Erste Fortsetzung

Ich war nun so allmählich aufgetaut, zog mein Halstuch vors Gesicht und folgte den beiden Vorarbeitern, die inzwischen über eine gebrechliche Holzleiter die Gerüste um die Hochöfen erklettert hatten und nun die schweren Stahlkonstruktionen besichtigten, die überall aufgeführt wurden. Über ihnen sah man ein Gasrohr von etwa drei Meter Durchmesser, von dem ein Teil noch nicht eingefügt war. Links von ihnen ragte der enorme konische Rumpf des Hochofens Nr. 4 gen Himmel. Sie gingen an ihm vorbei und durch die Gießerei zu Nr. 3. Matte Glühlampen spendeten ein graues Dämmerlicht. Einige Schatten wurden sichtbar, Maurer, Handlanger, Mechaniker, Elektriker, die die Tagesarbeit vorbereiteten. Zu dritt erkletterten wir die Spitze von Nr. 3. Hier stießen wir auf eine kleine Gruppe von Nietern, die schweigend eine unförmige Masse auf dem Gerüst umstanden. Wir stellten fest, dass es sich um den erfrorenen Nieter handelte und dass man bereits nach einer Bahre geschickt hatte, um die Leiche hinunterzuschaffen. Dann setzten wir unseren Weg zum eigentlichen Gipfel fort, um von dort einen Überblick über die Arbeit des anbrechenden Tages zu gewinnen.

„Wie geht’s in der Schule?“ fragte Iwanow. „Du wirst wohl bald Ingenieur, Kolja, nicht wahr?“


„Bei dieser Kälte ist das Studium nicht ganz einfach. Wir sitzen mit Handschuhen im Klassenzimmer. Die Kohle reicht nicht.“

„Ja, ich weiß“, sagte Iwanow mitfühlend. „Das Studium ist nicht leicht. Aber, was Teufel! Will man was lernen, muss man büffeln.“

Ein Sirenensignal verkündete nun die siebte Stunde. Die Holzbude war jetzt vollgepfropft mit Monteuren, Schweißern, Fräsern und deren Gehilfen. Es war eine bunte Versammlung: Russen, Ukrainer, Tataren, Mongolen, Juden, meist junge Leute und beinahe alle noch vor kurzem Landarbeiter. Einige jedoch, wie Iwanow, hatten lange Erfahrung als Industriearbeiter. Da war zum Beispiel Popow. Er war seit zehn Jahren Schweißer und hatte in einem halben Dutzend Städte gearbeitet. Dagegen hatte Chaibulin, der Tatare, niemals eine Treppe, eine Lokomotive oder eine elektrische Lampe gesehen, ehe er vor einem Jahr nach Magnitogorsk kam. Jahrhunderte lang hatten seine Vorfahren Viehzucht auf den platten Steppen von Kasakstan betrieben. Sie hatten dort gewisse nebelhafte Vorstellungen von der Zarenherrschaft; sie mussten Steuern bezahlen. Im Jahre 1916 hörten sie vom Kirgisenaufstand, dann von der Oktoberrevolution. Sie sahen auch die Rote Armee kommen und einige reiche Gutsbesitzer vertreiben. Sie besuchten Sowjetversammlungen, ohne recht zu begreifen, um was es sich eigentlich handelte, aber all das hatte ihre Lebensweise keineswegs berührt. Und jetzt baute Schaimat Chaibulin einen Hochofen, größer als jeder andere in Europa! Er hatte Lesen gelernt und besuchte eine Abendschule, um Elektriker zu werden. Er hatte Russisch sprechen gelernt, er las Zeitungen. Während eines einzigen Jahres hatte sein Leben sich mehr verändert als das seiner Vorfahren seit Tamerlans Herrschaft.

Iwanow, Kolja und ich kamen in die Bretterbude, gerade als die Sirenen angefangen hatten zu tuten. Der Brigadier der Fräser, der etwa zehn Mann unter sich hatte, stand mitten im Raum und wies seinen Leuten die Arbeit für den Tag an. Die Schweißer nahmen ihre Werkzeuge und knöpften ihre Röcke zu. Die Brenner hantierten mit ihren Schläuchen und fluchten nachdrücklich, wenn sie eingefrorene Stellen fanden oder wenn Streit Um Lampen, Generatoren oder Schraubenschlüssel entstand. Als die Sirenen schwiegen, hatten die meisten munter pfeifend, scherzend und über die Kälte fluchend den Raum verlassen.

Die Vorarbeiter sammelten sich um den Tisch. Das Telefon klingelte ununterbrochen: ein Schweißer fehlte bei der Gebläseanlage, zwei Monteure, die am Gasrohr oberhalb des Hochofens arbeiteten, hatten sich nicht eingefunden. Die Belegschaft konnte den nächsten Teil des Gasrohrs nicht auf hissen, wenn sie nicht vollzählig war. Iwanow verfluchte die Abwesenden, ihre Mütter und Großmütter. Dann stürzte er fort, um zwei Mann von einer anderen Belegschaft zu leihen. Kolja schrieb eine Liste der Schweißer und ihrer Beschäftigungen aus. Er schrieb auf Zeitungspapier. Die Tinte war ein halbgefrorener Brei. Das Verzeichnis sollte als Lohnliste für den Tag dienen. Als es fertig war, steckte er es in die Tasche und begab sich zur Frischlufttrommel, um dort nach der Arbeit zu sehen. Ich nahm meine Schutzmaske und die Elektroden und begab mich zum Hochofen Nr. 3. Auf dem Wege dorthin traf ich Schabkow, einen früheren Kulaken, einen großen, heiseren Jüngling mit rotem Gesicht und freundlicher Stimme. Ihm fehlten zwei Finger der linken Hand.

„Na, Jack, wie geht’s?“ fragte er und schlug mich auf den Rücken. Mein Russisch war noch immer ziemlich schlecht, aber ich konnte doch eine einfache Unterhaltung führen und verstand beinahe alles, was man sagte.

„Schlecht“, sagte ich. „Unsere ganze Ausrüstung friert ein. Die Leute verbringen die halbe Zeit damit, sich die Hände zu wärmen.“

„Nitschewo - spielt keine Rolle“, sagte der Monteurbrigadier. „Wenn du, wie ich, in einem Zelt wohnen würdest, würdest du es nicht so kalt finden.“

„Ich weiß, dass ihr’s schwer habt“, sagte Popow, der hinzugekommen war, zu Schabkow. „Das habt ihr eben davon, dass ihr Kulaken gewesen seid.“

Schabkow lächelte breit. „Hört mal., ich will mich in keine politische Unterhaltung einlassen, aber eine Menge von denen, die in dem besonderen Stadtteil wohnen, sind nicht mehr Kulaken als ihr.“

Popow lachte. „Das wundert mich gar nicht. Aber kannst du mir sagen, wie sie eigentlich darüber entscheiden, wer nicht mehr als Kulak gilt?“

„Oh weh“, machte Schabkow, «das ist eine verdammt gefährliche Frage an einen Kerl, der gerade versucht, seine Sünden mit ehrlicher Arbeit zu sühnen. Aber wenn^s zwischen uns dreien bleiben kann, will ich’s erzählen. Die armen Bauern eines Dorfes versammeln sich und sagen: ,Der und der hat sechs Pferde; lange können wir ohne die nicht mehr im kollektiven Landbau auskommen. Außerdem hat er während der vorigen Ernte einen Knecht gehabt. 1 Die GPU. wird benachrichtigt und dann ist’s fertig. Der Betreffende bekommt fünf Jahre. Sein Eigentum wird konfisziert und der Kollektivwirtschaft übergeben. Manchmal schicken sie die ganze Familie weg. Als sie uns rausschmeißen wollten, nahm mein Bruder ein Gewehr und schoß auf die GPU. -Leute. Die schossen zurück. Mein Bruder wurde getötet. Das machte die Sache natürlich nicht besser für uns. Wir kriegten alle fünf Jahre und an verschiedenen Orten. Mein Vater soll im Dezember gestorben sein. Sicher weiß ich’s nicht.“

Schabkow nahm seinen Tabaksbeutel und seine Rolle Zeitungspapier heraus und hielt beides Popow hin: „Bitte sehr, Kulakentabak gefällig?“ Er lächelte bitter.

Popow zeigte sich durchaus nicht abgeneigt und rollte sich eine Zigarette.

„Ja, ja, es geschieht allerhand, wovon wir nichts zu hören bekommen. Aber im ganzen genommen sieh mal, was wir hier machen. In einigen Jahren werden wir die größte Industrie der Welt haben. Alle werden wir Automobile besitzen und es wird keinen Unterschied mehr geben zwischen Kulaken und anderen.“ Und Popow deutete dramatisch auf den turmhohen Hochofen. „Kannst du lesen?“ fragte er Schabkow.

„Gewiss“, antwortete Schabkow. „Ich bin drei Jahre zur Schule gegangen. Sogar ein bisschen Algebra hab’ ich gelernt. Aber, was Teufel, nützt mir das? Sogar wenn ich wirklich gebildet wäre, würden sie mich keine bessere Arbeit ausführen lassen. Was nützt es mir, zu studieren? Übrigens lassen sie mich nur in die Vorbereitungsschule. Wenn ich von der Arbeit heim komme, muss ich mich ein bisschen rühren und vergnügt sein.“ Schabkow berührte seine Gurgel mit dem Zeigefinger, ein Zeichen für jeden Russen, dass er sich berauschen will. Wir waren inzwischen zum Hochofen Nr. 3 gekommen. Schapkow ging zu einer Leiter und verschwand im Stahlgewirr. Mit gerunzelter Stirn schaute Popow ihm nach. Schapkow war einer der besten Brigadiers. Er sparte weder sich selber noch seine Leute. Und er hatte einen guten Kopf. Und trotzdem war er ein Kulak, der eine Strafe abdiente, der in einem bestimmten Stadtteil unter Aufsicht der GPU. lebte, ein sozialer Schädling. Merkwürdige Sache; Popow verstand sich nicht recht darauf.

Popow und ich schweißten jetzt einen Teil der Ausblastrommel des Hochofens fest. Er war so freundlich, während der ersten Stunde die Außenseite zu nehmen. Danach tauschten wir. Als ich oben auf dem hohen Gerüst saß, beinahe dreißig Meter über dem Boden, konnte ich Kolja bei der Überwachung seiner dreißig, vierzig Schweißer beobachten. Er half ihnen, wenn etwas schief ging, und er fluchte, wenn sie sich zu lange die Hände wärmten. Und die Leute schimpften über ihn, weil die Gerüste unsicher und die Löhne schlecht waren.