Achte Fortsetzung

Gegen sechs sammelte sich etwa ein Dutzend junger Arbeiter, Männer und Frauen, in der Roten Ecke mit ein paar Balalaikas und einer Gitarre. Die Tagesarbeit war getan, das Abendessen stand auf dem Feuer, und nun war es Zeit, zu singen. Und sie sangen! Revolutionäre Arbeiterlieder, Volkslieder und altrussische Lyrik. Ein junger Ukrainer tanzte. Ein Tatare sang ein paar heimatliche Lieder. Die Balalaikas wurden sehr geschickt behandelt. Ich habe mich stets über die große Anzahl russischer Arbeiter gewundert, die Balalaika spielen konnten. Sie lernten die Kunst während langer Winterabende in den Dörfern.

Plötzlich begann eine Erörterung. „Warum bekommen wir nicht mehr Zucker? Wir haben in diesem Monat nur zweihundert Gramm bekommen. Tee ohne Zucker kann man nicht trinken.“ Beinahe alle hatten etwas zu sagen. Ein junger Mann erklärte, dass die Zuckerernte des letzten Jahres schlecht war. Die Zuckerfabriken konnten nur fünfzig Prozent des berechneten Bedarfs liefern. Ein anderer wies darauf hin, dass die Sowjetunion beträchtliche Mengen Kandiszucker exportierte, der in gewöhnlichen Zucker verwandelt werden könne.


„Wir müssen immer noch eine ganze Menge exportieren, um Walzwerke und andere solche Sachen zu kaufen, die wir noch nicht selber machen können.“

Einige Frauen schienen wenig überzeugt. Früher hatte es immer Zucker gegeben, außer im Kriege. Jetzt war ja nicht Krieg, also müsste es Zucker geben. Vor allem die älteren Frauen hatten sich noch nicht daran gewöhnt, Geld zu haben, mit dem sie nicht das kaufen konnten, was sie brauchten. Früher war Geld Wertmesser ihres Wohlstandes gewesen. Ein guter Lohn bedeutete, dass sie von allem das Beste haben konnten. So war es wirklich während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre gewesen, besonders in den ukrainischen Industriebezirken, wo die Arbeiter, die Beschäftigung hatten, im allgemeinen gut essen konnten. Jetzt hatte das Geld allerdings eine andere Bedeutung erhalten. Die Größe der Lohntüten, die Zahl der Banknoten unter der Matratze bestimmten nicht den Lebensstandard. Alle hatten Geld, aber was man zu essen hatte oder womit man sich kleidete, das war beinahe vollständig davon abhängig, was sich in dem Laden, auf den man angewiesen war, vorfand. War man ein ausländischer Spezialist oder ein großes Tier in der GPU. und hatte Zutritt zu den besonderen Ausländerläden, so konnte man Kaviar, kaukasischen Wein, importierte Sachen und eine reichliche Auswahl Schuhe, Kleider und anderer guter Dinge haben. Ingenieure, Vorarbeiter, wie Sjemitschkin und Kolja, hatten Karten für einen Laden für Techniker, wo sie Brot und manchmal Fleisch, Butter, Fische und gewisse Manufakturwaren bekommen konnten. Die meisten aber waren wie Popow auf die Arbeiterläden angewiesen, wo Brot das einzige war, was man mit Sicherheit einigermaßen regelmäßig erhalten konnte. Manchmal geschah es, dass man einige Tage lang auch kein Brot bekommen konnte. Da aber die meisten Arbeiter mit einer Hungersnot rechneten, hatten sie einen Zwiebackvorrat gesammelt, der ihnen über solche Perioden hinweghelfen sollte.

Meine Karte verwies mich zum Laden der Arbeiter, und ich wäre gezwungen gewesen, mich so gut es eben ging, durchzuschlagen, wenn Kolja mir nicht geholfen hätte. Er verlangte für mich eine Karte zum Einkauf im „Insnab“, der berühmten und sagenumsponnenen Verkaufsstelle für Ausländer, und er setzte es durch, obwohl ich laut Gesetz diesen Vorzug nicht genießen durfte, da ich nicht auf Grund eines Kontrakts mit dem „Amtorg“ nach der Sowjetunion gekommen war, sondern aus eigenem Antrieb. Meine größte Schwierigkeit war, rechtzeitig während der Verkaufszeit zum Insnab zu kommen. Immerhin gelang es uns, dank meinem Insnabbuch und Koljas vielen Lebensmittelkarten und seinen Karten für den Technikerladen ziemlich gut zu essen, sicher besser als die meisten in unserer Baracke, und viel besser als die meisten Arbeiter in der lang hingestreckten Stadt Magnitogorsk.

Die Lebensmittelverhältnisse waren ständiges Diskussionsthema bei den gelegentlichen kleinen Zusammenkünften in der Roten Ecke der Baracke vor oder nach dem Mittagessen. Immer schien jemand zur Hand zu sein, der versuchte, die gegenwärtige Lage zu erklären, und für gewöhnlich schienen die meisten von den Erklärungen befriedigt.

„Wartet nur fünf oder zehn Jahre, dann werdet ihr sehen, dass wir keinen einzigen Sack mehr von der kapitalistischen Welt brauchen“, sagte Anja, ein junger weiblicher Schweißer. „Dann sind wir nicht mehr zum Export von Lebensmitteln gezwungen. Wir können selbst alles aufessen.“

„In fünf oder zehn Jahren wird es keine Kapitalistenwelt mehr geben“, sagte ein junger Monteur und machte eine verächtliche Handbewegung. „Was glaubt ihr wohl, was haben die Arbeiter dort vor? Bildet ihr euch ein, dass sie noch weiter zehn Krisenjahre hungern wollen, vorausgesetzt, dass nicht inzwischen Krieg kommt? Das lassen sie sich nicht gefallen.“

„Natürlich nicht. Sie machen Aufruhr“, sagte ein anderer. „Und wir werden ihnen helfen, wenn es so weit ist.“

Danach ging die Unterhaltung auf prosaischeres Gebiet über. Beljakow, der Lagerverwalter für die Hochofenabteilung, war ein Bürokrat. Jeder hatte etwas Schlechtes von ihm zu sagen. An den Händen zu frieren oder ohne Zucker auszukommen, das ging noch an. Das kam vom Klima oder der allgemeinen Politik der Sowjetregierung. Aber mit einem Bürokraten wie Beljakow zu tun zu haben, der es liebte, wie ein Gendarm oder ein mittelalterlicher Feudalherr aufzutreten, das war wirklich zu viel.