Neunter Abschnitt. - Sie sind ein arger Spötter und haben mir damals eine traurige Stunde bereitet! ...

Sie sind ein arger Spötter und haben mir damals eine traurige Stunde bereitet! entgegnete ihm Jenny und mußte dann der Pfarrerin erzählen, was Erlau’s Worte zu bedeuten hätten.

Den Zeitraum benutzte der Maler, Reinhard in seiner gewohnten Art zu gratuliren. Dir, Du Mann Gottes, hat es der Herr wahrhaftig im Schlafe gegeben, sagte er. Da setzt sich der Mensch hin und langweilt das arme Kind zwei Jahre lang mit alten, unnützen Geschichten, nach denen kein Hahn mehr kräht, und hat gewiß wacker auf den gottlosen Paris geschimpft, der die Helena entführte und den braven Menelaus mit langer Nase stehen ließ. Nun aber, ehe man sich’s versieht, hat er selbst die Schönste am Arme, geht mit ihr davon und läßt uns à la Menelaus zurück. Ich glaube, auch meine Nase muß sich in diesem kritischen Moment ein wenig verlängern, und Steinheim’s und des armen Joseph’s Riechwerkzeuge wachsen gigantisch. – Halt, glückseliger Bräutigam, fuhr er fort, als Reinhard davon gehen wollte, so kommst Du mir nicht los! Daß Du mich neulich veranlaßt hast, dem schönen Mädchen eine trübe Stunde zu machen, das mag Dir Gott vergeben! Und künftig machst Du den Templer, wenn Jenny es will, Du seltener Tugendritter! – Mit der Keuschheit und der Armuth wird’s nun bald ein Ende haben, wie der feurige Brillant an Deiner Brust, den ich jetzt erst bemerke, und Deine noch feurigern Blicke mir deutlich beweisen; aber das dritte Gelübde – Gehorsam, dazu kann Rath werden. Ich wünsche Dir nur so viel Geduld, als Du Glück hast! Denn das Commandiren und Wollen verstehen Fräulein Jenny und Papa Meier aus dem Fundament. Hätten sie mir nur befohlen, Dich zu allen Teufeln zu jagen und statt Deiner die holde Rose von Saron zu freien, Du hättest sehen sollen, ob ich’s nicht gethan hätte!


Ohne auf Reinhard’s Ungeduld zu achten, drehte sich der Wildfang dann plötzlich zu Jenny und sagte: Auf mein Wort, Fräulein! wenn Reinhard nicht der beste Gatte wird, ist’s seine Schuld. Ich habe ihm seine Pflichten strenge vorgehalten und verlange zum Lohn nur die Gunst, die künftige Frau Pfarrerin in diesem Costüme malen zu dürfen, um den Pastor stets zu erinnern, daß er, so gescheut er ist, doch noch mehr Glück als Verstand hat.

Mit diesen Worten eilte er lachend davon. Aber seine Rede ließ ein unangenehmes Gefühl in Rein hard’s Brust zurück, der es sich nicht verbergen konnte, wie man ihm den Besitz Jenny’s für ein nicht zu erwartendes Glück anrechne und sich allgemein darüber wundere.

Ein paar Tage lang war diese Verlobung ein Gegenstand der Unterhaltung bei Allen, die, wenn auch nur entfernt, mit einem der beiden Theile bekannt waren. Manche lobten es, daß der Vater bei der Wahl eines Gatten für seine Tochter nur auf ihre Neigung gesehen; Andere und gerade die Freunde und Verwandten des Hauses machten ihm einen Vorwurf daraus, daß er, der angesehenste Jude der Stadt, seine Tochter zum Christenthum übertreten lasse. Dergleichen hatte aber auf den klaren Sinn des würdigen Mannes keinen Einfluß. Nachdem der Entschluß reiflich überdacht und ausgeführt war, stand er als Thatsache unwandelbar vor ihm und kein fremdes Urtheil vermochte seine Ansicht darüber zu erschüttern.

Anders war es mit der Mutter. Auf sie blieben die wiederholten Bemerkungen der Leute, daß Jenny zu ganz andern Verbindungen berechtigt gewesen wäre, wenn sie nun einmal Christin werden sollte, nicht ohne Einfluß; und während ihr Mann mit der Wahl seiner Tochter vollkommen zufrieden geworden war, fing die Mutter sie zu bereuen an.

Sie überlegte, wie diese und jene Tochter eines reichen Kaufmanns einen berühmten Künstler, einen Baron, einen Grafen geheirathet hatte. Reinhard war ihr sehr lieb; sie vor Allen hatte das Verhältniß gebilligt und geschützt gegen die frühere Ansicht ihres Mannes, und diese Verbindung war ihr vollkommen ausreichend zu Jenny’s Glück erschienen, bis das unnütze Geschwätz von Dritten, die ihr damit zu schmeicheln wähnten, die Saat der Unzufriedenheit in ihre Brust streuten. Vergebens wiederholte sie sich, daß ihre Tochter glücklich sei; es fiel ihr unaufhörlich ein, es hätte doch noch beglückender für Jenny sein müssen, wenn Reinhard nicht ein junger Theologe, sondern ein Mann von Stande gewesen wäre. Daß er es nicht war, konnte sie ihm zwar nicht zur Last legen; es mußte ihn aber ihrer Meinung nach veranlassen, durch besondere Zuvorkommenheit, durch gänzliche Selbstverläugnung Jenny dafür zu entschädigen.

Mit ihrem Manne oder mit Eduard davon zu sprechen, wagte sie nicht, weil sie überzeugt war, auf Tadel zu stoßen. Sie fühlte das Thörichte dieser Ansicht, denn sie war eine verständige Frau; aber immer wieder trug die Verblendung und Eitelkeit der Mutterliebe den Sieg davon. Es war und blieb ihr unangenehm, daß man ihre Jenny nicht auch in dieser Beziehung beneidenswerth fände, und sie beschloß, obgleich ihr das sonst niemals in den Sinn gekommen, durch einen verdoppelten Luxus in Allem, was Jenny umgab, der Welt zu zeigen, daß ihre Tochter in der Lage sei, eine glänzende Heirath entbehren zu können.

Dadurch aber kam die arme Jenny von dem ersten Tage an in eine peinliche Lage. Während die Mutter unaufhörlich auf ein gewisses Schaustellen drang, verweigerte Reinhard dies entschieden, und die junge Braut mußte oft beschwichtigend und versöhnend auftreten, worin sie von der Pfarrerin glücklicherweise unterstützt wurde.

Schon an dem Tage, an dem das Brautpaar die üblichen Besuche machen sollte, gab es kleine Mißhelligkeiten. Die Mutter hatte ein langes Register derjenigen Personen entworfen, denen die Verlobten sich vorstellen sollten, und ihrem Diener die größte Sorgfalt für die Equipage anbefohlen, als Reinhard erklärte, er begreife nicht, weshalb sie zu einer Menge gleichgültiger Leute fahren müßten, mit denen sie schwerlich in Berührung bleiben würden. Er hoffe, recht bald eine Stelle zu bekommen und die Stadt zu verlassen; seiner Meinung nach genüge es daher vollkommen, wenn sie die nächsten Verwandten und Freunde der Familie besuchten. Zu diesen könne er mit Jenny hingehen, wolle gleich heute damit anfangen und hoffe, seine Braut ebenso wohlbehalten heimzubringen, als ob sie gefahren wäre. Davon wollte je doch die Mutter nichts wissen. Sie versicherte, kein Mensch habe jemals Verlobungsbesuche zu Fuß gemacht, und fügte hinzu: Glauben Sie mir, lieber Reinhard, Jenny ist gar nicht im Stande, so weite Wege zu gehen.

Ja, das ist freilich übel, erwiderte Reinhard lächelnd; aber wie soll das werden, wenn wir später keine Equipage haben werden? Da wird sie sich doch daran gewöhnen müssen!

Jenny, die Reinhard’s Widerstreben sofort begriff, legte sich ausgleichend in das Mittel. Sie schlug vor, ein Paar der Anstands-Besuche in dem Wagen ihrer Eltern, die andern aber zu Fuß zu machen, und alle Parteien waren für den Augenblick damit zufriedengestellt. Indeß es sollte nicht das letzte Mal sein, daß Jenny’s Vermittelung nöthig wurde.

Zu des Vaters Freude, der das Brautpaar in der Stille mit sorglicher Liebe beobachtete, entwickelte Jenny bei diesen Versuchen, Reinhard’s und der Ihrigen Wünsche zu vereinen, eine ganz neue Seite ihres Charakters. Sich selbst vergessend, war sie unaufhörlich bemüht, sich den Ansichten der Andern zu fügen, den leisesten Wünschen ihres Verlobten zuvorzukommen. Hatte ein geräuschvoll verlebter Abend ihn unbefriedigt gelassen, so erlangte sie am nächsten Morgen gewiß die Erlaubniß, den ganzen Tag bei der Pfarrerin zuzubringen, um ihm zu zeigen, daß ihr im traulichen Beisammensein mit ihm die reinste Freude erblühe. Dann war Reinhard glücklich; dann konnte er nicht aufhören sich ihrer zu erfreuen, und es entzückte ihn, wenn sie sich seiner Mutter bereitwillig zu kleinen häuslichen Hülfsleistungen anbot, zu denen sich in ihrem elterlichen Hause, wo eine große Dienerschaft jedes Winkes harrte, die Gelegenheit nicht bot.

So sehr sie früher darauf gehalten hatte, auch in Kleinigkeiten ihren Willen zu haben, so fügsam wurde sie jetzt. Einzelne unbedachte Aeußerungen ihrer Mutter ließen sie vermuthen, daß ihre Eltern die Verlobung mit Reinhard als ein großes Opfer betrachteten, welches sie dem Glücke ihres Kindes gebracht hatten. Das bewog Jenny, den Ihrigen nachzugeben so weit es irgend möglich, und machte andrerseits sie noch zärtlicher gegen Reinhard; denn es that ihr leid um seinetwillen, daß er den Eltern nicht der erwünschteste Sohn unter allen Männern auf der Welt, wie ihr der Geliebteste war. Mit jedem Tage, den sie bei seiner Mutter verlebte, wurde er ihr theurer und verehrungswürdiger. Sein reicher Geist, seine unbestechliche Gradheit zeigten sich in all ihrem Glanze, wenn er sich ohne Rückhalt gab. Oft, wenn er sich dann in süße Schwärmereien verlor, hörte sie mit einer Andacht, mit einer Erhebung zu, von der die Pfarrerin innig gerührt war. So, sagte sie einst zu ihrem Sohne, mag Maria zu den Füßen des Herrn gesessen haben, und Jenny bemerkte lächelnd: Mehr als ich ihn liebe, liebte auch gewiß Maria den Herrn nicht. Das vollkommenste Einverständniß herrschte unter den Liebenden, und selbst der Vater gewann Vertrauen für die Zukunft seiner Tochter.

Man war seit Jenny’s Verlobung daran gewöhnt, sie mehrere Tage der Woche der Pfarrerin zu überlassen. Damit nun den Eltern dieses Entbehren ihrer Tochter nicht zu empfindlich werde, hatte man Therese eingeladen, an jenen Tagen Jenny’s Stelle bei der Mutter zu ersetzen, und man kam schließlich überein, Therese für den Sommer, den die Familie auf ihrem Gute zuzubringen gewohnt war, als Hausgenossin mit hinaus zu nehmen. Auch die Pfarrerin wollte dann die Stadt verlassen, um einige Zeit bei einer Freundin zu verleben. Deshalb strebte man jetzt, jemehr der Winter sich zu Ende neigte, die letzte Zeit vor dieser kleinen allgemeinen Auswanderung noch recht mit Bewußtsein zu genießen. Durch Hughes und Clara war der engere Kreis der Hausfreunde im Laufe des Winters vergrößert worden, nachdem Clara, wenn auch nur schwer, die Erlaubniß erlangt hatte, Eduard’s Familie in Begleitung ihres Vetters öfters wiederzusehen.

Erfreut durch diese Erlaubniß, die ebenso sehr William’s Liebe für Clara entsprach, als seiner Freundschaft für die Familie Meier, warf William sich zum Protector dieses neuen Verhältnisses auf. Er stellte der Commerzienräthin vor, wie es gerade ihr, einer der vornehmsten Damen der Stadt, wohl anstände, ein Beispiel zeitgemäßer Bildung zu geben, indem sie allem Gerede zum Trotz, Jenny und Clara, die einander sehr zusagten, auch ungestört mit einander umgehen lasse.

Sie haben früher den Doktor Meier zu Ihrem Arzte gewählt, liebste Tante, sagte er schmeichelnd, und es sind viele Familien unserer schönen Welt Ihrem Beispiele nachgefolgt. Vor Ihrem klaren Verstande können jene Vorurtheile, welche einst die schroffe Trennung zwischen verschiedenen Confessionen verursachten, nicht mehr Stich halten. Wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie mir den größten Gefallen thun, so oft sie die Cousine meiner Begleitung anvertrauen, und daß Clara sich vortrefflich in der Meierschen Familie unterhält, so darf ich hoffen, Sie heben für Clara und Jenny den Grenzcordon auf und geben ihnen völlige Freiheit für ihren Verkehr.

Die Commerzienräthin that darauf, als ob William’s Gründe sie überredet hätten, und wenige Tage, nachdem Reinhard mit Jenny versprochen worden war, erhielten Eduard und seine Schwester Einladungen zu einer Gesellschaft im Hause der Commerzienräthin, die aber nur Eduard annahm, weil Jenny sich nicht entschließen konnte, ohne den Bräutigam hinzu gehen. Dem Vater war dies ganz gelegen, da er im Ernste meinte, was er nur scherzend aussprach, er sähe es gern, wenn Leute, die ihm eine Ehre mit ihrer Einladung zu erzeigen glaubten, lieber über zu viel Zurückhaltung als zu bereitwilliges Entgegenkommen klagten.

In jenen Tagen wurde nun Jenny’s Verlobung bekannt gemacht und Clara gehörte zu Denjenigen, welche am meisten davon überrascht wurden, sich am meisten darüber freuten. Sie saß im Zimmer ihrer Mutter, als am Neujahrsmorgen ein Diener das Meldungsbillet hereinbrachte. Die Commerzienräthin gerieth in die beste Laune, nun sie mit Zuversicht wußte, daß sie die einst gefürchtete Nebenbuhlerin für ihre Clara nicht mehr zu scheuen habe, und reichte das Billet, nachdem sie es gelesen, ihrer Tochter mit der Bemerkung hin: Da sieht man deutlich, wie solchen Leuten selbst der Reichthum zu nichts hilft: ein Candidat der Theologie! Für Dich soll einmal eine andere Wahl getroffen werden!

Clara antwortete keine Silbe, denn sie hatte in ihrer freudigen Ueberraschung gar nichts von der Rede ihrer Mutter gehört. Sie hielt das Blatt in den Händen und las mit klopfendem Herzen immer wieder die Worte, welche ihr Jenny’s Verlobung mit Reinhard verkündeten. Das war ein Lichtstrahl von oben, der urplötzlich die Nacht ihres Kummers erhellte. Jetzt war Alles gut, all ihr hoffnungsloses Leiden beendet, jeder Zweifel gehoben. Wenn Jenny sich mit Reinhard verlobte, konnte auch der Liebe Eduard’s zu ihr kein Hinderniß von seiner Seite im Wege stehen; und sie wünschte nur zu erfahren, durch welche Verhältnisse dieser glückliche Wechsel der Ansichten in der Meierschen Familie hervorgebracht worden war. Sie bestürmte Hughes mit Fragen, sie wollte wissen, ob der Doctor mit dieser Heirath einverstanden sei, ob die Eltern sie gern sähen; und die Versicherung ihres Cousins, daß Alle sehr glücklich und erfreut darüber wären, reifte ihre Hoffnung zu beseligender Ueberzeugung, so daß sie freudestrahlend Eduard entgegenging, der im Laufe des Tages hinkam, ihnen zum neuen Jahre zu gratuliren.

Der Umgang zwischen den beiden jungen Mädchen gewann bald eine große Innigkeit, nachdem die ersten Schritte gethan waren. Clara hörte nur zu gern von Eduard erzählen; was er gesagt, gewollt, gethan, Alles war für sie von Wichtigkeit. Was nur in irgend einer Beziehung zu ihm stand, erregte ihre Theilnahme, und sie fühlte sich zu Jenny doppelt hingezogen, weil sie mit ihr stundenlang von dem Geliebten sprechen konnte, ohne, wie sie wähnte, irgend einen Verdacht zu erregen. Darin aber täuschte sie sich freilich. Jenny, der die leidenschaftliche Liebe Eduard’s zu Clara längst außer allem Zweifel war, hatte auch bald in Clara’s Seele gelesen. Ein gleicher Bildungsgrad machte ihr das Beisammensein mit Clara höchst angenehm, sie fand an ihr, was sie an Therese stets vermißt hatte, ein Gemüth, das mit ihr in rascher Empfänglichkeit sympathisirte, und eine Tiefe des Gefühls, welche Therese nicht in dem Grade besaß, oder mindestens nicht zu äußern vermochte. Solch eine Schwägerin hatte sie sich gewünscht; auch ihr schien es nur zu natürlich, daß Eduard kein Opfer scheuen werde, um Clara zu besitzen, und Beiden wurde es zu einer süßen Gewohnheit, zu einem Bedürfniß, häufig bei einander zu sein.

In ungetrübter Freude waren so einige Wochen verflossen, als Hughes eines Abends verstört in die Stube seiner Tante trat, und indem er ihr einen Brief reichte, die Worte ausrief: Ich muß fort, Tante! mein Vater liegt zum Sterben!

Die Commerzienräthin erschrak so sehr als die kaltblütige Frau es überhaupt vermochte. Denn so unangenehm ihr auch die plötzliche Entfernung William’s erschien, so leuchtete ihr doch der materielle Vortheil ein, der für den Sohn entstände, wenn er schon jetzt in den Besitz der väterlichen Schätze käme. Sie versäumte also nicht, in wohlgewählten Worten ihr tiefes Bedauern über das Unglück auszudrücken, das ihrer Schwester durch den Tod des Gatten drohe; sie brachte es selbst bis zu Thränen bei dem Gedanken an William’s Abreise; und dieser, aufgeregt durch die entsetzliche Nachricht, die ihn bis in das Herz getroffen, ließ sich von der künstlichen Theilnahme der schlauen Frau täuschen. Er mußte Jemanden finden, dem er seine Gefühle enthüllte, und Clara, vor der er es am liebsten gethan hätte, war seit einigen Stunden bei der Freundin. Er fragte nach ihr, er wolle und müsse Abschied von ihr nehmen.

Beruhige Dich, sagte die Commerzienräthin, ich will sie rufen lassen, und sie soll den Rest des Abends mit Dir verbringen. Sie wird wie ich untröstlich sein über den Verlust, der uns Allen zu drohen scheint. Sie schellte darauf, und befahl dem eintretenden Diener, anspannen zu lassen und das Fräulein zu holen, weil Herr Hughes morgen früh verreisen wolle.

Morgen? Tante! ehe ich kam, waren die Pferde bestellt, mein Diener bereitet mein Gepäck, und ich harre auf den Ton des Posthorns. Ich reise gleich; jeder Augenblick, den ich zögere, kann mich um den Trost bringen, meinen Vater noch zu sehen, noch ein Wort von seinem Munde zu hören – nur in der höchsten Eile ist noch Hoffnung!

Das lag außer der Erwartung der Tante: sie klingelte nochmals und der Diener erhielt geschärfte Befehle. Er sollte dem Fräulein sagen, Herr Hughes reise gleich, weil sein Vater zum Tode erkrankt sei.

Um Gottes willen, das nicht! rief Hughes in großmüthiger Vorsorge, lieber reise ich, ohne sie zu sehen, ehe so furchtbarer Schreck sie unvorbereitet treffe.

Ein Wink entfernte den Diener, und die Commerzienräthin ging unruhig im Zimmer umher, jeden Augenblick am Fenster spähend, ob der Wagen das Portal nicht schon verlasse? Auch Hughes war in qualvoller Spannung. Dann, als das Rollen der Räder auf den Steinen hörbar wurde, schien es ihm Hoffnung zu bringen. Ein ängstliches Schweigen herrschte im Zimmer, Tante und Neffe hingen mit gespanntem Auge an dem Zeiger der Uhr, der sich ruhig und langsam von Sekunde zu Sekunde fortbewegte, während ihr Ohr ebenso ängstlich auf jeden Ton lauschte, der von der Straße heraufschallte.

Ich begreife nicht, wo Clara bleibt, sagte nach einer Weile peinlicher Erwartung die Commerzienräthin.

Die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, und mein Vater stirbt! fiel William, der nur den Einen Gedanken hatte, ihr tonlos ins Wort. Denken Sie, Tante, jede Minute Aufschub kann mir die Möglichkeit rauben, den Vater zu sehen, den ich mehr als Alles liebe, und trennt mich zugleich von Clara, ohne daß ich sie gesprochen habe, ohne daß sie weiß, wie ich sie liebe! –

Da athmete die Commerzienräthin tief auf, ein siegreiches Lächeln glitt einen Augenblick über ihre Züge – sie war am Ziele! Aber schnell besonnen, trat sie mit dem Ausdruck inniger Theilnahme zu William, legte ihre Hand auf die seine und sagte beruhigend: Möchte Dir so sicher das Leben Deines Vaters erhalten werden, als Clara’s Liebe und ihre Hand, die ich Dir von je bestimmte. –

Wer sagt Ihnen, Tante! rief der Jüngling – da schmetterte fröhlich und laut das Posthorn, und sich gewaltsam zusammennehmend, fügte er hinzu: Leben Sie wohl, Tante, grüßen Sie mir Clara!

Gehe mein Sohn, erwiderte mit Feierlichkeit die Tante, und kehre uns bald und glücklich wieder. Für Clara’s Herz bürgt Dir ihre Liebe, für ihre Hand bin ich Dir Bürge, und sollte es Gott gefallen, Dir den Vater zu rauben, so findest Du hier einen Vater wieder, der den Gatten seiner Tochter mit offenen Armen empfangen wird.

Hughes umarmte sie zärtlich und eilte hinaus; dann kehrte er zurück, zog einen Ring von seinem Finger und reichte ihn der Tante. Für Clara! sagte er und sie soll mein gedenken! Dann eilte er davon.

Und wieder erklang das Schmettern des Posthorns; die Commerzienräthin trat an das Fenster und sah dem Wagen nach, bis einige Minuten später ihre Equipage sichtbar wurde und Clara bei ihr eintrat. Sie hatte trotz William’s Verbot durch den Diener die traurige Nachricht bereits erfahren.

Wo ist William? fragte sie mit einer Lebhaftigkeit, welche die Mutter nur zu leicht für ein Zeichen der Liebe nehmen konnte. Auch hielt sie es für angemessen, die Rolle, welche sie bei Hughes mit so viel Glück gespielt, bei Clara fortzusetzen. Sie umarmte ihre Tochter mehrmals, küßte sie zärtlich und sagte: Beruhige Dich, mein Kind! Du siehst ihn wieder. Wenn Du wüßtest, wie ihm das Scheiden schwer war! Sein Schmerz war so groß, daß er mich, ohne es zu wollen, zur Vertrauten seiner Liebe machte. Er sendet Dir diesen Ring und ich habe ihm statt Deiner versprochen, daß er bei Dir Trost finden würde, falls es Gott gefallen sollte, ihm seinen Vater zu nehmen.

Clara fuhr erschreckt zusammen; das hatte sie am wenigsten erwartet. Nach ihrer Meinung mußte gerade Hughes um ihre Liebe für Eduard wissen, denn gegen ihren Vetter allein hatte sie sich stets offen über denselben ausgesprochen. Sie hatte in der Bereitwilligkeit ihres Cousins, ihre Bekanntschaft mit Jenny einzuleiten und ihren nähern Umgang zu befördern, eine Billigung ihrer Gefühle gesehen und sich dankbar dafür mit einer Zärtlichkeit an William angeschlossen, die ihr Bruder ihr einzuflößen niemals weder gestrebt, noch vermocht. Sie begriff es nicht, wie der Vetter dies Wohlwollen für Liebe nehmen könne, da sie wußte, wie himmelweit es von dem Gefühle verschieden sei, das sie für Eduard empfand; und doch quälte sie der Gedanke, William, der vertrauende, großmüthige Mann, könne sie eines leichtsinnigen Spiels mit seinem Herzen beschuldigen. Es that ihr wehe, daß sie ihn, wenn auch ganz absichtslos, getäuscht, und sie bedauerte von Herzen, ihn nicht mehr gesprochen zu haben, um es zu verhindern, daß er Hoffnungen nähre, die sie nicht zu erfüllen dachte, Aber nicht Das allein war es, was sie beunruhigte. Sie wußte, daß ihre Mutter, nun sie endlich das Gelingen ihres Planes sicher vor sich sah, nicht so leicht davon abgehen würde, am wenigsten zu Eduard’s Gunsten. Mitleid mit William, mit Eduard und mit sich selber, Furcht vor den Leiden, denen sie nothwendig durch ihre Liebe ausgesetzt war, und auch aufrichtige Betrübniß, dem Wunsche ihrer Eltern nicht folgen zu können, drängten zusammen auf sie ein, und weinend legte sie William’s Ring von sich, den die Commerzienräthin ihr aufgezogen hatte.

Recht so, liebe Tochter! sagte die Mutter, als sie es bemerkte, auch ich finde es schicklicher, daß die Braut sich mit dem Ring ihres Verlobten erst dann schmücke, wenn er selbst ihn an ihre Hand steckt. Doch weine deshalb nicht. In wenigen Wochen kehrt William hoffentlich zurück, und die ganze Stadt soll es dann wissen, wie glücklich Du bist und wie glücklich Du mich durch die Erfüllung meiner langgehegten Wünsche machst! Ich hatte nicht Unrecht, mein Töchterchen, zu behaupten, daß Dir einmal ein anderes Loos bereitet werden solle, als der kleinen Jenny! fügte sie triumphirend hinzu, indem sie Clara nochmals umarmte und sie dann verließ.

Was soll ich thun? rief Clara, als sie sich allein sah. Die verschiedensten Plane und Möglichkeiten fielen ihr auf einmal ein. Sie wollte ihrer Mutter nacheilen und ihr Alles bekennen; aber wozu sollte das führen, da ihre Mutter gerade die Heirath mit William wünschte und sich ihrer Liebe zu Eduard entschieden widersetzen würde? Sich dem Vater anvertrauen? Das würde die Mutter für eine Kränkung ihrer Rechte halten und doppelt erzürnt sein! Dann wollte sie William schreiben und sich seiner Großmuth überlassen; als sie indeß bedachte, wie ihr Brief den Sohn trauernd an der Leiche seines Vaters finden könne, fehlte ihr der Muth, seinen Schmerz noch zu erhöhen durch das Geständniß, sie könne ihn nicht lieben. Rathlos sann sie lange hin und her, bis die glückliche Schnellkraft der Jugend sie plötzlich das Ereigniß in besserem Lichte erblicken ließ. Sie fing an zu hoffen, die Krankheit ihres Onkels werde so gefährlich nicht sein; William müsse ihn gewiß auf dem Wege der Genesung finden; und es machte sie glücklich zu denken, Eduard werde ohne Zweifel William’s Abwesenheit benutzen, sich gegen sie zu erklären. Dann, wenn es unwiderruflich sei, werde ihr Cousin es auch viel leichter tragen, besonders wenn Entfernung und die Freude, seinen Vater wiederzusehen, ihm zu Hülfe kämen. Als aber ihre Vorstellungen erst diese Richtung genommen hatten, waren bald alle Sorgen vergessen, so sehr, daß sie es sich vorwarf, nicht trauriger über ein Ereigniß zu sein, von dem ihr Vetter so tief ergriffen sein mußte.

Ein Bote von Jenny, der abgesandt war, zu fragen, was Clara’s plötzliche Nachhauseberufung veranlaßt habe, erhielt ein ruhiges Billet mit den nöthigen Erklärungen zur Antwort, der die Bitte hinzugefügt war, Jenny möge sie morgen recht zeitig besuchen.

Zwei Dinge waren es besonders, die seit einigen Wochen Reinhard beschäftigten: die baldige Erlangung einer Stelle für sich, und Jenny’s Uebertritt zum Christenthume, zu dem ein aufgeklärter Geistlicher sie vorbereitete.

Mit freudiger Aufregung batte Jenny dem ersten Besuche des Pastors entgegengesehen; es drängte sie, sich mit ihm über manches Bedenken auszusprechen, das sich in ihr gegen die neue Lehre erhob und dessen sie gegen Reinhard nicht zu erwähnen vermochte, aus Furcht, ihn zu beunruhigen und zu betrüben. Auch schwiegen thatsächlich vor dem Einfluß, den ihres Bräutigams Gegenwart und sein feuriges Wort auf sie ausübten, ihre Zweifel; aber sie erwachten um so stärker, wenn sie allein blieb und der Zauber geschwunden war. Sie wähnte, wenn das Bekehrungswerk gelingen solle, müsse ihr Lehrer genau den Zustand ihrer Seele kennen, und stand nicht an, sich mit voller Offenheit darüber zu erklären.

Ich habe, sagte sie, mein Leben lang an Gott gedacht; ich habe seit meiner frühesten Kindheit, wenn mir etwas besonders Gutes oder Böses begegnete, geglaubt, das komme mir aus seiner Hand; und da mir meine Eltern als seine sichtbaren Stellvertreter auf Erden erschienen, mich vollkommen ruhig und glücklich gefühlt, ohne nach einer besonderen religiösen Erkenntniß zu streben.

Und Sie fühlen diese innere Zufriedenheit auch jetzt noch? fragte der Geistliche.

Nein! erwiderte sie. Schon vor vielen Jahren hatte mich eine Freundin darauf hingewiesen, wie mir der rechte Glaube fehle. Ich dachte darüber nach. Ich stellte mir vor, welche Schicksals-Schläge das Leben mir bringen könne; ich dachte an den Tod der Meinen und fühlte, daß ich solchen Leiden nicht gewachsen wäre, daß ich keine Kraft dagegen in mir fände. Therese, eben jene Freundin, sprach mir von der Unsterblichkeit der Seele. Ich verlangte Erklärung, und sie sagte mir: Glaube! Das konnte ich nicht. Ich wandte mich an meinen Vater um Aufschluß, und mehr als alle Gründe dafür beruhigte mich die Ueberzeugung, daß mein Vater, der klardenkende Mann, an die Fortdauer der Seele glaubte. Ein leerer Schein konnte ihn nicht täuschen. Er sagte mir, Alles was Du siehst, empfindest, bist, ist Gott! Ein Unendliches belebt durch sich selbst, durch sein Dasein, die Welt. Die Sonne und das Sonnenstäubchen sind er selbst. In mir, in Dir, in jenem Moose ist er, belebend, wirkend, immer derselbe Eine Gott, gleichviel in welcher Gestalt er sich offenbart. Die Form kann vergehen; unser Auge schließt sich ermüdet für immer; der menschliche Körper zerfällt in Staub, wie jenes Moos, wenn seine Zeit vorüber, wenn sein Organismus abgenutzt ist, oder plötzlich zerstört wird; aber der Strahl von dem Geiste Gottes, der uns belebt, durch den wir uns selbst bewußt werden, der das Moos die Nahrung aus der feuchten Erde ziehen lehrt, damit es wachse und blühe, der Geist bleibt, denn er ist ein Theil Gottes! – Gott! –

Da der Pastor schwieg, fuhr Jenny fort:

Als nun meine Gedanken einmal auf diesen Weg gelenkt worden, forschte ich weiter, bald bei meinem Bruder, bald bei meinem Vetter, vor deren Meinung ich große Achtung hatte. Ich fragte nach den Gesetzen Moses, der unsere Religion gestiftet. Man nannte mir die Gebote und sagte, Moses verlange nur die Erfüllung jener Pflichten, die jedem guten Menschen sein Herz von selbst gebiete, so lange er durch das Böse nicht verdorben sei. Dasselbe lehre auch Christus und alle Stifter von Religionen. – Und worin besteht, fragte ich, der Unterschied zwischen den Religionen, da er stark genug gewesen ist, Jahrhunderte hindurch Krieg und Unterdrückung hervorzurufen? In Formen, antwortete man mir, welche die Leute in ihrer Blindheit höher schätzten als den Geist. Strebe darnach, dem Beispiel des Guten zu folgen, das man Dir gibt, und Dich so rein zu erhalten vom Bösen als möglich. Denke Dir, hatte einst mein Vater gesagt, ein kleines zartes Gefäß, in das eine unsichtbare Hand den kostbarsten Samen gestreut: wie würde man es ängstlich hüten, damit es keinen Schaden nähme, es vor jedem Flecken bewahren, jedes Stäubchen davon entfernen, wenn man wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein Gefäß bist Du und nur, wenn Du rein bist von bösen Gedanken, kann sich die Gottheit in Dir entfalten.

Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhörers ansehen, daß er diese Auffassung nicht billige, doch ließ sie sich dadurch nicht irre machen, sondern fuhr ruhig fort: Dieses Gleichniß erfreute mich, und – ich war damals noch ein Kind, Herr Pastor! – ich fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu einem mächtigen Baume geworden, dieser das kleine Gefäß zersprenge und sich frei mache, um frei die Wipfel zu dem blauen Himmel zu erheben, von dem das Samenkorn einst herabgekommen sei? Ja! sagte mein Vater, und dies Freiwerden nennt man Sterben!

Eine artige Allegorie, unterbrach sie der Pfarrer jetzt, aber das will Christus nicht. Wir sollen nicht spielen mit Dem, was das Heiligste ist; wir sollen es mit Ernst erfassen, mit jenem Ernste, der Christus am Kreuze sterben machte für uns.

Das sagt auch Reinhard, stimmte Jenny bei. Ich soll das Leben mit Ernst betrachten, und ich selbst fühle das Bedürfniß, seit ich Reinhard kenne und empfunden habe, daß es auch dunkle Stunden in unserm Dasein gibt. Glauben Sie mir, wenn ich an die Möglichkeit dachte, von Reinhard, dem ich so unauflöslich gehöre, für das ganze Leben getrennt zu sein, dann reichte der fröhliche Glaube meiner Jugend nicht aus. Ich verlangte danach, einen Ersatz zu finden, der mich schadlos halte für das Leiden auf dieser Welt; und ich wünschte besonders, daß es mir möglich wäre, die heiligsten Interessen des Menschen auf dieselbe Art aufzufassen, wie mein Bräutigam. Mit Einem Worte, ich möchte Gott erkennen und das Leben begreifen, wie Christus es lehrt, ich möchte Christin werden dem Herzen nach. – Lehren Sie mich das, sagte sie, und ich werde es Ihnen ewig danken!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny