, ja sogar zwölf Stunden, oft unter den ungünstigsten Verhältnissen zu arbeiten, um danach die Abendschulen zu besuchen. Da saßen sie, manchmal mit leerem Magen, auf Bänken ohne Lehnen in einem Zimmer, das so kalt war, dass man seinen Atem einen Meter vor sich sehen konnte, und studierten Mathematik vier Stunden hintereinander. Die Vorkenntnisse waren mangelhaft, die Verhältnisse aufreibend. Trotzdem konnte Kolja nach zweijährigem Studium im Technikum Konstruktionszeichnungen zu einem Spann- oder Hängewerk entwerfen, Volumen und Flächen berechnen und viele andere Aufgaben lösen. Außerdem wusste er auf Grund seiner praktischen Erfahrungen das Gelernte richtig anzuwenden.

Kolja und ich gingen also den Berg hinunter und zur Schule. Es war kalt, der Wind biss uns in die Backen und nach fünf Minuten war die Feuchtigkeit des Atems auf Augenbrauen und Wimpern gefroren. Wir schritten rasch aus, denn es war schon kurz vor sieben.

„Was habt ihr heute Abend?“ fragte ich.

„Mechanik“, antwortete Kolja.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“

Kolja fluchte vor sich hin. „Wann zum Teufel glaubst du eigentlich, dass ich dazu Zeit gehabt hätte?“

Schweigend gingen wir weiter. Das Komwus-Schulhaus bestand aus einer Baracke, die im großen und ganzen der, in der wir wohnten, ziemlich ähnlich war, nur war sie reiner und hatte größere Zimmer. Als wir uns der Tür näherten, hörten wir Natascha, die den Schuldiener machte, herauskommen und kräftig mit einer Kuhschelle klingeln. Wir kamen also gerade zur Zeit. Kolja ging in die Technikum-Abteilung und ich begab mich in mein Klassenzimmer. Unsere Gruppe bestand aus vierundzwanzig Studenten im Alter von vierzehn bis fünfundvierzig. Der Lehrer war ein kleiner, scharfer, bebrillter Mann, der tagsüber Konstrukteur war.

Wir begannen mit Parteilehre. Nach fünf Minuten war der große Nieter vor mir eingeschlafen; er schlief fest, mit dem Kinn auf der Brust. Seine Belegschaft hatte eine notwendige, sehr eilige Arbeit ausführen müssen und achtundvierzig Stunden keinen Schlaf bekommen.

Popow ging nicht zur Schule. Er besuchte den Grubenarbeiterklub, der nur zehn Minuten von Baracke Nr. 17 entfernt lag. Es sollte dort eine Kinovorstellung stattfinden, aber der Film war aus irgendwelchen Gründen nicht eingetroffen. Er hielt sich eine halbe Stunde im Klubzimmer auf und las einen Bericht in einer literarischen Zeitschrift. Danach entschloss er sich, eine Dusche im Distriktsbadehaus zu nehmen. Aber die Schlange dort war zu lang; er hätte mindestens eine Stunde warten müssen. Er zog es daher vor, nach Hause zu wandern und einen Brief an seinen Bruder zu schreiben, der in der Roten Armee in Kasakstan diente.