Sechzehnter Abschnitt. - Ich billige Ihre Ansicht vollkommen und danke Ihnen für Alles, was Sie thun, ...

Ich billige Ihre Ansicht vollkommen und danke Ihnen für Alles, was Sie thun, Clara’s Gefühle zu schonen, antwortete der Doctor.

Und nun Eduard! sagte William, noch eine Bitte. Ich habe Sie seit unserm ersten Begegnen für einen seltenen Mann gehalten; weil Sie der sind, lassen Sie es mich nicht entgelten, daß ich glücklicher bin als Sie. Ich werde bald eine Frau haben, die ich liebe – soll ich deshalb den Freund verlieren, den ich gewonnen zu haben glaubte?


Nein, bei Gott! das sollst Du nicht! rief Eduard, hingerissen von William’s Worten. Glaube mir, William! daß ich Dich aus Grund der Seele achte; aber wundre Dich nicht, wenn mir jetzt, wo ich von den Hoffnungen meiner Vergangenheit so plötzlich scheide, Gegenwart und Zukunft noch umwölkt erscheinen; wenn ich keinen andern Gedanken habe, als wie groß das Glück war, auf das ich verzichten mußte. Dir vertraue ich dies Glück an, und könnte mich Etwas trösten, so wäre es das Bewußtsein, Clara an Dich, an den Würdigsten verloren zu haben.

Arm in Arm kehrten sie zu den Uebrigen zurück, sie fanden Steinheim in der Familie, der eben dazu gekommen war. Ich schwöre Ihnen, sagte er, ich wäre längst einmal hieher gekommen, wenn die fatale Hitze mir nicht eine vollkommene Nervenabspannung zu Wege brächte; besonders da die Stadt so still und einsam ist, wie Pompeji vor der Ausgrabung.

So bringen Sie uns keine Neuigkeiten mit, und wir Landleute wissen mehr als Sie. Denken Sie nur, der räuberische Engländer entführt uns Clara schon in der nächsten Woche! bemerkte Jenny.

Ja! dann hat er ein Recht, stolz zu sein, weil wir dann das Einzige an ihn verlieren, um das England uns beneiden mußte, rief Steinheim, Posa’s Worte parodirend, indem er sich gegen Clara tief verneigte.

Die Hitze macht Sie nicht galanter, sagte Jenny lächelnd, denn Sie vergessen, daß William mich nicht ebenfalls mitnimmt, sondern daß ich hier bleibe, um mich an Ihnen für Ihren Mangel an Galanterie zu rächen.

Gehört die Rache auch zu den christlichen Tugenden einer Frau Pfarrerin? fragte Steinheim, und da Jenny, gegen sein Erwarten, nichts darauf erwiderte, sondern die Frage fallen ließ, wendete er sich zu den Herren, die, seitwärts stehend, mit einander sprachen. Bald aber kehrte er wieder zu den Damen zurück, weil, wie er behauptete, da, wo die Männer säßen, ein furchtbarer Zugwind wehe, von dem man in dieser Witterung den Tod haben könnte. Man lachte ihn aus, und doch war er heute Clara willkommen. Seine Anwesenheit, seine Unterhaltung, auch wenn sie, wie fast immer, nur sein „Ich“ betraf, zogen die Aufmerksamkeit von ihr ab; und je größer der Zirkel wurde, um so ungestörter konnte sie sich in die Erinnerung alles Dessen versenken, was sie in diesem Kreise erlebt hatte, und was sich heute unwillkürlich ihrem Geiste aufdrängte.

Sehen wir Sie vor Ihrer Hochzeit noch? fragte die Hausfrau sie, als sie später schieden.

O, gewiß! antwortete Clara, ich komme noch Abschied von Ihnen Allen zu nehmen, da wir gleich nach der Trauung abreisen. Denken Sie unser, wenn wir nicht mehr hier sein werden! bat sie mit kaum unterdrücktem Weinen, und ihr Blick traf Eduard, der ihn nur zu wohl verstand. William aber machte der stummen Scene schnell ein Ende und führte seine Braut davon.

Die Trauung des neuen Ehepaares war vorüber; die junge Frau in Reisekleidern war des Augenblickes gewärtig, in dem die Diener melden würden, daß Alles zur Abreise bereit sei. Die Gäste hatten sich entfernt, nur Jenny und Eduard waren noch geblieben. In sich gekehrt sah dieser kaum, was um ihn vorging; er wünschte, der schwere Kampf des Scheidens wäre an Clara und ihm bereits vorüber. Die Commerzienräthin sprach mit ihrem Schwiegersohne und empfahl ihm die dringendste Vorsicht für die junge Frau, welche Hand in Hand mit ihrem Vater da saß, der in ihr seine einzige Freude verlor.

Da trat ein Diener herein und wie ein elektrischer Schlag durchzuckten Jeden die einfachen Worte: Der Postillon hat angeschirrt!

Weinend schieden die Eltern von der einzigen, schönen Tochter; weinend sank sie Jenny in die Arme und wollte, sich gewaltsam losreißend, an Eduard vorüber, ihrem Manne folgen. Dieser aber hielt sie zurück. Und Eduard? sagte er leise mahnend, und führte sie selber zu dem Freunde hin. Das war mehr als sie ertragen konnten, aber William hatte vorausgesehen, was er ihnen damit that, was er ihnen damit leistete und gewährte.

Jetzt in der Stunde der Trennung bedurfte es keines Geheimnisses, gab es keine Entweihung für diese reine Liebe mehr. Eduard zog die Geliebte, William’s Frau, tief erschüttert, an sein Herz, und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirne. Gott segne Sie! rief er, und schloß dann auch William noch einmal in seine Arme. Gott segne Euch! Er konnte nicht weiter sprechen. Ueberrascht, aber mit ehrendem Schweigen, sahen es der Vater, sah die Mutter es.

Leben Sie wohl, Eduard! Ihnen vermache ich meine Eltern, sagte Clara kaum hörbar, stehen Sie ihnen bei! – Und nun erst nahm William ihren Arm und führte sie zu dem Wagen, der sie bald den Augen der nachsehenden Freunde entzog.

Nach Clara’s Abreise schien Eduard sich plötzlich zu ermannen. Ein Leben, das ihm keine Freude bot, wollte er für Andere nützen; nicht umsonst hatte er seine Hoffnung geopfert und der Geliebten entsagt. Er fing an wieder vorwärts zu blicken, mit neuem Eifer seine medizinischen Studien und die Bestrebungen aufzunehmen, die er im Verein mit gleichgesinnten Männern schon früher für die Befreiung seiner Glaubensgenossen gemacht hatte. So hatte der Vater ihn zu finden erwartet, und das erhabenste Verhältniß bildete sich immer schöner zwischen ihnen aus, denn auf die rasche Thätigkeit des Sohnes übten die Ruhe und Weisheit des Vaters den segensreichsten Einfluß. Seit Eduard ganz von der Leidenschaft für Clara beherrscht, nur dieser und dadurch sich selbst gelebt, war er auch mit Joseph und Steinheim weniger zusammengekommen; sie nahmen den Rückkehrenden nun mit Freuden wieder auf. Jetzt erst erfuhren sie auch, welche Forderung Eduard an die Regierung gestellt, und die abschlägige Antwort, die ihm geworden, und Beide erriethen leicht, was ihn bewogen hatte, jene Angelegenheit so heimlich zu betreiben.

Wir müssen mit unermüdlicher Beharrlichkeit den Weg verfolgen, sagte Eduard, den wir für den rechten halten. Es kommt nur darauf an, daß wir ausharren, nicht verzagen und immer wieder kommen, so oft man uns auch abweist.

Das werden sie jüdische Unverschämtheit nennen! bemerkte Joseph.

Mögen sie es immerhin. Nur in der Beharrlichkeit liegt Hoffnung, nur wenn wir unablässig dagegen stürmen, können die Verschanzungen fallen, hinter denen sie uns unsere Rechte vorenthalten; und fallen müssen sie. Unser Recht muß uns werden.

„Und wär’ es mit Ketten an den Himmel geschlossen!“ unterbrach ihn Steinheim, der selbst bei einer so ernsten Unterredung, die ihm sehr am Herzen lag, seine üble Angewohnheit nicht überwinden konnte. Glücklicherweise war man so sehr daran gewöhnt, daß Niemand es weiter beachtete. Auch Joseph und Eduard hörten nicht darauf, sondern überlegten lange, ob man jetzt, nachdem Eduard’s persönlicher Wunsch abschlägig beschieden worden, dieselbe Bitte für die Juden im Allgemeinen bei der Regierung wagen solle. Sie stritten hin und her und kamen endlich überein, daß Eduard sich nach Jenny’s Hochzeit, die nicht allzu fern mehr war, selbst nach der Residenz begeben und versuchen möchte, was dort zu erreichen sein würde. Nach diesem Beschlusse verließ Steinheim die Andern, und Eduard, der erst jetzt wieder auf seine Umgebung aufmerksam zu werden anfing, sagte zu Joseph: Da wir Jenny’s Hochzeit erwähnen, sage mir, Du, der Du meine Schwester nie aus den Augen verloren hast, was quält Jenny? liebt sie Reinhard nicht? scheut sie sich vor dem Leben auf dem Lande? oder was geht sonst mit ihr vor? Ich finde sie geistig in einer Weise verändert, die mich um so mehr überrascht, als sie mir bis jetzt gänzlich entgangen war.

Du hast Recht! sagte Joseph, aber wir können ihr nicht helfen, sie quält sich selbst, und ich weiß nicht, wie das enden wird.

Wie meinst Du das? fragte Eduard bestürzt.

Ich bin überzeugt, Jenny ist ohne allen Glauben an die christlichen Dogmen Christin geworden, und der Gedanke, einen Meineid geschworen zu haben, peinigt und verfolgt sie mit einer Gewissensangst, vor der sie sich nicht zu schützen weiß.

Wär’s möglich? – Sollte es Das sein? Was bringt Dich auf die Vermuthung?

Jenny’s ganzes Wesen und vor Allem eine Unterhaltung, die ich vor einigen Tagen mit ihr hatte. Sie brachte absichtlich das Gespräch auf Religionsverschiedenheit und gestand mir, jetzt, da sie Christin geworden wäre, käme sie sich manchmal wie ausgeschlossen oder verstoßen von den Ihren vor. Es sei ihr, als wenn sie nicht mehr wie sonst zu den Eltern gehöre, obgleich sie sich doch Reinhard durch die Taufe nicht näher gebracht fühle. Sie fragte mich, was ich von dem Eide denke? ob ich überhaupt glaube, daß alle sogenannten Sünden auch Sünden vor Gott seien? und sie äußerte sich überhaupt in einer Art, die mir bei ihrem Geiste lächerlich und kindisch erschienen wäre, wenn ich nicht darin eine vollkommene, innere Verwirrung, einen Zwiespalt gefunden hätte, der mir herzlich leid that. Zuletzt sagte sie mir, sie könne den Gedanken nicht fassen, nicht mit ihren Eltern auf demselben Kirchhofe zu ruhen. Ich stellte ihr vor, das sei eine Thorheit; auch wir, obgleich noch Juden, könnten leicht fern von allen Freunden eine Ruhestatt finden, und es sei gewiß höchst gleichgültig, wo man uns begraben würde. Sie aber blieb dabei, es wäre ihr schrecklich, und war überhaupt in einer Stimmung, in der jeder Vernunftgrund fruchtlos bleiben mußte.

Das arme Kind! rief Eduard, was kann man für sie thun?

Wir müssen sie sich selbst überlassen. Ich bin überzeugt, daß sie den Ausweg finden wird. Das muß man abwarten und ich hoffe, sie findet ihn bald, besonders, wenn irgend ein äußerer Anlaß ihrer Unentschlossenheit zu Hülfe käme und sie veranlaßte, sich offen darüber zu erklären, wo eigentlich die Quelle ihres Leidens liegt.

So laß uns gemeinschaftlich über sie wachen, bat Eduard, damit wir den rechten Augenblick nicht verfehlen, wenigstens Jenny glücklich zu machen, da wir es nicht geworden sind.

Leidensgefährte! – sagte Joseph mit einer Miene und einem Tone, die ein eigenthümliches Gemisch von Spott und Schmerz ausdrückten. Wir wollen sie behüten, so gut es geht, aber ich fürchte, auch ihr ist nicht zu helfen!

Und leider war Joseph’s Vermuthung nur zu richtig. Je glücklicher sich Jenny in Reinhard’s Liebe fühlte, um so mehr demüthigte sie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu sein. Von frühster Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas so Unedles, so Verächtliches dargestellt, daß sie sich nur mit Entsetzen zu gestehen vermochte, wie tief sie sich in dieselbe verwickelt habe. Der Zustand ihrer Seele möchte für Denjenigen, der ihn nicht von selbst versteht, schwer zu beschreiben sein. Sie fühlte sich dem Elemente, in dem sie geboren, der Atmosphäre, in der allein sie athmen konnte, entrissen. Man hatte sie gelehrt, wahr gegen sich selbst, gegen jeden Andern zu sein, und Recht und Wahrheit waren die Sterne gewesen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt. Gott ist die Wahrheit, das Recht, das Gute und das Schöne, hatte ihr Vater ihr stets gesagt, und so lange Du das Recht thust, so lange Du wahr bleibst, bist Du Gottes Kind und mein liebes Kind! – Stundenlang konnte die Erinnerung an diese freundlichen Worte, bei denen sie sich sonst so glücklich gefühlt, sie jetzt quälen. Nachdem sie damit angefangen hatte, unwahr gegen sich selbst zu sein, hatte sie durch eine damals unfreiwillige Selbsttäuschung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt, zum Christenthume überzutreten, an das sie zu glauben wähnte. Als aber der Zweifel in ihr erwachte; als sie mit aller Anstrengung und dem Aufwande von tausend Scheingründen in sich die Lehren Reinhard’s und des Pastors zu begründen strebte; da, sagte sie sich jetzt, da habe sie gewußt, daß sie niemals werde glauben können, was sich gegen ihre Vernunft sträube; und daß sie dennoch, trotz dieser innern Gewißheit, Christin geworden sei, daß sie ihren Vater, Reinhard und sich selbst habe hintergehen wollen, das war ein Verbrechen, um dessentwillen sie sich verächtlich vorkam, eine Sünde, die sie sich nicht vergeben konnte. Aber was ist Sünde? fragte sie sich dann wieder. Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich selbst ohne sie elend werden mußte, kann Gott ein Unrecht strafen, das aus großer Liebe begangen wurde? Einen Augenblick fühlte sie sich dann frei und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den Kampf, den es sie gekostet, aus Liebe gegen ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus Liebe ein Opfer gebracht, das ihr schwer geworden war, sie hatte sich selbst überwunden – das war es ja gerade, was Gott von uns verlangt – und diese Idee gab ihr Ruhe, bis sie sich gestand, daß auch dies wieder eine Unwahrheit sei. Nicht nur um glücklich zu machen, sondern um es zu werden, war sie Christin geworden; es lag Selbstsucht auch in dieser Handlung, und die Bemerkung, daß es ihr fast zur Gewohnheit geworden, sich nach ihrem Bedürfniß selbst zu täuschen, vermehrte ihre Seelenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urtheil raubte. Eine Furcht vor der Strafe Gottes bemächtigte sich ihrer Seele, und sie, die nicht an die mystischen Lehren des Christenthums zu glauben vermochte, überließ sich fast willenlos dem Aberglauben des alten Testaments, das Gott einen Rächer nennt, das Böse strafend bis in das fernste Glied. Auch Reinhard, sagte sie sich, ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfassen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, daß ich nicht glaube. Was soll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht verzeihen können! Auch er wird in den heillosen Kampf zwischen seiner Liebe und seinem Glauben gerathen; auch auf sein theures Haupt werde ich das Elend herabbeschwören, das mich nicht ruhen läßt, und das wird die erste Strafe sein, mit der Gott meine Sünden rächt.

In dieser Verfassung ihrer Seele vermehrten die Briefe des Geliebten ihr Leiden. Sie sprachen ihr warme Liebe und ein volles unbedingtes Vertrauen aus. Er schilderte ihr das Glück einer Ehe, wie er sie an ihrer Seite erwarte, die, auf gleichen Ansichten, gleicher Ueberzeugung gegründet, in gemeinsamem Streben nach Vollkommenheit, den Himmel auf Erden bieten müsse; und meldete ihr endlich voller Freude, daß der Tag zu seiner Ordination bestimmt sei und er, sobald ihm diese Weihe geworden, zurückkehren werde, um sie heimzuführen. Seine Mutter, die seiner Ordination beizuwohnen wünsche, sei bereits bei ihm und werde mit ihm zur Hochzeit nach Berghoff kommen. Dann wünsche er vor derselben mit Mutter und Braut das Abendmahl zu nehmen, was Jenny bisher noch nicht empfangen hatte, und bald nach der Hochzeit abzureisen, während seine Mutter in der Stadt bleiben würde, um sie die Tage des ersten Beisammenseins ganz ungestört und allein genießen zu lassen.

Jenny’s Herz schlug freudig der langersehnten Nachricht entgegen, sie drückte das Blatt an ihre Lippen. Vor der sichern Hoffnung auf die nahe Vereinigung mit dem Geliebten war für einen Augenblick jeder andere Gedanke aus ihrer Seele geschwunden; und sie begann den Brief nochmals zu lesen, um nur keines der Worte zu verlieren, welche sie so glücklich machten. Da fiel ihr Blick auf die Stelle: Ich wünsche noch vor unserer Hochzeit mit Dir das Abendmahl zu nehmen, und auch auf diese Weise in die heiligste, innigste Gemeinschaft mit Dir zu treten, die Du bald als mein geliebtes Weib, unauflöslich, untrennbar mit mir verbunden, mein sein wirst.

Ihrer Hand entsank das Blatt, jetzt war der Augenblick gekommen! Zum zweiten Mal, wie bei der Taufe, ein Spiel zu treiben mit Dem, was Reinhard das Heiligste auf der Welt war, das vermochte sie nicht. Dies, das fühlte sie, dies war der entscheidende Moment, in welchem sie entweder sich durch einen gewaltsamen Entschluß in ihrer eigenen Achtung wieder herstellen und ihr Gewissen in Bezug auf Reinhard beruhigen, oder sich mit geschlossenen Augen in ein Labyrinth stürzen mußte, in dem sie und der Geliebte untergehen konnten.

Der Kampf war ernst und schwer, aber die Wahrheit siegte, und aufgelöst in Schmerz schrieb sie nach durchwachter Nacht, als schon das helle Tageslicht in ihre Fenster schien, folgenden Brief an Reinhard:

Geliebtester! Wie viel glücklicher wären wir Beide, wenn statt dieses Briefes die Nachricht in Deine Hände käme, Deine Jenny sei gestorben. Du würdest weinen, mein Reinhard! Du würdest um mich trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich liebst, und ich wäre, erhoben von diesem Gedanken, geschieden und hätte Ruhe. Warum konnte ich nicht sterben, als Du mich das letzte Mal in Deine Arme schlossest, als Deine Liebe mich so beglückte? Denkst Du daran, wie ich es wünschte, wie ich es Dir sagte, weil ich schon damals ahnte, daß ein Augenblick, wie der jetzige, mir bevorstehen könnte?

Bei der Erinnerung an jene Stunde beschwöre ich Dich, bei der Liebe und Nachsicht, die Du mir damals gelobt hast, stoße mich jetzt nicht von Dir, mein Geliebter! Du, der mich fast seit meiner Kindheit kennt, den ich liebte, seit ich ihn zuerst sah. Du bist mein Lehrer gewesen und kennst meine Seele; Du weißt, daß mein Geist ebenso heiß nach Wahrheit dürstet, als mein Herz Liebe verlangt. Darum kannst Du mich verstehen, darum mußt Du Mitleid mit mir haben, wenn ich Dir sage, daß ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, daß ich meine Ueberzeugung zwingen wollte, sich meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht länger.

Von Augenblick zu Augenblick zögere ich, Dir ein Bekenntniß zu machen, von dem ich fürchte, daß es Dich tief betrüben, mich in Deinen Augen heruntersetzen könne. Ich möchte Dich an all die Liebe erinnern, die uns vereint, an das Glück, das wir gemeinsam erhoffen, damit sie Dir vorschweben, wenn ich Dir Alles gesagt haben werde.

Ich glaube nicht, daß Christus der Sohn Gottes ist; daß er auferstanden ist, nachdem er gestorben. Ich glaube nicht, daß es seines Todes bedurfte, um uns Gottes Vergebung und Nachsicht zu erwerben. Die Dreieinigkeit, die er lehrte, ist mir ein ewig unverständlicher Gedanke, der keinen Boden in meiner Seele findet. Ich glaube nicht, daß es ein Wunder gibt, daß Eines geschehen kann, außer den Wundern, die Gott, der Eine, einzig wahre, täglich vor unsern Augen thut. Und selbst zu Christus, des erhabenen, göttlichen Menschen Erinnerung kann ich das Abendmahl nicht nehmen, mich nicht zu einer Ceremonie entschließen, die mir wie eine unheimliche Form erscheint, während Du die innigste Verbindung mit Gott darin feierst.

Ich kann nicht anders! Diese Ueberzeugung ist stärker als meine Liebe, als ich! Nach furchtbarem Kampfe wurde ich Christin; denn schon vor der Taufe war die Wahrheit in mir Herr geworden über eine Täuschung, die ich mit der Angst der Verzweiflung in mir zu erhalten strebte, um Deinetwillen! Lügen kann ich nicht länger, aber auch glauben kann ich nicht – kein Ausweg ist möglich; und mit dem Gefühl der tiefen Liebe, die ewig wahr und unverändert in mir ist, werfe ich mich an Deine Brust. Du sollst mir sagen, wie ich Frieden mache zwischen Liebe und Glauben, wie ich mich wiederfinde in dem Gewühl des Kampfes.

Wenn Du mich liebst, habe Mitleid mit mir, komme bald, komme gleich und laß mich aus Deinem Munde die Worte hören, die meiner Seele allein Ruhe geben können. Sage mir, daß Du mich lieben kannst, wenn ich auch nicht an Christus glaube, wie Ihr es verlangt. Ihr sagt, er sei die Liebe – nun, dann ist er mit mir, denn ich liebe Dich, wie je ein Mensch zu lieben vermochte; ich kenne kein Glück als Deine Liebe. Schreibe mir nicht! Das dauert zu lange, komme selbst, damit ich Dich sehe und in Deinen Augen die Antwort finde, die langsam aus todten Lettern zu lesen, eine Qual wäre, die Du mir ersparen wirst, weil Du mich liebst. Ja! ich weiß, daß Du mich liebst. Mit dem Glauben, sage ich Dir, auf Wiedersehen! Geliebter, Lehrer, Freund, mein Alles auf der Welt! Laß mich nicht lange auf Deine Ankunft warten, jetzt, wo jede Minute mir zu Jahren wird, bis ich Dich sehe!

Nachdem sie diesen Brief gefaltet und der Diener ihn besorgt hatte, schien es ihr, als hätte sie nichts von Dem gesagt, was sie eigentlich gedacht. Sie wollte ihn zurück haben, es anders sagen, nochmals überlegen. Sie warf sich vor, zu rasch gehandelt zu haben, sie befahl dem Diener, sich zu beeilen und Alles aufzubieten, um ihr diesen Brief zurückzubringen. Aber vergebens. Die Post war abgegangen, kein Widerruf war möglich. Nun, so mag Gott sich meiner erbarmen! rief Jenny und stürzte weinend zu ihren Eltern, die jetzt durch sie das Geschehene erfuhren und, mit ihr leidend, Alles aufboten, ihr Ruhe und Trost zu geben. Zärtlich, nur für den Augenblick besorgt, versicherte ihre Mutter, Jenny könne doch unmöglich daran zweifeln, daß Reinhard sie liebe, und sie hege das Vertrauen, ein so aufgeklärter Mann werde an seiner Braut wegen einer Meinungsverschiedenheit nicht irre werden. Sie erinnerte sie, wie duldsam sich Reinhard und die Pfarrerin gezeigt, noch ehe von irgend einem Verhältniß zu Jenny die Rede gewesen, und sprach die feste Ueberzeugung aus, Reinhard in wenigen Tagen hier und Jenny glücklich zu sehen. Und doch weinte sie mit der Tochter, denn ihr Herz war fern von den Hoffnungen, mit denen sie diese zu beruhigen strebte.

Täusche Jenny nicht mit Erwartungen, die sich nicht erfüllen werden, oder ich müßte Reinhard nicht kennen, sagte der Vater. Ich fürchte, er kommt nicht.

Gott im Himmel, was habe ich gethan! rief Jenny.

Was ich Dir zu thun gerathen hätte, antwortete ihr Vater, hätte ich Deinen Zustand früher schon gekannt. Du durftest nicht daran denken, in eine Ehe zu treten, der nach Reinhard’s Ansicht das innere Bindungsmittel fehlte. Du durftest namentlich ihn nicht täuschen über Deine Gesinnung. Jetzt hast Du Deine Pflicht erfüllt und Du wirst in dem Bewußtsein, das Rechte gethan zu haben, Kraft finden, auch das Schwerste zu ertragen.

Jenny war trostlos. Sie wollte einen zweiten Brief schreiben. Kannst Du etwas von Dem widerrufen, was Du in dem ersten gesagt? fragte der Vater. Sie mußte zugeben, das sei ihr nicht möglich. So schreibe auch nicht, bedeutete er sie.

Dann verlangte sie, gleich jetzt zu Reinhard zu reisen. Sie wollte ihn sprechen, alle seine Einwendungen besiegen, aber auch Das erklärte ihr Vater für unthunlich. Sieh, mein geliebtes Kind, sagte er, Du bist nun leider einmal in einen Kreis von Widersprüchen gerathen, aus denen nur ein gewaltsamer Ausweg möglich sein wird. Reinhard ist duldsam gegen den Andersgläubigen, aber seine Frau will er nicht nur dulden, er will sie lieben, sie soll ein Theil seines Ich’s werden. Das kannst Du nicht, wenn Du in Dem, was einmal der Mittelpunkt seines Wesens ist, so vollkommen von ihm abweichst. Selbst wenn er sich überwinden und schweigen wollte, würde schon die Nothwendigkeit, gegen seine Frau auf seiner Hut zu sein, mit ihr nicht über seine heiligsten Interessen sprechen zu können, eine Störung Eures Glückes werden, abgesehen davon, daß Deine Gesinnung gerade zu seinem Beruf in einem noch schrofferen Widerspruche steht.

Innig zog er sein leidendes Kind in seine Arme, aber er versuchte nicht, es zu trösten. Blicke fest in Dein Inneres, sagte er, dort wirst Du Quellen des Trostes finden, die uns nie fehlen, wenn ein Schmerz uns trifft, ein Unglück uns droht, das wir nicht selbst verschuldet haben. Wir Alle leiden mit Dir und Gott wird Dir beistehen.

Eine tiefe Trauer schien über dem Hause zu liegen. Jeder fürchtete, Jenny auf irgend eine Weise zu verletzen, ihr wehe zu thun. Man wollte sie schonen, sie die ganze Größe der Liebe fühlen lassen, die man für sie empfand, und selbst Therese, der die obwaltenden Verhältnisse kein Geheimniß bleiben konnten, hatte wahres Mitleid mit Jenny, die sich in stiller Ergebung zu fassen versuchte, was bei ihrem lebhaften Charakter um so rührender erschien.

Ebenso traurig sah es bei Reinhard und seiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny’s Brief wie ein Blitzstrahl aus heiterm Himmel getroffen, und er war Anfangs keiner Empfindung, keines Gedankens mächtig gewesen. Nur das Bewußtsein, daß ihm ein großes entsetzliches Unglück widerfahren sei, stand klar vor seiner Seele. Wie war das möglich, wie hatte das geschehen können? fragte er sich und saß in starrer Betäubung da, bis die Pfarrerin hinzukam und mit Schrecken den Ausdruck schweren Kummers in den Zügen ihres Sohnes erblickte. Sie fragte, was ihm geschehen sei? Statt aller Antwort reichte er ihr Jenny’s Brief. Brauchen wir zu sagen, wie er auf sie wirkte? – Sie setzte sich neben ihrem Sohne nieder und ergriff seine Hand. Sie konnten Beide keine Worte finden.

Das also ist das Ende alles meines Hoffens! rief Reinhard endlich und versank wieder in sein früheres Brüten. Und Jenny, fügte er dann hinzu, was wird aus ihr mit ihrem heißen Herzen?

Das ist meine kleinste Sorge! Für Jenny wird der Trost sich finden! meinte die Pfarrerin bitter. Denn kaum hatte sie sich von dem ersten Schrecken erholt, als ihr mit erneuerter Deutlichkeit Theresens Behauptung einfiel, Jenny liebe Erlau und habe sich schon lange nicht glücklich in Reinhard’s Liebe gefühlt. Die Pfarrerin war eine verständige, welterfahrne Frau, sie war aber auch Christin und Mutter, und tief verletzt in ihrem Glauben und in ihrem Sohne. Unzählige verschiedene Verhältnisse hatte sie im Leben kennen gelernt. Selbst in dem Kreise ihrer Bekannten gab es viele Juden, die zum Christenthum übergetreten waren und glücklich und ruhig in demselben lebten. Warum sollte Jenny allein, die ihr selbst so oft mit wahrer Erbauung von Jesu und seinen Lehren gesprochen, kein Heil zu finden im Stande sein an der Quelle, aus der Segen für die ganze Menschheit geströmt war? Jenny, die obenein Reinhard zum Lehrer gehabt, dessen innige, fromme Ueberzeugung Jeden gewinnen mußte? An diesen Grund von Jenny’s Zerrissenheit konnte sie nicht glauben; und that sie es dennoch, dann schauderte sie vor dem Leichtsinne, mit dem das Mädchen einen Meineid begangen hatte. Wer mit den heiligsten Dingen spielen konnte, bot auch dem Gatten keine Sicherheit. Ebenso wie gegen Gott konnte sie sich einst gegen ihren Ehemann versündigen, denn im Grunde war es vielleicht nur Erlau’s würdiges Betragen gewesen, das sie abgehalten hatte, schon ihrem Bräutigam untreu zu werden. Der Schmerz über die Leiden ihres Sohnes machte sie ungerecht, und ihre gekränkte Muttereitelkeit gewann so sehr über ihre Vernunft den Sieg, daß sie dem Sohne ihre Zweifel an Jenny’s Aufrichtigkeit und ihre ganze Unterredung mit Therese mittheilte.

Kaum aber hatte sie es gethan, als sie das Unheil zu bereuen anfing, das sie angerichtet hatte. Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, kann keine zerstörendere Wirkung hervorbringen, als die Worte seiner Mutter auf Reinhard. Mit tiefer Wehmuth hatte er Jenny’s bis jetzt gedacht. Sein Leiden und das ihre hatte er gleichmäßig und vereint empfunden; er hatte sich alle Beredsamkeit der Welt gewünscht, um Jenny eine Ueberzeugung zu geben, welche es möglich machte, ihre Trennung zu verhindern, die für sie in den jetzigen Verhältnissen unvermeidlich wurde. Nun, bei der Erzählung der Mutter, erwachte seine Eifersucht aufs Neue. Sein altes Mißtrauen fing sich zu regen an, und wie eine Furie verfolgte ihn unablässig der Gedanke, das Spielzeug in den Händen eines Mädchens gewesen zu sein, das ihn verwarf, sobald ein neuer Wunsch es gleichgültig gegen den frühern werden ließ. Er hatte Jenny so sehr geliebt, er war bereit gewesen, ihr Alles, selbst seinen Stolz, sein Ehrgefühl zu opfern; zu Almosen von der Hand ihres Vaters hatte er sich um ihretwillen erniedrigen gewollt, und nun er sich am Ziele wähnte, in ihre Hand seine Hoffnungen, seine höchsten Wünsche legte – nun besaß ein Anderer ihr Herz, und sie entzog ihm ihre Hand unter einem Vorwande, der sie in seinen Augen verächtlich machte. Jenny zu verlieren schien ihm ein Glück gegen die Pein, sie nicht mehr achten zu können; sie, in deren junge Seele er selbst den Keim alles Großen und Schönen gepflanzt, die er als eines der schönsten Werke des Schöpfers heilig gehalten hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny