Dreizehnter Abschnitt. - Liebstes Herz, unterbrach Reinhard sie fröhlich, also doch! Du kannst auch eifersüchtig sein? ...

Liebstes Herz, unterbrach Reinhard sie fröhlich, also doch! Du kannst auch eifersüchtig sein? So lieb hast Du mich? Wie soll ich nur Therese danken, daß sie mir zum zweiten Male solch unverhoffte Freude bereitet! Ich wollte wirklich, ich könnte ihr vergelten, denn das habe ich oft gemerkt, sie ist in ihrer verständigen überlegten Art mein bester Anwalt bei Dir. Sie hat Dich manchmal in so freundlicher Weise auf das Gute aufmerksam gemacht, das unsere künftige Stellung mit sich bringen wird, daß ich ihr von Herzen ein ähnliches Glück wünsche. Und sie hat ja in der That allen Anspruch, den Männern zu gefallen!

Findest Du? ich finde das durchaus nicht, wendete Jenny ein. Therese ist freilich auch noch jung, aber sie hat für mich ein gewisses Etwas, nenne es Pedanterie oder wie Du sonst willst, das mir mißfällt. Sie ist so altjüngferlich, so überlegt. Alles ist Absicht bei ihr und ich begreife im Gegentheil gar wohl, weshalb sie den Männern selten nur gefällt.


Reinhard zog Jenny an seine Brust und sagte lachend: Siehst Du, und ich begreife wieder, weshalb Männer, wie Steinheim, Erlau und die Andern, den Frauen gar nicht gefallen sollten. Aber Du hättest mir heute beim Abschied von der Stadt nichts Besseres geben können, als die Versicherung, daß Dir die arme Therese wirklich gar so sehr mißfällt. Laß es indeß nur gut sein – wenn meine kleine Braut nicht mehr neben ihr sein wird, um sie zu verdunkeln, findet wol irgend ein braver Mann die gute Therese nicht so unliebenswürdig, als sie Dir heute erscheint.

Er verlangte darauf zu wissen, wie Jenny zu der Vermuthung hinsichtlich Theresens gekommen sei, und obgleich seine Braut ihn wegen dieser Neugier neckte, konnte sie nicht umhin, ihm mehr zu erzählen, als eigentlich in ihrer Absicht gelegen hatte, nachdem sie gesehen, welch ein Interesse er daran nahm.

In Berghoff, dem prächtigen, am Meere gelegenen Landhause ihres Vaters, finden wir Jenny wieder. Clara war hinausgefahren, sie zu besuchen, und harrte mit bangem Herzklopfen der Ankunft Eduard’s.

Sie hatte ihn noch nicht wiedergesehen, und war lange mit sich zu Rathe gegangen, wie und wann dies erste Begegnen vor sich gehen könne. Eduard war allerdings als Arzt bei ihrer Mutter gewesen, und hatte lange dort verweilt, in der Hoffnung, Clara werde endlich wieder für ihn sichtbar werden; aber sie war nicht erschienen. So resignirt sie sich fühlte, war sie doch ihrer Fassung nicht gewiß genug, um im Beisein ihrer Mutter Eduard zum ersten Male sprechen zu wollen, und endlich, als die Sehnsucht nach ihm immer reger wurde, benutzte sie ihr Versprechen, Jenny in Berghoff zu besuchen, in der Voraussetzung, daß Eduard den Abend dort zubringen und die Anwesenheit der ganzen Familie ihr eine ruhige Haltung möglich machen werde.

Clara’s Eintritt erregte große Freude bei ihren Freunden, aber zugleich ein allgemeines Fragen nach ihrem Ergehen, denn man fand sie übel aussehend. Sie versicherte indessen, sich vollkommen wohl zu fühlen, und ging gleich zu einer allgemeinen Unterhaltung über. Der Vater, der anwesend war und sie mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit behandelte, bot ihr dabei hilfreich seinen Beistand. Jenny aber täuschte das nicht, und sie benutzte die erste Gelegenheit, sich mit Clara zu entfernen, um wo möglich von ihr selbst zu erfahren, was seit jenem Abend im Garten, zwischen Eduard und ihrer Freundin vorgegangen sei, und ob sie den beiden, ihr so theuern Personen irgend Beistand oder Trost gewähren könne. Sie kannte William’s Neigung für ihre Freundin, seine Werbung und die Scheu, mit der Clara an die Zeit seiner Rückkehr dachte, ohne daß eines der beiden Mädchen aus leicht begreiflicher Rücksicht jemals den Grund berührt hatte, der Clara dieser Verbindung abgeneigt machte. So lange Jenny ihre Freundin heiter und Eduard unverändert ruhig gesehen, hatte sie es für zudringlich gehalten, um dasjenige zu fragen, was man ihr verschwieg; nun sie aber Clara’s bleiches Antlitz, ihres Bruders düstere Stimmung sah, konnte sie sich nicht länger überwinden. Mit aller ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit kniete sie vor Clara nieder und bat, indem sie sie mit beiden Armen umschlang: Sage mir, was ist geschehen? Warum hast Du so viel gelitten, daß Du bleich und traurig aussiehst? Was fehlt Eduard? Sage es mir, wenn Du mich genug liebst, mich mit Dir leiden zu lassen.

Du weißt es, antwortete Clara, aber gerade darum laß mich davon schweigen. Helfen kannst Du mir nicht, Niemand kann es, und das Einzige, was Du für mich thun sollst, ist, mich mit Eduard ein paar Minuten allein zu lassen, wenn er heute herauskommt. Willst Du mir das gewähren?

Jenny versprach es, und traurig saßen sie lange beisammen, bis der Hufschlag eines Pferdes die Ankunft eines Reiters verkündete und nach einer Pause banger Erwartung der Vater mit Eduard zu ihnen kam. Man sah es dem Doktor an, wie schwer er sich beherrschte, als er, Clara begrüßend, ihre Hand ergriff und küßte. In Clara’s Augen schwammen große Thränen, nur die Anwesenheit des Vaters hielt sie zurück, aber dieser schien von dem Allen Nichts zu sehen. Er hielt einen Brief in der Hand und gleichmäßig, wie immer, fragte er die Tochter, ob sie etwas von Erlau’s Abreise gewußt hätte? Er melde sie Eduard in diesem Schreiben und nehme zugleich von allen seinen Freunden Abschied. Jenny verneinte es; der Vater aber sagte scherzend: der Brief ist wieder Erlau’s treuestes Abbild; hört nur, wie er lautet: „An Eduard Meier, mit dem Befehl, es als Currende an das übrige Volk zu senden, das sich nach vierundzwanzig Stunden Abwesenheit eines Entfernten etwa noch erinnern sollte.“

„Lieber Doktor! ziehe Dein Taschentuch hervor und trockne Deine verwunderten und hoffentlich weinenden Augen, da Du erfährst, daß ich längst zum Thore hinaus bin, wenn ich Dir dies Lebewohl sage. Du kannst nicht behaupten, daß ich treulos desertire – die lange und langweilige Campagne eines norddeutschen, nebelgrauen Winters habe ich voll rührender Geduld und lobenswerther Theilnahme mit Euch durchgemacht; ich habe Eure steifgeschnürten, gebildeten Schönen tanzen gesehen, mich in hundert Gesellschaften gelangweilt und ruhig Eurem sogenannten vernünftigen Treiben und Wirken, Eurer Aesthetik und Politik, Euren Diners und Zweckessen, Euren Vereinen und all den tausend Narrheiten zugeschaut und, was noch mehr ist, ich habe meine rechte Hand im Zaume gehalten, die täglich sich in hundert Karrikaturen zu zeigen verlangte. Die Karrikatur aber ist ein Bastard der Kunst, ein unwürdiger Sohn, den die Mutter verleugnen muß, und zu dessen Vater ich mich und meinen ehrlichen Namen nicht hergeben mag. Wehe Euch! wenn Eure unverbesserliche Geschmacklosigkeit mich endlich dazu verleitet hätte, und Ihr waret nahe daran, mich auf diesen Irrweg zu führen. Darum fliehe ich Euch und wende meine Schritte nach jenen Gegenden, über denen ein blauer Himmel lacht, in denen man das Regieren den Fürsten und das Denken den Pfaffen überläßt, die dafür bezahlt werden und es doch nicht thun, und wo man keinen Gewerbschein zu lösen braucht, wenn man nichts verlangt, als ruhig in der Sonne zu liegen und sich der paradiesischen Wonne des dolce far niente zu befleißigen. – Von Euch und Eurem gepriesenen civilisirten Leben verlange ich gar nicht zu hören. Ihr sollt und könnt mir nicht schreiben, weil ich nicht weiß, wo ich sein werde, und, wenn ich es irgend vermeiden kann, meine schreibkundige Hand zu nichts brauchen will, als die Blüthen und Freuden zu pflücken, die mir am Wege winken. Erst wenn dieser Winter lange hinter mir liegen wird, soll der Pinsel die einzelnen Lichtstrahlen wiedergeben, die durch Eis und Schnee unvergeßlich in meine Seele drangen. Denn jede Nacht hat ihre Sterne; auch im nordischen Eise blitzen sonnenhelle Brillanten funkelnd hervor, das Auge zu erfreuen – aber zu beleben, zu erwärmen, das verschmähten sie leider. Und somit lebet wohl! Du lieber Eduard, die Deinen alle und Ihr übrigen Freunde; genießet des spärlichen Sonnenlichtes, das Euch geworden, wachset und gedeihet, Jeder auf seine Art, und wenn Ihr in Berghoff die Sonne untergehen und den Mond am Horizonte emporsteigen sehet, so betet mit mir, daß der Götter reichster Segen dies Fleckchen Erde, diese Oase in der Wüste, dies Thal beglücken möge, wo unter dem Schutze sorglicher Liebe die schöne Rose von Saron erblühte. Möge Apoll ihr und ihren Pflegern den süßen Duft lohnen, den sie in die Seele eines seiner Söhne gehaucht, sie, die allein ihn vor dem gänzlichen Erstarren in der traurigen Farblosigkeit Eures Landes beschützte. Nochmals lebet wohl!“

Da hast Du noch ein Abschiedscompliment, mein Kind! sagte der Vater, und zum Danke für dasselbe magst Du sorgen, daß der Brief nach Erlau’s Wunsch den näheren Freunden des Hauses mitgetheilt werde. Uebrigens freut es mich um des jungen Mannes willen, daß er noch solch rascher Entschlüsse fähig ist; denn Italien wird ohne Frage ihm die Vollendung geben, für die er berufen ist. Gib mir jetzt den Brief, ich will ihn der Mutter und Theresen zeigen und ihnen die Abreise des liebenswürdigen Wildfangs anzeigen.

Ich komme mit Dir, rief Jenny, als ihr Vater, nachdem er, seinem Wunsche gemäß, Eduard über die Pein des ersten Wiedersehens fortgeholfen, sich entfernen wollte. Clara selbst hielt sie aber zurück, und sprach: Nein, liebe Jenny! bleibe nur, es ist besser so. Was Dein Bruder und ich uns zu sagen haben, braucht für Niemanden, am wenigsten für Dich ein Geheimniß zu sein.

Clara! rief Eduard, was soll diese erheuchelte Ruhe, die Sie peinigt und von der in diesem Augenblick meine Seele weit entfernt ist! O! das Glück, Sie endlich, endlich wiederzusehen, ist doch nicht im Stande, mich das Leid vergessen zu machen, das uns trifft!

Auch ich leide, erwiderte Clara mit bebender Stimme, aber wir müssen als Freunde mit einander zu tragen versuchen, was wir nicht zu ändern vermögen. Sie bleiben mir ja, sagte sie, und faßte Eduard’s und Jenny’s Hände, die sie vereint an ihr Herz drückte, und auch unsere Jenny wird uns bleiben, und so vieles Gute, und die Achtung vor uns selbst, und – die Liebe, setzte sie kaum hörbar noch hinzu. Sie muß uns genügen und erheben, schloß sie, und verbarg weinend ihr Gesicht an Jenny’s Brust, die sich zärtlich und mit ihr weinend an sie schmiegte.

Eduard bog sich zu dem Mädchen nieder, machte seine Hand von Clara los und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. Möge uns Friede werden! seufzte er, und stumm saßen sie lange beisammen. Endlich versuchte Eduard mit der Frage, ob Clara noch am Abende nach der Stadt zurückzukehren denke, das Gespräch anzuknüpfen.

Ja! antwortete sie, und ich zweifle, daß wir uns in den ersten Tagen sprechen werden, wenigstens hier in Berghoff nicht, da meine Mutter die Ankunft meines Vetters erwartet und – sie stockte, aber Eduard und Jenny erriethen das Fehlende.

Da stehen Dir schwere Tage bevor, sagte Jenny und blickte ängstlich Eduard an, der blaß geworden war und unwillkürlich ausrief: Auch das noch und schon jetzt!

Mein Onkel ist hergestellt, fuhr Clara fort, und ich wußte schon, als wir uns zuletzt sahen, daß mein Vetter wiederkehren werde. Ich wollte es Ihnen sagen, als ich herkam, aber ich versäumte es.

Und wieder entstand eine lange, drückende Pause, in der Niemand sprach, weil Jeder sich scheute von dem Gegenstande zu reden, der ihn allein beschäftigte. Eduard wollte irgend einen bestimmten Entschluß fassen; er wollte Clara beschwören, diese stumme Resignation aufzugeben, oder lieber ein Beisammensein zu vermeiden, das für ihn bitterer als jede Trennung sein mußte. Dazustehen vor der Geliebten, der er entsagen sollte, und sein Herz zu bezwingen, das fand Eduard unerträglich. So süß es seiner entstehenden Neigung geschienen, ohne Worte jede zarte Regung in dem geliebten Herzen zu verstehen, ehe das entscheidende Geständniß den Lippen entflohen war, so qualvoll dünkte ihn jetzt ein Zwang, der ihn zu leidender Unthätigkeit, zu peinlichem Erwarten des Kommenden verurtheilte; ihn, der bis jetzt allen Begegnissen seines Lebens rasch handelnd entgegengetreten war. Deshalb erschien ihm Reinhard, der, eben in Berghoff angelangt, seine Braut suchte, wie ein Erlöser aus drückenden Banden. Erst nachdem die ganze Familie beisammen und eine Stunde in Mittheilungen mancher Art vergangen war, konnten sich Eduard und Clara allmälig von den schmerzlichen Empfindungen befreien, die sie erduldet hatten, und zu des Vaters großer Genugthuung sich, wenn auch ohne wahre Theilnahme, in die Unterhaltung der Uebrigen mischen, bis endlich, von Eduard heiß ersehnt, die Trennungsstunde schlug. Und wieder geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den sie in der Stadt zusammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den Beide jetzt empfanden, mußte ihnen der Schmerz jener Stunde wie ein Glück erscheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten sie die Entsagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und schieden wortlos, hoffnungslos.

Wie man verabredet hatte, sollte Jenny’s Taufe nun in wenig Tagen vollzogen werden, und die Abfassung des nöthigen Glaubensbekenntnisses führte sie zu ernstlichem, erneuertem Nachdenken über diesen Punkt. Menschen von besonders lebhafter Phantasie ist es möglich und eigen, sich allmälig in einen bestimmten Ideenkreis hineinzudenken, ihn nach allen Richtungen hin mit Gründen auszustatten, und sich so ein Gebäude zu errichten, das den Schein der Festigkeit und Vollendung an sich trägt, ohne irgend eine wirkliche Basis in der Ueberzeugung Desjenigen zu haben, der es aufgeführt. Wie der Dichter, namentlich in seiner Jugend, die Geschöpfe seines Geistes kaum von den um ihn her lebenden Menschen zu unterscheiden vermag; wie Kinder sich spielend so fest in die erfundenen Verhältnisse ihrer Puppen hineindenken, daß sie unwillkürlich Erfundenes und Wirkliches vermischen und nicht mehr trennen können, so ging es in gewisser Art Jenny mit ihrer religiösen Erkenntniß. Nachdem sie vergebens versucht, die Symbole des Christenthums mit dem Verstande zu erfassen, bemächtigte sich einst plötzlich ihre Einbildungskraft derselben, und sie wurde mit Ueberraschung gewahr, daß sie Vieles sich denken und in seinen Folgen und in seiner Veranlassung ausmalen, ja es bis zu einer deutlichen Vorstellung in sich ausbilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Christus, der eingeborne, gekreuzigte und wieder auferstandene Sohn Gottes, wurde für sie zu einer so festen Gestalt in seinen Wundern, wie es ihr früher irgend ein Gott des Olymps gewesen, wie es ihr noch jetzt Goethe’s göttlicher Mahadö war, der die sich opfernde Geliebte mit sich verklärt aus den Flammen emporhebt. Sowie sie, trotz der historischen Kenntniß des mittelaltrigen Johann Faust, diesen gänzlich in der unsterblichen Gestalt des Goetheschen Faust verloren hatte, weil der Letztere allein ihr durch die poetische Schönheit des Gedankens als wirklich erschien, so bildete sie aus dem Menschen Jesus, den die Apostel beschrieben, jenen mystischen Christus in sich aus, wie ihn die spätern christlichen Philosophen als Theil der Dreieinigkeit dachten. Sie wähnte, als diese Erscheinung in einer bestimmten Form in ihr lebte, endlich an Christus und seine Wunder zu glauben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte, so daß sie mit vollem Vertrauen von sich zu behaupten wagte, jetzt sei ihr nicht blos die christliche Moral, sondern die Menschwerdung Christi zu einer vollkommenen Wahrheit geworden. Wie bei allen Trugschlüssen stimmte plötzlich Alles zu ihren Ideen, nachdem sie willkürlich einen Anfangspunkt für ihr System gefunden hatte, den sie als richtig annahm, obgleich er es in der That nicht war. Die sichere Ruhe, mit der sie sich hinterging, täuschte auch Reinhard und den sie unterrichtenden Pastor, obgleich der Letztere über eine so unerwartete Veränderung der ansichten bei seiner Schülerin sehr überrascht zu sein schien.

Dazu kam, daß seit einigen Wochen Clara und Eduard ihre Theilnahme in Anspruch nahmen, während zugleich die Entdeckung von Theresens Liebe für Reinhard und Erlau’s unerwartetes Geständniß sie vielfach beschäftigt und ihre Gedanken von den Forschungen über das Christenthum abgezogen hatten, bis der für die Taufe festgesetzte Termin herannahte und sie wieder darauf hinlenkte. Als sie nun jenes Glaubensbekenntniß niederschreiben wollte, das sich eigentlich streng an die im „Glauben“ enthaltenen Dogmen binden mußte; als sie ihr Nachdenken fest auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künstlichen Ueberzeugung zu schwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantasie zerfloß vor dem festen Blick ihres Verstandes in ein Nichts. Sie bemerkte das mit Schrecken. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuschung, der sie sich unbewußt hingegeben; was frommte ihr eine Einsicht, die ihr Beides schonungslos raubte, die sie in das alte Chaos des Zweifels stürzte und, wenn sie wahr sein wollte, sie von Reinhard trennte, weil ihr Uebertritt zum Christenthum bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Vergebens wollte sie die Vorstellungen in sich zurückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht. Ebenso wie es dem Erwachsenen nicht gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder alle haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnen, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stille stehn. Wenn uns erst einmal das Gegentheil unumstößlich bewiesen worden, kann selbst unser fester Wille das Trugbild nicht mehr erzeugen. Einen Moment lang mag man hoffen, sich gegen die Wahrheit verblenden, eine liebgewordene Täuschung in sich festhalten zu können – die Wahrheit siegt doch immer. Es ist ihr Prüfstein, daß sie siegen muß, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen die Gewalt der Wahrheit.

Die Ueberzeugung, daß der Geist des Christenthums die Hauptsache in demselben sei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Besorgnisse zeigte, einen Ausweg, vor dem ihre Redlichkeit sich scheute. Was aber sollte sie thun? Jetzt, nachdem sie unaufhörlich ihren Glauben an die christlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, sie habe sich getäuscht und sie könne nichts davon glauben? Das hätte sie eigentlich am liebsten gethan, aber würde man nicht an der Unfreiwilligkeit dieser Täuschung zweifeln, und annehmen, sie habe bis jetzt gegen ihre Ansicht etwas behauptet, um ihren Zweck zu erreichen, was zu beschwören ihr der Muth fehle? Vor Reinhard und ihrem Vater, vor Eduard in diesem Lichte zu erscheinen, brachte sie zur Verzweiflung, abgesehen selbst von der Trennung von dem Geliebten, die unvermeidlich wurde, wenn sie sich weigerte, Christin zu werden. Sie schauderte vor der Wahl zwischen der Wahrheit und der Liebe; sie fühlte, daß Alle sie bedauern, Alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müßte, den Geliebten ihrer Ueberzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, selbst Joseph, der sie ungern Christin werden sah, und Erlau, der sie liebte – Alle – nur Therese nicht. Therese allein konnte sich darüber freuen, und wie sie dieselbe jetzt zu kennen glaubte, würde Therese eigensüchtig genug sein, auf den Trümmern von Jenny’s Liebesglück sich eifrig ihr bürgerliches Wohnhaus zu begründen. Das sollte und durfte aber nicht geschehen; Therese sollte nicht ernten, wo Jenny mit ihrem Herzblute gesäet hatte, und wieder und immer wieder ging sie daran, Alles durchzudenken, was ihr je von religiösen Ansichten bekannt geworden war, bis sie entschieden zu der Ueberzeugung gelangte, die Dogmen als eine Nebensache zu betrachten und, um Reinhard’s Meinung zu schonen, endlich ein Glaubensbekenntniß zu Stande brachte, das in Spitzfindigkeit dem ältesten Jesuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geschick hatte sie vermieden, jener Lehren von der Kindschaft Christi, der Erlösung durch seinen Tod und der damit gegebenen Genugthuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel an ihrem Glauben bei Reinhard dadurch zu veranlassen, der sich ganz einverstanden mit dem Glaubensbekenntnisse erklärte, als Jenny es mit innerster Beschämung vorlegte. Des Geliebten Beifall, seine Freude über ihre Erkenntniß demüthigten sie und machten sie vor sich selbst erröthen. Er liebte sie, er freute sich über sie, während sie ihn in Dem betrog, was ihm das Heiligste war. Sie sagte sich, daß sie Reinhard’s Vertrauen unwürdig hintergehe; sie hätte ihm gern die Wahrheit gestanden, wenn er nur gleich ihr dem Gedanken Raum gegeben hätte, daß man an Christus auf verschiedene Weise glauben, und doch einander lieben und glücklich mit einander sein könne. Sie begriff es nicht, wie der sonst so freisinnige Mann nur in diesem Einen Punkte von so unerbittlicher Strenge sein konnte. Was that es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny den Gekreuzigten für den ersten unter den Menschen, statt für Gott hielt, so lange sie nur seine Lehren befolgte? Indessen führten alle diese Gedanken sie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, daß Reinhard es nimmer zugeben würde, sie Christin werden zu lassen, wenn sie ihm die Wahrheit bekenne: daß sie ihn verliere, wenn sie es nicht werde. Das machte sie verzagt, und diese Kämpfe ermüdeten sie so sehr, daß sie aus Schwäche Muth zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbstmördern werden würden, wenn im Moment der Entscheidung nicht eben ihre Feigheit sie von der That zurückhielte.

Jenny wußte sich keinen Rath in der Verwirrung ihres Sinnes. Von Natur offen und mittheilend, sah sie sich theils durch die Verhältnisse, theils durch ihre eigene Schuld in ein Gewebe von Heimlichkeiten und Täuschungen verstrickt, das sie in ihren eigenen Augen erniedrigte. Clara’s ruhige, ergebene Entsagung leuchtete ihr als Beispiel vor; sie wollte nicht kleiner sein als ihre Freundin, denn auch sie war sich bewußt, das Unvermeidliche würdig tragen und eher das Glück, als die Achtung vor sich selbst entbehren zu können. Wie würde es sein, fragte sie sich also immer wieder, wenn ich vor Reinhard hinträte und ihm erklärte: Ich liebe Dich mehr, als Du es weißt, ich hatte meine ganze Zukunft an Dich geknüpft; aber Christin nach Deinem Sinne kann ich nie werden, darum muß ich auf das Glück verzichten, auf das ich mit Dir hoffte. Therese liebt Dich, sie glaubt wie Du an Christus, möge sie Dir ein Glück gewähren, das Du aus den Händen einer Jüdin nicht annehmen darfst. Aber schon bei dieser innerlich gehaltenen Rede zerfloß die Aermste in Thränen, trotz der Großmuth, welche sie gegen ihre Nebenbuhlerin auszuüben dachte. Sie stellte sich den Kummer vor, in dem sie die schönsten Jahre ihres Lebens fern von Reinhard vertrauern würde, sie sah ihn an Theresens Seite glücklich, sah sich von ihm vergessen, und noch heißer und bitterer flossen ihre Thränen. Was würden ihre Eltern sagen? Was würde man in den Kreisen ihrer Bekannten von ihr denken? Welch’ widersprechende, tadelnde und nachtheilige Gerüchte könnten sich über sie verbreiten! Während sie ihr höchstes Glück einer religiösen Ueberzeugung mit blutendem Herzen opferte, würden Neid und böser Wille sich in die innersten Verhältnisse ihres Lebens drängen, und Gründe zu dieser Handlung suchen, von denen keine Spur in ihrer Seele war. Könnte nicht selbst Therese bereit sein, Reinhard zu beweisen, daß Mangel an Liebe zu ihm, oder die Furcht vor seinen beschränkten Verhältnissen und dem Leben in ländlicher Zurückgezogenheit, sie zur Lösung dieses Bündnisses veranlasse, und daß sie die Religion nur zum Deckmantel gebrauche? Jenny sah Reinhard vor sich, sie sah, wie er mit Verachtung auf sie blickte, wie er sie von sich stieß, er, der sie einst geliebt, an dem sie stets mit warmer Neigung gehangen, und trotz aller innern Kämpfe, trotz der warnenden Stimme ihres Gewissens ließ sie die Taufe für eine bestimmte Stunde ansetzen, und beschloß, durch jenes erkünstelte Glaubensbekenntniß, das sie beschwören konnte, ohne gerade einen Meineid zu begehen, sich unauflöslich mit Reinhard zu verbinden, weil sie sich vor den Leiden fürchtete, die eine Trennung von ihrem Geliebten nothwendig für sie zur Folge haben mußte.

Reinhard, seine Mutter und Clara sollten die Zeugen bei Jenny’s Taufe sein, und die Pfarrerin war zu diesem Zwecke nach Berghoff gekommen, wo sie ein paar Wochen zu bleiben versprochen hatte. Auch Reinhard machte sich frei von seinen Geschäften in der Stadt, um diese Zeit ganz mit seiner Braut zu verleben, da er, wie schon gesagt, gleich nach der Taufe mit seiner Mutter zu seinem alten Onkel fahren und dort verweilen wollte, bis die Entscheidung über seine Anstellung definitiv erfolgt sein würde. Obgleich nur ein paar Monate seit der Abreise der Pfarrerin verflossen waren, fand sie das Verhältniß ihres Sohnes zu Jenny wesentlich verändert und fast umgekehrt. Reinhard’s Eifersucht hatte sich gelegt, da Erlau dieselbe nicht mehr erregte; mit den äußern Verhältnissen seiner Zukunft, mit dem Reichthum seiner Braut hatte er sich ausgesöhnt, je mehr er sich überzeugte, daß die ganze Familie denselben zwar in seinem Werthe begriff, aber doch nicht überschätzte oder damit absichtlich prunkte; und da nun auch Jenny’s religiöse Erkenntnisse sich seinen Ansichten angeschlossen hatten, war er vollkommen glücklich, und zu jener innern Zufriedenheit gelangt, die ihn seit seiner Verlobung geflohen hatte. Diese innere Ruhe machte ihn heiter, nachgebender und mittheilender, als er es jemals gewesen war. Er hatte tausend Aufmerksamkeiten für Jenny’s Eltern, behandelte Eduard mit der zartesten Sorgfalt, da er ihn über einen Verlust trösten wollte, dessen Größe er mit ihm empfand, ohne daß Jener irgend über seine Liebe oder seinen Gram mit ihm gesprochen hatte. Mit Jenny unabläßlich beschäftigt, war er es jetzt, der sich an jeder Kleinigkeit erfreuen und bei jedem Begebniß eine fröhliche, scherzhafte Seite hervorheben konnte. Selbst Theresens Neigung für ihn diente, so sehr er es auch verheimlichen wollte, nur dazu, sein Glück zu erhöhen, indem sie seiner Eitelkeit, deren er sich kaum bewußt war, schmeichelte und ihm in Jenny’s Eifersucht einen ihm wohlthuenden Beweis ihrer Liebe gab. Er fühlte sich in gewisser Weise Theresen dafür verpflichtet, behandelte sie mit freundlicher Zuvorkommenheit, und in dem täglichen Beisammensein mit ihr stellte sich ein zutraulich bequemes Verhältniß zwischen ihnen her, das aber von Theresens Seite an Unbefangenheit verlor, je ruhiger Reinhard sich demselben überließ.

Mit Freuden hatte die Pfarrerin die Verwandlung bemerkt, welche die Stimmung ihres Sohnes erlitten hatte, aber um so räthselhafter erschien ihr Jenny. Ein düstrer Ernst, eine krankhafte Reizbarkeit hatten sich ihrer bemächtigt, und besonders hatte Therese von der Letztern in einem Grade zu leiden, der der Pfarrerin mißfiel. Jenny’s Liebe zu ihrem Bräutigam schien äußerst lebhaft, sie konnte sich keinen Augenblick von ihm trennen; sie war unruhig, wenn sie ihn nicht sah, und doch vermißte das scharfe Auge der Pfarrerin in Jenny’s Liebe jene innige Hingebung, welche sie früher für Reinhard gezeigt hatte. Es lag ein Etwas in ihrem Betragen, in ihrer ganzen Art, das ihr unheimlich, ja fast dämonisch vorkam, und wovon sie sich doch keine bestimmte Rechenschaft geben konnte, um so weniger, als Jenny von einem unersättlichen Hang zu immer neuen Zerstreuungen erfüllt schien, der Niemanden in ihrer Umgebung zur Ruhe kommen ließ.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny