Ein Tag in Magnitogorsk

Die große Sirene auf der Kraftstation ließ ein langgezogenes Signal ertönen. Es war sechs Uhr. Überall in der weitverzweigten Lagerstadt Magnitogorsk rollten die Arbeiter aus den Betten oder von ihren Schlafbänken und zogen sich für ihr Tagewerk an.

Ich stieg aus dem Bett und machte Licht. Mein Atem stand wie eine Rauchfahne im Raume, als ich meinen Zimmergenossen Kolja weckte. Kolja hörte die Sirene niemals. Jeden Morgen musste ich ihn in die Schulter knuffen, um ihn zu wecken.


Wir warfen unsere rauen braunen Armeedecken über die Betten und kleideten uns so rasch wie möglich an. Ich hatte glücklicherweise gute, wollene Unterkleider; Kolja hatte nur kurze baumwollene Unterhosen und eine wollene Unterjacke. Beide zogen wir Militärhemden an, wattierte Baumwollhosen, ebensolche Jacken, dicke Halstücher und sehr zerrissene Lammfellröcke. Unsere Füße steckten wir in gute russische „Walinki“, zu den Knien hinaufreichende Filzstiefel. Wir aßen nichts. Außer Tee und ein paar Kartoffeln hatten wir nichts zur Hand, und es fehlte uns die Zeit, um in unserem kleinen selbstverfertigten Eisenofen Feuer zu machen. Wir schlossen ab und trabten zur Fabrik.

Es war im Januar des Jahres 1933. Die Temperatur hielt sich bei etwa fünfunddreißig Grad unter Null. Leichter Staubschnee bedeckte die Senkungen des Bodens. Die hochgelegenen Stellen waren kahl und hart wie Eisen. Einige Sterne glitzerten am Himmel und ein paar elektrische Lampen leuchteten bei den Hochöfen. Im übrigen war die Welt öde und kalt und beinahe pechschwarz.

Es waren drei Kilometer bis zu den Hochöfen über unebenen Boden. Es war windstill, was unsere Nasen vor dem Erfrieren bewahrte. Dieser Winter war mein erster in Russland, und ich war die Kälte noch nicht gewohnt.

Neben dem Fundament des Hochofens Nr. 4 befand sich eine Bretterbude, eine einfache Verschalung mit einem aufgenagelten Wellblechdach. Der einzige Raum wurde vollständig von einem mächtigen geschweißten eisernen Ofen beherrscht, der in der Mitte auf einer halbzolldicken Stahlplatte stand. Die Uhr zeigte erst halb sieben, als Kolja und ich die Tür aufstießen. Drinnen war es kalt und dunkel. Kolja suchte einen Augenblick den Schalter und machte dann Licht. Eine große 500 Watt-Lampe hing von der Decke herunter und erhellte jeden Winkel des kahlen Raums. Längs der Wände standen provisorische Holzbänke und in einer Ecke ein abgenutzter Tisch mit zwei dreibeinigen Stühlen. Hinter einer halboffenen Tür gegenüber dem Eingang sah man einen sehr großen Vorratsraum, dessen Wände mit Azetylenlampen geschmückt und mit Schläuchen, Schraubenschlüsseln und anderen Ausrüstungsgegenständen dekoriert waren. Der Boden der Garderobe war mit Elektroden, Karbidgeneratoren und Schmutz bedeckt. Die Wände waren kahl, abgesehen von zwei kleinen dreieckigen Fensterluken und einem Wandtelephon.

Kolja, der Vormann der Schweißer, war zweiundzwanzig Jahre alt, langbeinig und breitschultrig. Besonders viel Fleisch hatte er nicht auf den Knochen, und sein Gesicht hatte Leichenfarbe, was damals in Magnitogorsk das Gewöhnliche war. Sein ungepflegtes strohblondes Haar war sehr lang und schaute unter der Pelzmütze hervor. Seine Lammfelljacke war zerrissen vom Kriechen durch enge Röhren und von spitzen Ecken. Aus jedem Riss schaute Wolle heraus, ähnlich dem Schnurrbart eines polnischen Zollbeamten. Seine Hände waren schwielig und schmutzig. Die Sohlen der „Walinki“, die er an den Füßen hatte, waren nicht erstklassig. Sein Gesicht und sein Benehmen zeugten von außerordentlicher Energie.

Das Telefon klingelte. Kolja nahm den Hörer und knurrte mit heiserer Stimme: „Mit wem wollen Sie sprechen? . . . Ja, das bin ich. . . . Nein, das weiß ich nicht. Es ist noch niemand hier. Rufen Sie in einer halben Stunde wieder an.“ Er hängte den Hörer auf, knüpfte seine Pelzjacke auf und schnäuzte sich auf den Fußboden. Ich holte unseren provisorischen Ofen aus der Garderobe, einen Eisenrahmen, der von Asbeststreifen und Stahldraht irgendwie zusammengehalten wurde, und stellte ihn in die Nähe des Tisches. Kolja koppelte zwei Verbindungsdrähte an Leitungsenden in der Wand. Das Licht wurde schwächer und ein leises Surren verriet den geringen Widerstand der Drahtrolle, die in einer halben Minute rotglühend wurde. Kolja brummte etwas, nahm den umgekehrten elektrischen Lampenhalter, der als Tintenfass diente, und stellte ihn unter den Ofen auf den Fußboden. Während er auf das Auftauen der Tinte wartete, zog er die Tischschublade auf und nahm ein paar verschlissene, schmutzige Blätter heraus.

Die Tür öffnete sich und ein paar in Lammfell gekleidete Gestalten kamen herein. „Da seid ihr ja, Leute, wie wäre es mit einem Feuerchen?“ sagte Kolja, ohne aufzuschauen. „Wir können nicht den ganzen Raum mit Elektrizität wärmen.“ Die beiden Monteure nahmen die Halstücher ab, die sie über Kinn und Mund geschlungen hatten, befreiten sich von den Handschuhen und rieben den Frost von den Augenwimpern. „Kalt“, sagte der eine. „Nado sakuritj!“ Man muss was zu rauchen haben! Sie gingen zum elektrischen Ofen, holten Rollen schmutzigen Zeitungspapiers hervor und ein Paket „Machorka“, eine sehr billige Tabaksorte. Sie rollten sich Zeitungspapierzigaretten, groß wie Havannazigarren und entzündeten sie am Ofen. Ich folgte ihrem Beispiel.

Die Monteure waren junge Leute. Sie hatten sich offenbar viele Tage nicht rasiert. Ihre blauen Augen waren die Augen von einfachen, unschuldigen Bauernburschen, aber ihre Stirnen und Wangen waren mit Narben und Frostschäden bedeckt, und ihre Hände waren schmutzig und knorrig. Die Tür öffnete sich wieder, und ein bärtiger Mann, der anfangs der Fünfzig war, trat ein. Er war so groß, dass er sich bücken musste, um hereinzukommen. „Guten Morgen, Genossen“ dröhnte er gutgelaunt.

„Hallo, Kusmin“, sagte Kolja aufschauend. „Willst du Feuer anmachen? Wenn der Vormann kommt und merkt, dass es hier warm ist, obwohl nur der elektrische Ofen im Gang ist, wird er uns zur Hölle wünschen!“
„Hat man jemals gehört, dass der Vormann um halb sieben hier ist?“ warf einer der Monteure ein und schob seine Riesenzigarette in den anderen Mundwinkel.

Kusmin lächelte gutmütig. „Gut“, sagte er, ohne sich um die Bemerkung des Monteurs zu kümmern. Er öffnete die Tür des großen eisernen Ofens. Als die beiden Monteure merkten, dass er wirklich Feuer machen wollte, griffen sie zu, und in fünf Minuten war der Ofen voll Holz. Das meiste stammte von einem Stapel Eisenbahnschwellen vor der Bretterbude. Kolja schaute weg, als Kusmin ungefähr einen halben Liter Petroleum aus einer Lampe in den Ofen goss. Einer der Monteure warf ein Streichholz in den Aschenbehälter; eine dumpfe Explosion ließ die Fenster erzittern und gleich darauf flammte ein knatterndes Feuer auf.

Arbeiter kamen nun einer nach dem anderen, sammelten sich ums Feuer und streckten Hände und Füße aus, um sich zu wärmen. Ungefähr zwanzig Minuten vor sieben kam Iwanow, der Vormann der Monteure, drückte Kolja die Hand und griff zum Telefonhörer. Er war ein breitschultriger Mann mittleren Alters mit tief gefurchtem Gesicht und einem spöttischen Ausdruck um die Mundwinkel. Er war Pole und Parteimitglied, hatte drei Jahre in der Roten Armee gekämpft und bei Brückenbauten von Warschau bis Irkutsk gearbeitet. Nach einem missglückten Versuch, mit dem Lagerhaus zu sprechen, um Bolzen zu bekommen, die er brauchte, hing er ab und nahm Kolja beim Arm. „Gehen wir die Arbeit kontrollieren“, sagte er. Die beiden Vormänner verließen das Haus. Iwanow steckte ein Bündel Pläne in die Tasche und schimpfte gutmütig über die Kälte und den Lagerhausverwalter, über die Ausländer, welche Brücken mit halbzölligen Bolzen konstruierten, und die Telefonisten.

Inzwischen war der eiserne Ofen beinahe rotglühend geworden und die Männer sammelten sich um ihn in einem immer weiter werdenden Kreis, rauchend und schwatzend.

„Ich weiß wirklich nicht, was wir mit unserer Kuh machen sollen“, sagte ein junger Bursche, der einen Schneidbrenner unter den Strick gesteckt hatte, der ihm als Gürtel diente. Bekümmert rieb er sich das Kinn mit der Außenseite seiner rauen Hand. Seine blauen Bauernaugen schauten durch die Wände der Bretterbude, durch Hochöfen, durch Haufen noch nicht errichteter Baugerüste, über dreihundert Kilometer schneebedeckter Steppen bis zu dem Dörfchen, das er vor sechs Monaten verlassen hatte. „Zwei Wochen brauchten wir, um herzukommen“, sagte er ernst zu einem neben ihm sitzenden Schweißer, „um über die Steppe zu marschieren mit Sack und Pack und die verdammte Kuh hinter uns herzuziehen — und jetzt gibt sie nicht einen Tropfen Milch.“

„Was zum Teufel gibst du ihr denn zu fressen?“ fragte der Schweißer gedankenvoll.

„Das ist ja die Sache“, sagte der junge Fräsergehilfe und schlug sich aufs Knie. „Hier kommen wir den ganzen langen Weg nach Magnitogorsk, um Brot und Arbeit auf den neuen Anlagen zu finden, und dann kann man nicht einmal Futter für die Kuh bekommen, noch weniger für sich selber! Hast du heute morgen im Essensaal gegessen?“

„Ja, ich hab’s versucht“, sagte ein Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht. „Nur fünfzig Gramm Brot und eine verdammte Suppe, die schmeckte, als ob sie aus Zündhölzern gekocht wäre.“ Er zuckte die Achseln und spuckte zwischen seinen Knien auf den Boden. „Aber . . . wenn wir Hochöfen bauen wollen, werden wir vermutlich eine Weile am Essen sparen müssen.“

«Natürlich», sagte ein Schweißer in gebrochenem Russisch. «Oder glaubst du, es ist irgendwo besser? Zu Hause in Polen haben wir seit Jahren kein anständiges Essen mehr gehabt. Deshalb ging unser ganzes Dorf über die Sowjetgrenze. Komisch, wir haben uns eingeredet, dass hier mehr zu essen wäre, als wirklich der Fall ist.“

Vladek, der polnische Schweißer, war einer der vielen Polen, die nach Russland gekommen waren, unzufrieden mit den Verhältnissen im Pilsudski-Polen und bereit, mit glühendem Enthusiasmus an der Verwirklichung der sozialistischen Ideen in Russland teilzunehmen. Das Gerücht von dem, was dort vor sich ging, war über das weiß-russische Land gesickert, und weiter vorbei an den polnischen Grenzwachen und Zensurbeamten. Diese Gerüchte veranlassten viele, sich über die Grenze zu begeben, ohne viel mehr als das, worin sie gingen und standen, um sich den sowjet-russischen Arbeitern anzuschließen. Wenn Vladek das Wort nahm, wandten sich alle Arbeiter ihm zu und lauschten interessiert.

„Sag“, fragte ein junger Arbeiter, „warum macht ihr nicht eine Revolution in Polen?“

„Glaubst du wirklich, dass die's nicht versuchen?“ fragte ein stämmiger Monteur. „Die Komsomols in Polen sind ausgezeichnet.“

Vladek rümpfte die Nase. „Ja, aber das ist nicht so leicht getan wie gesagt“, meinte er ruhig. „Man fliegt ins Gefängnis oder wird geprügelt, na, versuch mal, ’ne Revolution zu machen.“

„Red keinen Stuss“, sagte Kusmin, „unser Regiment meuterte an der galizischen Grenze. Wir töteten die Offiziere, befreiten unsere Kameraden aus dem Gefängnis, zogen nach Hause und nahmen das Land.“

In diesem Augenblick platzte ein junger kräftiger Arbeiter geräuschvoll hinein und bahnte sich einen Weg zum Ofen. „Junge, was das kalt ist!“ rief er, indem er sich an alle im Zimmer wandte. „Ich glaube, wir können heute nicht da oben arbeiten. Ein Nieter ist gestern abend da oben erfroren. Er ist wahrscheinlich in ein Ölrohr gekrochen, und erst heute morgen hat man ihn gefunden.“

„Wer ist er?“ fragten alle auf einmal.

Aber niemand wusste, wer der Tote war. Er war nur einer der vielen Tausende junger Arbeiter und Bauern, die nach Magnitogorsk gekommen waren, um eine Brotkarte zu bekommen oder weil die Verhältnisse in den neuen kollektivistischen Dörfern unleidlich waren oder auch weil sie von Begeisterung für die sozialistische Aufbauarbeit glühten.