Achtzehnter Abschnitt. - So sehr Jenny und Clara sich ihres Wiedersehens erfreuten, so lieb sie einander waren, so ...

So sehr Jenny und Clara sich ihres Wiedersehens erfreuten, so lieb sie einander waren, so konnte es Beiden doch nicht verborgen bleiben, daß es ihnen eigentlich an jenen gemeinsamen Berührungspunkten fehle, welche die Basis der Freundschaft machen. Sie hatten im Ganzen nur wenig Monate zusammen verlebt, eine Reihe von Jahren war seitdem verflossen, und trotz eines fleißigen Briefwechsels waren sie einander in ihrer gegenwärtigen Entwicklung fremd, und wußten sich nicht recht ineinander zu finden. Wie Clara’s ganze Erscheinung Glück und Zufriedenheit ausdrückte, wie jeder Zug die Wonne aussprach, welche sie als Gattin und Mutter empfand, so zeigte sich auch in ihrer geistigen Richtung eine gewisse Ruhe, ein abgeschlossenes Begnügen. Sie hatte die höchsten Schätze des Lebens erreicht und, obgleich sie für die Außenwelt nicht abgestorben war, interessirte sie dieselbe doch eigentlich nur in so weit, als sie William berührte und mit seinen Wünschen und Ansichten zusammenhing; denn sie lebte eigentlich nur in ihrem Manne und in ihren Kindern. Jenny hingegen wollte, durch Eduard daran gewöhnt, Theil nehmen an allem Großen und Wichtigen. Mit weiblicher Schwärmerei hing sie an den Planen und Hoffnungen Eduard’s, nicht um seinetwillen allein, sondern weil sie auch die ihren geworden waren. Geistige und künstlerische Beschäftigungen füllten die größte Zeit ihres Tages aus, und mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit strebte sie nach neuen Kenntnissen, nach höherer, vielseitiger Ausbildung der Anlagen, die sie ungenützt in sich fühlte.

Mit schmerzlichem Lächeln sah Clara auf diese Richtung ihrer Freundin hin. Sie glaubte in sich die Erfahrung gemacht zu haben, daß bei Frauen die lebhafte Theilnahme an den Erscheinungen der Außenwelt ein Zeichen innerer Unbefriedigung sei, ein Ersatz, mit dem sie sich für ein Glück entschädigen, das ihnen nicht geworden ist. Jenny hingegen erschien Clara’s Wesen als eine Entsagung, die sie bewunderte, ohne zu glauben, daß sie selbst im Stande wäre, sich zu solcher freiwilligen Selbstbeschränkung zu entschließen.


Bei so verschiedenen Ansichten ward eine gegenseitige Schonung derselben zur Pflicht, und da die ersten Versuche sich zu verständigen, ohne Erfolg geblieben waren, vermied man es darauf zurückzukommen, und Jenny war nahe daran, ihr Beisammensein mit Clara etwas einförmig zu finden, als durch Walter’s tägliche Anwesenheit eine erwünschte Abwechselung in ihr Leben kam.

Er war schon nach wenig Tagen ihr steter Begleiter bei den Spaziergängen, zu denen die Umgegend Baden’s so unwiderstehlich lockt. Vor ihm durfte sie sich sorglos in ihrer eigenthümlichen Denkweise gehen lassen, und Walter, der dadurch Jenny’s hohen Werth täglich mehr erkennen und schätzen lernte, äußerte nach einiger Zeit gegen William und Clara, wie anziehend und bedeutend Jenny ihm erscheine.

Und nicht auch schön? fragte Clara.

Sehr schön! antwortete der Graf, und um so fesselnder, als man ihren Augen anzusehen glaubt, daß sie schon geweint, ihrem Munde, daß er schon vor Schmerz gezuckt hat. Solch feucht verklärten Augen gegenüber fühlt man den Beruf zu trösten, zu vergüten, und so heiter Jenny auch erscheint, ist mir doch immer, als hätte die Zukunft bei ihr noch Vieles gut zu machen, als müsse sie durch Glück für früheres Leid entschädigt und belohnt werden.

Das klingt sehr warm, lieber Graf! sagte William scherzend, und fast, als ob Sie nicht abgeneigt wären, die Entschädigung zu übernehmen. Hüten Sie sich vor den feucht verklärten Augen.

Sie thun mir Unrecht, entgegnete Walter, wenn Sie meinen Worten irgend einen andern Sinn unterlegen. Daß ich unsere Freundin so lebhaft schätze, ohne sie zu lieben, das gerade macht mir ihren Umgang werth und erhöht den Reiz, den ihr scharf ausgeprägter Charakter, ihr selbständiges Wesen für mich haben.

In dem Augenblick kam der kleine Richard herbei und rief: O kommt doch die Tante sehen, kommt doch Alle an das Fenster!

Man folgte ihm, wohin er zeigte, und erblickte Jenny, die eine junge blasse Frau der niedern Stände unterstützte, während sie das Kind derselben auf dem Arme trug. Walter flog die Treppe hinab, um ihr beizustehen; denn es war Mittag, die Sonne brannte heiß und Jenny schien erschöpft von der ungewohnten Anstrengung.

Führen Sie die Frau in’s Haus, sagte Jenny, als Walter dazu kam, aber behutsam. Das Kind behalte ich.

Der Graf erfüllte ihren Wunsch, und nachdem man für die arme Kranke gesorgt hatte, erzählte Jenny, wie sie dieselbe ohnmächtig am Wege gefunden, sie durch ihre Bemühungen in’s Leben gerufen und mit unsäglicher Anstrengung bis hieher gebracht habe, da jetzt in der Mittagsstunde Niemand die Straße gekommen sei, den sie um Hülfe hätte bitten können.

Nicht Ein Mensch war zu sehen, sagte sie. Ich blickte nach allen Seiten, ich rief so laut ich konnte und der unerträglichste Stutzer wäre mir ein hülfreicher Götterbote gewesen, wenn er in dem Augenblicke erschienen wäre.

Es ist besser so! meinte Clara. Du hast die arme Frau glücklich hieher gebracht und bist allen Bemerkungen entgangen, die man darüber leicht gemacht hätte.

Zu diesen bot wohl eine so einfache Handlung keinen Anlaß, sagte Jenny unbefangen. Ich konnte doch unmöglich die Frau allein und hülflos liegen lassen, bis ich von hier oder aus der Stadt Beistand geholt hatte. Zudem hätte ich das schreiende Kind doch mit mir nehmen müssen und endlich weißt Du, liebes Clärchen, daß mir die Urtheile der Menge sehr gleichgültig sind, wenn ich Das, was ich thue, vor mir und meinem Vater verantworten kann.

In Jenny’s Worten, in ihrem ganzen Wesen lag in diesem Moment so viel Natürlichkeit und doch ein so edler Stolz, daß Walter sie mit Entzücken betrachtete, obgleich auch ihm der Gedanke unangenehm gewesen, man hätte Jenny bei jenem Samariterdienste beobachten und sie falsch beurtheilen können. Aber er selber machte sich diese Scheu zum Vorwurf.

Wie wir doch nach allen Seiten hin auf Widersprüche in den Sitten unserer sogenannten civilisirten Welt stoßen! sagte er zu dem Vater, der indeß dazu gekommen war. Wäre eine der Dienerinnen des Hauses der Unglücklichen begegnet, und hätte sich ihrer angenommen, so würden wir das schön und lobenswerth gefunden haben; und nun tadeln wir die Gütige, daß sie nicht unbarmherziger zu sein vermochte, als ihrer Dienerinnen Eine, obgleich der Dienst, den sie leistete, größer war, denn er mußte ihr beschwerlicher scheinen.

Sie billigen also die Handlung meiner Tochter unbedingt? fragte der Vater.

Walter stockte einen Augenblick und meinte dann: Wenigstens hätte ich selbst nicht anders zu handeln vermocht.

Aber Sie würden wünschen, sagte der alte Herr, daß Jenny auf keine zweite Probe der Art gestellt würde, denn wir wollen einmal kein Mädchen von der gewohnten Sitte ihres Standes abweichen sehen. Dennoch ehre ich ein Gefühl, das in solchen Augenblicken rücksichtslos zu handeln vermag, ohne an das, was man davon sagen wird, zu denken; und ich bin vielleicht selbst Schuld daran, wenn Jenny das Urtheil der Leute nicht eben sehr hoch anschlägt. In meinen Verhältnissen war es mir Pflicht, meine Kinder bis zu einem gewissen Grade gleichgültig gegen die öffentliche Meinung zu machen, die wir ein für allemal gegen uns hatten und deren Einfluß auf uns und auf Jeden doch viel größer ist, als wir es glauben wollen.

Clara, die gleich Anfangs ihre Aeußerung bereut hatte und es nun doppelt that, da sie Herrn Meier zu einer Erklärung bewogen, welche er ebenso gern vermied, als Eduard sie suchte, Clara sagte: Versteht mich nur nicht falsch! Ich tadle Jenny nicht. Nur vor der Verderbtheit Derjenigen war mir bange, welche ihr irgend eine unlautere Absicht, ein Schaustellen dabei zur Last legen konnten. Wir Frauen sind so sehr gewöhnt, uns nur innerhalb unseres schützenden Hauses zu denken, daß wir erschrecken, wenn wir uns außerhalb desselben handelnd erblicken.

Entschuldige Dich nicht und mich nicht, Clärchen! sagte Jenny, die bis dahin schweigend einer Unterhaltung zugehört hatte, bei der sie so nahe betheiligt war. Du kennst meinen alten Wahlspruch: „Thue was Du sollst, komme was mag.“ Kann ich dafür, wenn ich den Muth dazu von früher Jugend an fühlte? Mit diesen Worten entfernte sie sich schnell, um nach ihrem Schützling zu sehen, und ließ Walter in großer Bewegung zurück. Es war das erste Mal, daß er mit einer jüdischen Familie in nähere Berührung kam und Jenny’s Geist und Schönheit, des Vaters maaßvolle Würde zogen ihn um so mehr an, als sie etwas ihm Fremdes und Eigenthümliches besaßen. Er hatte von jeher gewußt, daß Jenny eine Jüdin sei; aber so fern hatte er diesen Verhältnissen gestanden, daß er fast nie daran gedacht, es könne ein edles Unglück darin liegen, Jude zu sein. Jetzt aus des Vaters schlichter Aeußerung tönte ihm, dem Glücklichen, der Schmerzensschrei eines ganzen Volkes entgegen und sein Mitleid mit demselben knüpfte, ihm unbewußt, ein neues Band, das ihn an Jenny fesselte.

Er wenigstens wollte durch sein Verhältniß zu Jenny und ihrem Vater zeigen, daß er frei von den Vorurtheilen sei, durch die, wie er allmälig von Jenny erfuhr, auch sie und die Ihrigen so empfindlich gelitten hatten. Er machte sich es zu einer Ehre, überall ihr Begleiter zu sein, und erklärte frei und offen, wie er ihre und ihres Vaters Gesellschaft dem Umgang mit vielen seiner Standesgenossen vorziehe.

Dabei ging Walter’s Selbsttäuschung so weit, daß er jenes Gefühl, welches ihn zu handeln antrieb, nur für eine Gerechtigkeit, für eine Genugthuung des freien Glücklichen gegen den Unterdrückten hielt. Er glaubte nur seiner politischen Ueberzeugung, seiner Achtung vor den Menschenrechten zu folgen, die ritterliche Pflicht eines Edelmannes zu erfüllen, indem er durch sein Beispiel gegen ungerechte Vorurtheile kämpfte.

Einem Onkel, der durch Bekannte von Walter’s Verhältniß zur Meierschen Familie unterrichtet war und mit einiger Unruhe desselben gegen ihn erwähnte, schrieb er in dieser Zeit:

„Sie haben mich gewöhnt, mein theurer Onkel! die Besorgnisse und Vorwürfe zu verstehen, die Ihre schonende Liebe für mich zwischen die Linien schreibt, um mir jede unangenehme Empfindung zu ersparen. So lese ich hinter dem wohlwollenden Rath, in die Heimath zurückzukehren und nicht wieder so gar lange von meinen Besitzungen fern zu bleiben, die Besorgniß, ich könnte nicht allein in diese Heimath einziehen, sondern eine Gattin mit mir bringen, die Ihnen, dem ehemaligen Vormund, dem väterlichen Freunde, nicht willkommen wäre, so gern Sie mich übrigens verheirathet und unser altes Geschlecht fortgepflanzt wüßten.

Fürchten Sie nichts! Meine Freundschaft für den Kaufmann Meier und für seine Tochter ist allerdings eine lebhafte und, wie ich denke, dauernde; indeß ist mir der Gedanke, dieses treffliche Mädchen zu heirathen, vollkommen fremd. Sie wissen, und ich glaube das fürchten Sie gerade, daß kein Vorurtheil mich abhalten könnte, ein bürgerliches Mädchen, das ich liebte, zur Gräfin Walter zu machen: doch ich liebe Jenny Meier nicht, so sehr ich mich ihrer Freundschaft, ihres Umganges erfreue. Es ist wahr, sie ist schön und liebenswürdig in hohem Grade, aber eine gewisse Jugendlichkeit, das weiblich Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen ungern vermißt. Sie weiß mit Sicherheit, daß sie gefällt, es ist ihr lieb, ohne daß sie Anspruch darauf macht; und sie würde, wie mich dünkt, nicht das Geringste dazu thun, die Meinung oder Gunst eines Mannes zu erwerben. Gefällt sie, ist’s ihr recht, wenn nicht, so gilt’s ihr gleich. Gestehen Sie, das ist eigentlich nicht die Art, welche wir an einem Mädchen lieben. Es liegt etwas Männliches darin, das interessant ist, das den Umgang sehr erleichtert, unser Vertrauen, unsere Freundschaft erweckt, aber Liebe erzeugt es nicht.

Ich traf mit dieser Familie ganz zufällig durch die Vermittlung eines gemeinsamen Freundes zusammen und nahm mit Dank das Erbieten desselben an, seine und ihre Wohnung zu theilen. Dies veranlaßte vermuthlich jenes Gerücht meiner Verlobung mit einer Jüdin, das Sie erschreckt hat. Für diesmal, das sehen Sie, sind Sie der Sorge ledig, mich eine Heirath schließen zu sehen, die so stark gegen Ihre aristokratischen Ansichten verstoßen würde. Was die Zukunft bringt, dafür kann ich nicht einstehen. Doch ohne Scherz! Sie wissen, wie ich darüber urtheile, und habe ich je den Beruf gefühlt, mit allen Waffen kämpfend gegen Vorurtheile aufzutreten, so war es nach manchen Mittheilungen, die mir Fräulein Meier über ihre Jugend und die Verhältnisse ihres Bruders machte, der auch Ihnen dem Namen nach bekannt sein muß. Jene Vorurtheile, das sind die Drachen unserer Tage, die zu vertilgen, Ritterpflicht wäre; und so viel an mir ist, will ich beweisen, daß ich noch ein Ritter bin, wie jener St. Georg, der den Lindwurm tödtete. Es würde Sie selbst ergreifen, wenn Sie Jenny mit Stolz von dem Unglück sprechen hörten, das sie mit Tausenden theilt und für Alle empfindet; denn obgleich sie lange zum Christenthum übergetreten, ist sie von Grund der Seele Jüdin geblieben. Sie gesteht das frei und es macht sie mir um so interessanter, wie denn ihr ganzes Wesen mir eine neue Erscheinung, ein Räthsel ist, das mich anmuthig beschäftigt. In ihr vereinen sich der Geist und der Muth eines Mannes mit einem Frauenherzen, und es überrascht mich oft, daß doch zuletzt, trotz aller männlichen Klarheit, irgend eine liebenswürdige weibliche Schwäche oder ein lebhaftes Gefühl den Sieg über all ihren Verstand erringen.

Sie sehen aus der Weise, in der ich ruhig ihren Charakter zu zergliedern vermag, daß mein Herz ganz frei ist. Selbst der geübteste Anatom vermöchte das nicht, wenn das Klopfen des Herzens ihm die Hand unsicher macht, wie viel weniger ich. Also unbesorgt, mein väterlicher Freund! Finden Sie mir in unsern Kreisen eine liebenswürdige Gattin und ich will mich nicht länger sträuben, mir Ketten anlegen zu lassen, die sehr beglückend sein können, wie ich hier an mei nem Freunde und seiner schönen Frau bemerke.“

Tage und Wochen schwanden auf die anmuthigste Weise dahin. Walter überließ sich immer mehr dem steigenden Interesse, das ihn an Jenny fesselte und ihm ihren Umgang zu einem Bedürfniß machte, auf das er nicht mehr wohl verzichten konnte, und auch ihr war Walter bereits seit lange ein werther Freund geworden. Da entzog die Ankunft einer Freundin, der Geheimräthin von Meining, Jenny auf einige Tage der Gesellschaft ihrer Hausgenossen.

Frau von Meining, nur wenige Jahre älter als Jenny, war an einen bejahrten Mann verheirathet, der in Berlin als Arzt eine bedeutende Stellung einnahm. Dort hatte Jenny sie kennen gelernt und ein unbedingtes Vertrauen zu ihr gefaßt, das durch den hohen sittlichen Werth jener Frau vollkommen gerechtfertigt wurde. Fast jeden Sommer pflegte die Geheimräthin in Baden zu leben, wo sie eine Besitzung hatte, während ihr Mann seinem fürstlichen Herrn auf dessen Reisen folgte, und die Aussicht, Jenny zu treffen, hatte sie um so mehr bestimmt, auch in diesem Jahre ihren Lieblingsort wieder zu besuchen. Leider aber war sie diesmal unpaß in Baden angelangt, und eine große Reizbarkeit der Nerven nöthigte sie, sich für’s Erste der Gesellschaft fern zu halten und sich allein auf Jenny zu beschränken, die mit Freude ihre Zeit zwischen der Geheimräthin und den Ihrigen theilte.

Willig ließ man sie darin gewähren; nur Graf Walter konnte sein Mißvergnügen über Jenny’s häufige Abwesenheit nicht verbergen und äußerte eines Abends gegen den Vater, wie er sich die Abwesenheit einer so liebenswürdigen Tochter nicht gefallen lassen würde. Clara lachte darüber und der Vater bemerkte: Sie werden auch uneigennützig werden, mein Freund, wenn Sie das Glück empfunden haben werden, das man in der Zufriedenheit seiner Kinder genießt. Uebrigens muß man auch der armen Leidenden die kleine Zerstreuung gönnen, die meiner Tochter Gesellschaft ihr gewährt.

Aber heute bleibt Fräulein Jenny doch ungewöhnlich lange dort, sagte Walter, als man Anstalten machte, sich für den Abend zu trennen, ohne Jenny’s Rückkehr zu erwarten.

Meine Tochter hat den Wagen erst nach elf Uhr bestellt. Die Geheimräthin leidet an Schlaflosigkeit und Jenny wollte versuchen, ob es ihr nicht gelänge, sie durch leises, gleichmäßiges Vorlesen oder auf irgend eine andere Weise in Schlaf zu wiegen. Ich wünsche der liebenswürdigen Frau und Euch eine gute Nacht.

Mit den Worten entfernte sich der Vater; auch Clara und William zogen sich zurück und ließen Walter allein. Es war ihm zu früh, sich zur Ruhe zu begeben. Er ging hinab ins Freie, um noch eine Stunde der Kühlung zu genießen, denn er fühlte sich mismüthig, unruhig und in großer Spannung. Ihm war, als stehe er am Vorabende einer neuen Epoche seines Lebens, als erwarte er etwas, oder als müsse ihm heute irgend ein besonderes Ereigniß begegnen. Und wenn er sich fragte, was ihn so bewege, worauf er so sehnsüchtig harre: dann mußte er sich bekennen, daß er es selbst nicht wisse. Vergebens versuchte er diesen Zustand zu bekämpfen, und um endlich, wie er glaubte, eine körperliche Erregtheit durch Ermüdung abzustumpfen, ging er rastlos und schnell vorwärts. So befand er sich nach kurzer Zeit am Ausgange der Lichtenthaler Allee, in der Nähe des Hauses, in welchem Frau von Meining wohnte. Die Meiersche Equipage hielt vor ihrer Thüre. Die Fenster der Geheimräthin waren matt beleuchtet. Zerstreut blieb Walter eine Weile stehen, sah zu den Fenstern empor und schickte sich dann plötzlich zur Rückkehr an. Kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte gemacht, als er sich auf eine der Bänke warf, die sich in der Allee befinden, und in ein tiefes Hinträumen versank, aus dem ihn dennoch der Fußtritt jedes Vorübergehenden emporschreckte. Allmälig wurde die Allee einsamer. Die Uhr des Nonnenklosters in der Stadt schlug zwölf. Bald darauf hörte er das Rollen von Rädern, er fuhr auf und blickte nach der Gegend, woher der Ton zu kommen schien. Aber täuschte er sich nicht? Ein weißes Kleid schimmerte glänzend aus der Dunkelheit empor. er eilte der Gestalt entgegen, sein Herz schlug hörbar – Jenny stand vor ihm.

Sie hier, Graf Walter? sagte sie überrascht, doch freundlich, und legte ihren Arm in den des Grafen, der ihn ihr schweigend bot.

Wer es nicht empfunden hat, wie viel Vertrauen in der Art liegen kann, mit dem eine Frau sich auf den Arm eines Mannes lehnt, der wird nicht begreifen, wie Walter sich so glücklich fühlte, als Jenny’s Arm jetzt in dem seinen ruhte. Denn es gibt gewiß nichts Gleichgültigeres, als die Sitte, einer fremden Dame den Arm zu bieten, und doch fast nichts Süßeres, als wenn diese gleichgültige Sitte unter Personen zur traulichen Gewohnheit wird, die es noch selbst nicht wissen, wie nahe sie schon zu einander gehören.

Was unverstanden wie eine dunkle Ahnung in Walter geschlummert hatte, das fühlte er plötzlich als unwiderstehliche Wahrheit. Er hatte Jenny immer schon geliebt und jetzt, da sie freundlich und doch sorglos, als müsse es so sein, seinen Schutz und seine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe siegreich in seinem Bewußtsein auf und er fragte sich: Warum erst jetzt?

Schweigend legten sie eine Strecke des Weges zurück, denn Walter vermochte nicht zu sprechen vor freudiger Bewegung, und Jenny fühlte sich so geborgen unter dem Schutze dieses Mannes, so zufrieden in dem Gedanken an die Erleichterung, die sie ihrer Freundin verschafft hatte, daß sie sich willig jener weichen Ruhe überließ, zu der die schöne Sommernacht verführerisch einlud. Allmälig aber wurde ihr Walter’s Schweigen peinlich. Es war als ob seine Stimmung sich ihr mittheilte, sie fühlte sich beklommen, geängstigt, und um nur eine Veränderung in diese Lage zu bringen, sagte sie: Es war so schwül in den Zimmern der Frau von Meining, daß ich dringend die Nothwendigkeit fühlte, mich abzukühlen, und deshalb mit unserm alten Diener den Fußweg einschlug. Die Nacht ist heut’ so schön.

O, unaussprechlich schön! wiederholte Walter und die frühere Stille trat wieder ein. Jenny’s Unruhe stieg dadurch von Minute zu Minute. Sie bildete sich endlich ein, um sich Walter’s Schweigen und ihre Unruhe zu erklären, ihrem Vater sei irgend ein Unglück begegnet und man habe ihr Walter entgegengeschickt, sie davon in Kenntniß zu setzen. Wie ging es meinem Vater, als Sie ihn verließen? fragte sie besorgt.

Er war wohl und munter, und hatte sich zur Ruhe begeben, ehe ich fortging, antwortete der Graf, und Jenny, als sie in diesem Augenblick ihre Wohnung erreichten, machte ihren Arm aus dem des Grafen los und sank aufathmend auf den Sitz vor ihrer Thüre nieder. Sie hätte weinen mögen, so gepreßt war ihr das Herz. Sie wollte aufstehen und noch in das Zimmer ihres Vaters gehen, um sich zu überzeugen, daß er wohl sei, und war doch so beklommen und so bang bewegt, daß sie kein Glied zu rühren vermochte. Dem Grafen mußte es eben so ergehen, er setzte sich schweigend zu ihr nieder.

Es war still um sie her; nur das Rauschen der Blätter, das leise Rieseln des Oelbaches tönten an ihr Ohr. Balsamisch drang der Duft des frisch gemähten Grases von den Wiesen empor und Jenny’s Seele fand Ruhe und Frieden in dieser feierlichen Stille, der sie sich mit Wonne hingab. Da tauchte plötzlich ein lichter Schein am nördlichen Horizonte auf, hell und immer heller, so daß der ganze Himmel davon durchleuchtet und verklärt schien, während ein Lichtmeer den Ursprung der herrlichen Erscheinung bezeichnete. Einzelne Strahlen schossen blitzschnell gegen den Zenith empor, im wechselnden Farbenspiel und mit ganz überirdischer Pracht; dann verschwammen sie wieder in dem Lichtmeere und neue, ebenso glänzende Flammenstreifen tauchten daraus hervor. Es war das schönste Nordlicht, das man seit lange gesehen hatte und bewundernd hingen Jenny’s Blicke an dem erhabenen Anblick. Ihre Hände falteten sich unwillkürlich und mit bebender Stimme sagte sie: Und sie sprechenvon Offenbarung! Als ob es eine göttlichere, unwiderstehlichere geben könnte, als diese. Wer sollte nicht glauben an Den, der in solchen Zeichen zu uns spricht? Das ist Gott! Das ist der Gott, den ich anbete, und der keines Mittlers, keiner sinnverwirrenden Lehren von Kreuz und Blut und Tod bedarf, um uns fühlen zu lassen, daß sein die Macht und Er die Liebe ist.

Thränen der Begeisterung flossen aus ihren Augen. Kein Gedanke, als die anbetende Verehrung, die tiefste Demuth vor Gott war in ihrer Seele, als Walter mit einem Ausruf von Entzücken sich vor Jenny niederwarf und ihre gefalteten Hände an seine glühenden Lippen preßte. Erschreckt und unangenehm durch diese leidenschaftliche Berührung in ihrer Andacht gestört, stand Jenny auf und sagte mit einem Tone des Vorwurfs: Entweihen Sie die Stunde nicht. Knien Sie nicht vor dem Geschöpf, wenn der Schöpfer selbst Sie einer solchen Offenbarung würdigt! Und sie schritt rasch in das Haus, an dessen Thüre ihr Diener ihres Eintritts wartete.

Bestürzt sah Walter ihr nach. Sein Herz hatte voll grenzenloser Liebe verlangt, sich in dieser feierlichen Stunde der Geliebten für immer zu eigen zu geben, und im Uebermaß des Gefühls war er vor sie niedergesunken. Wie sie in dem Phänomen, so betete er in ihr die Macht des Schöpfers an, und kalt und tadelnd hatte sie ihn von sich gestoßen. Er warf es sich vor, wie ein blöder Träumer vor Jenny gestanden zu haben, statt von ihr wie ein Mann ihre Hand und ihr Wort zu fordern. Jetzt, sagte er sich, jetzt könnte sie mein sein. Ich könnte meine Lippen auf die ihren drücken, den Schlag ihres Herzens an dem meinen fühlen, wissen, daß sie mein ist für immer – daß sie mich liebt ....

Walter hielt inne. Daß sie ihn liebte, dafür hatte er keinen, gar keinen Beweis, und doch glaubte er an ihre Liebe. Eine Liebe wie die seine konnte nicht unerwidert bleiben, sie mußte Gegenliebe finden. Diese Hoffnung gab ihm Muth; und voll Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang wollte er am nächsten Morgen Jenny seine Liebe gestehen und von ihrem Vater die Hand seiner Tochter fordern.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jenny