Malerei

Auf keinem Gebiete der Kunst hat sich die Emanzipation der neuen Zeit stärker geltend gemacht, als in der Malerei. Während die Architektur und ganz besonders das Kunstgewerbe die Abkehr von den historischen Stilen mehr oder weniger klar ins Auge gefasst hatte und nach der Überwindung des sogenannten Jugendstils zu einer rationellen Formgebung einlenkte; während auch die Plastik von gelegentlichen extremen Abschweifungen immer wieder in ein gesundes Gleichgewicht zurückkehrte, hatte die Malerei die schwersten Krisen zu bestehen, und noch kann von einem Abschluß dieser Gärung nicht im entferntesten die Rede sein. Tatsächlich liegen die Verhältnisse hier verwickelter als auf allen übrigen Gebieten der zeitgenössischen Kunst, denn gerade in unsere Malerei hat während des ganzen 19. Jahrhunderts, am stärksten aber um die Jahrhundertwende, der Einfluss Frankreichs befruchtend und beunruhigend hineingespielt. Die Frage, wie weit dieser Einfluss begrüßenswert sei, oder ob er hätte umgangen werden können, spielt für den keine Rolle, der sich daran gewöhnt hat, geschichtliche Tatsachen als solche hinzunehmen. In dieser Erkenntnis wird er sich auch dann nicht irre machen lassen, wenn wesensfremde Gesichtspunkte in das künstlerische Urteil hineingezerrt werden, wie Lokalchauvinismus oder überhaupt alle Formen des nationalen Ehrgeizes, so begreiflich dieser auch gerade heute erscheinen mag. Durften die deutschen Künstler früherer Generationen ganz unbefangen bekennen, was sie ihren Wanderjahren in Rom und Paris verdankten, so wurden solche Zugeständnisse dem erstarkten nationalen Selbstbewusstsein nach 1870 mehr und mehr ärgerlich, gerade auch aus dem Grund, weil die Orientierung der deutschen Malerei durch die französische niemals so tiefgreifend gewesen war wie zwischen 1880 und 1900. Wenn nun auch heute kein Einsichtiger mehr die Bedeutung des französischen Impressionismus für die deutsche Malerei verkennt, so steht es doch noch keineswegs fest, wie weit die französische Kunst auch fernerhin berufen sein wird, uns als Wegweiser zu dienen. Schon über Cezanne, der, man beurteile ihn wie man wolle, jedenfalls als ein Knotenpunkt in der Entwicklung der neueren Malerei zu gelten hat, gehen die Meinungen weit auseinander. Nach ihm aber folgen in immer kürzeren Abständen die Einflusswellen von Matisse, Picasso und den Futuristen, die in der deutschen Malerei eine solche Verwirrung der Meinungen und Absichten hervorriefen, dass schließlich die Frage nahe lag, ob denn die deutsche Kunst nicht überhaupt stark genug sei, um fremder Einflüsse zu antraten, eine Frage, die durch die gegenwärtigen politischen Verhältnisse noch ganz besonders an Dringlichkeit gewann und von erbitterten Parteien diskutiert wurde.

Es mag befremdlich scheinen, eine Zusammenfassung der neueren Münchener Malerei mit einem Überschlag des fremden Einflusses auf die deutsche Kunst einzuleiten, da ja gerade die eigentliche Münchener Tradition — im Gegensatz zu Berlin — dem Eindringen des Impressionismus zähen Widerstand geboten hat. Dennoch ist der Gesichtspunkt der Fühlung mit der französischen Malerei (die übrigens durchaus nicht, wie so oft behauptet, eine deutsche Schwäche, sondern ein Stadium der internationalen Kunstgeschichte betrifft) ganz besonders dazu geeignet, die widerspruchsvolle Vielfältigkeit zu klären, die uns ein Querschnitt durch die Münchener Malerei unserer Zeit vor Augen stellt. Man mag in diesen Widersprüchen ein Symptom inneren Reichtums erblicken, oder sie als eine die alte, einheitliche Tradition zersetzende Erscheinung beklagen: jede Art persönlicher Stellungnahme, individueller Geschmack, Berufung auf das Herkömmliche oder grundsätzlicher Wunsch nach Neuem sollen möglichst zurücktreten, wo es sich, wie in den vorliegenden Annalen, darum handelt, die mannigfaltigen künstlerischen Äußerungen sachlich vorzuführen, nach ihren Absichten zu befragen und den weiteren Zusammenhängen der deutschen Kunstgeschichte einzugliedern. Im einzelnen verschlägt ja diese, den auseinanderstrebenden Tendenzen neutral entgegentretende Betrachtungsweise nicht, besonders starke typische Persönlichkeiten als solche hervorzuheben.


Die große Tradition der Münchener Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen der Historienmalerei. Sie gibt sich zunächst noch in den monumentalen Abmessungen der vorausgehenden Generation, obgleich schon ein Piloty die innere Notwendigkeit für seine Riesenflächen nicht mehr nachzuweisen vermag und den jüngeren Kleinmeistern wie Grützner viel näher steht, als dem großen Cornelius. Dafür aber brachte derselbe Piloty gemeinschaftlich mit seinem sehr viel begabteren Wiener Schüler Makart durch eine besondere Auffassung der aus Belgien stammenden Geschichtsmalerei der Münchener Schule neue Anregungen. Sein Bemühen um die bildliche Wiederbelebung bedeutender Ereignisse früherer Jahrhunderte — Mumienbeschwörung nannte sie Cornelius — verwies ganz von selbst auf das Studium der alten Meister, von denen die Venezianer des 16. Jahrhunderts dem Geschmack der Zeit am reinsten zusagten und besonders durch Makart heraufbeschworen wurden. Nach ihrem Begriff von kompositioneller Haltung, mit dem Lebensgefühl ihrer Modelle und gesättigt von ihren Farbakkorden, erwuchs in München jene hochgemute Schule, deren Haupt, auch in seiner Lebensführung den Malerfürsten von ehedem nachahmend, Franz v. Lenbach wurde. Seine fast ausschließliche Betätigung als Bildnismaler soll uns den umfassenden Begriff dieser bis etwa 1900 in München maßgebenden Schule nicht einengen. Ihr besonderer koloristischer Geschmack, ihr produktives Verhältnis zur älteren Kunst, die unverhohlene Freude am Gegenständlichen und die Tendenz, das einzelne Bild als Kunstwerk nicht zu stark zu isolieren, um es einem weiteren, dekorativeren Gedanken einzuordnen, hat sich in dem von G. Seidl und Lenbach geschaffenen Münchener Künstlerhaus sein monumentales Denkmal geschaffen und lebt noch heute in mehr oder weniger veränderter Gestalt weiter, am ausgesprochensten bei Franz v. Stuck, dem stärksten Talent, welches das altbayerische Land seit Lenbach hervorgebracht hat. Im Gegensatz zu den Impressionisten, die sich gleichzeitig in Paris durchzusetzen begannen und deren herber Leitsatz: „L'art pour l'art“ später — mit zwiespältigem Erfolg — auch für die neuere deutsche Malerei maßgebend werden sollte, steht die genießerischfrohe Gesinnung dieser rückblickenden Münchener Malerei, deren Einflute auch gegenwärtig noch so stark empfunden wird.

Das Haupt dieser wie gesagt recht eigentlich Münchener Tradition ist heute Franz v. Stuck. Er hält an dem überkommenen Begriff einer gewissen stofflichen Schönheit mit Überzeugung fest und verbrämt seine gewandte Komposition mit farbigen Harmonien, die von der wirksamen Schmuckkraft pompejanischer Wandmalereien abgeleitet, selbst in Bildnissen die gewerblich dekorierende Absicht ihrer Vorbilder nie aus dem Auge verlieren. Neben Stuck steht der wesentlich ältere Fritz August v. Kaulbach, durchdrungen von den Schönheitsidealen der Renaissance, als unmittelbarer Vertreter der Lenbach'schen Aera und jenes traditionsbewussten Lebensgefühls, in dem namentlich die höheren Gesellschaftsklassen den Begriff von menschlicher Anmut und vornehmer Haltung verbürgt sehen. Mit Kaulbach wetteifert Carl v. Marrs geschmackvolle Bildniskunst, sowie der koloristisch prunksüchtige Otto Hierl-Deronco, und neben ihnen hat sich mit seinem glänzenden Geschick im Bildnis der geistvoll karikierende Leo Samberger erfolgreich durchgesetzt, ohne durch seine impressionistische Gebärde über die Zugehörigkeit zur alten Münchener Schule hinwegzutäuschen. Auch Adolf Hengeler ist nach seiner liebenswürdigen, altmeisterlichen Ausdrucksweise dieser Gruppe zuzurechnen, ebenso wie der begabte Österreicher Rudolf Jagerspacher, wenn auch mit dem Vorbehalt, dass dieser die Elemente seiner höchst geschmackvollen Malerei vorzugsweise der neueren Kunst entnimmt. Neben dieser historischen Einfühlung der Figurenmalerei lebt auf dem Gebiet der Landschaft die Romantik aus der Jahrhundertmitte noch heute als bestimmendes Element in München fort. Einer ihrer Vertreter aus der alten Generation, der im vergangenen Jahr verstorbene Paul Weber, trat uns in der Kollektivausstellung im Glaspalast als ein gediegener Nachkomme der Barbizon-Schule entgegen, der allerdings mit zunehmendem Alter namentlich in der Farbe verflacht war. Mit Toni v. Stadler dagegen hat München im Herbst 1917 einen seiner markantesten Landschaftsmaler verloren, der ohne alle Altertümelei die hohe Überlieferung der Schleich, Lier und Spitzweg selbständig fortführte. Es ist für Stadlers produktive Gestaltungskraft bezeichnend, dass seine Kunst immer zeitgemäß gewirkt hat, obgleich sie mit einem stofflichen Interesse belastet war, das wir heute im allgemeinen abzulehnen geneigt sind. Auch die starke graphische Note gerade in seinen späteren Werken vermochte dem frischen farbigen Einsatz keinen Abbruch zu tun. In Stadler beklagt München den Verlust eines ebenso ernsten Künstlers, als hilfreichen und weitschauenden Förderers seiner gesamten künstlerischen Interessen.

Von den zahlreichen gegenwärtigen Vertretern der romantischen Landschaft, die ja gerade in München auf eine bedeutende Vergangenheit zurückblickt, sind vor allem Bernhard Buttersack und Richard Kaiser zu nennen, beide nicht ohne pathetische Steigerung des Natureindrucks. Auch die versonnenen, koloristisch zarten Schilderungen Toskanas von Benno Becker sind Ausläufer dieser vom Stoff aus gestaltenden Landschaftskunst, welcher Franz Hoch, der 1915 als Opfer des Krieges fiel, in seinen strenger komponierten Bildern wenigstens gelegentlich beitrat.

So sehr die Richtung Piloty-Lenbach für die offizielle Münchener Malerei maßgebend war, so hatte sich doch schon am Ende der sechziger Jahre ein kleiner Kreis von Künstlern zusammengefunden, der sich von der pathetischen Gebärde dieser Schule abwandte, um an bescheidenen Stoffen, rein aus dem Erlebnis des Auges, eine intensivere malerische Kultur heranzubilden. Der Gründer und Mittelpunkt dieses Kreises war Wilhelm Leibl aus Köln, der schon in seinen Münchener Lehrjahren, zwischen 1864 und 1869, lediglich durch sein Vorbild als selbständige Persönlichkeit schulbildend wirkte, und dem München jene malerische Tradition der siebziger und achtziger Jahre verdankt, auf die es gegenwärtig mit berechtigtem Stolz zurückblickt.

Für Leibl selbst fand sich freilich in München kein Platz; ja sein unerbittlicher Wirklichkeitssinn, sein stark von französischen Eindrücken gestütztes Eintreten für die Selbstherrlichkeit der Malerei — an welchem geringfügigen Gegenstand sie sich auch offenbaren mochte — stieß hier gerade bei den maßgebenden Künstlern auf harten Widerspruch. Die ihm gebührende Anerkennung musste er in Paris suchen und bei den wenigen wesensverwandten Künstlern, die sich aus den verschiedenen Gauen Deutschlands um ihn scharten. Dennoch fasste sein Wirken gerade in München tiefer als irgendwo sonst Boden dank dem besonderen Lehrtalent eines geschichtlich viel mehr als persönlich bedeutenden Künstlers: Wilhelm Diez. Die historischen Vorwürfe wollte Diez zwar noch nicht aufgeben, er stellte sie aber im Gegensatz zu Piloty, dessen Schüler er gewesen war, auf die Basis eines vornehmen Naturalismus, der eine starke tonige Bindung im Interesse der gesamten Bilderscheinung nie preisgab. Wenn dabei auch das stoffliche Interesse — meist Episoden aus dem dreißigjährigen Krieg — wenig glaubwürdig zum Ausdruck kam, so erzeugte doch das unmittelbare, durch keinerlei ältere Vorbilder gehemmte Verhältnis zur Natur, das Diez bei seinen Schülern anzubahnen verstand, eine ganz spezifische malerische Gesinnung, die allmählich auf weitere Kreise übergriff und noch heute in der Münchener Malerei fruchtbar fortwirkt.

In der Bildnismalerei hat sie Walter Thor, nicht ohne entscheidenden Einfluss des mit Leibl direkt verbundenen Wilhelm Trübner, gediegen weitergebildet, während das eigentliche Fach Leibls, das bäuerliche Genre, in Hermann Groeber einen überzeugten Vertreter gefunden hat. Groeber, der früher mehr zur aufgelösten malerischen Form des Impressionismus hinneigte, ist gerade in den letzten Jahren wieder bewusst zur älteren Münchener Tradition zurückgekehrt, aus der er mit seinem kräftigen Farbensinn und der lebensvollen Lichtbehandlung ganz persönliche Bilder abgeleitet hat. Als ein weiterer Nachkomme der Leibl-Schule ist der durch Trübner stark beeinflusste Walter Püttner anzusprechen; in der Bildform impressionistisch, beschränkt er seine malerischen Ausdrucksmittel im Gegensatz zu Groeber einzig auf ein funkelndes, reiches Gewebe zart differenzierter Tonwerte.

Zwischen den altmeisterlich-fabulierenden Idealen der Piloty-Schule und den rein malerischen Absichten des Leibl-Kreises stehen zwei Künstler, die heute mit Kaulbach und Stuck als die eigentlichen Vertreter der älteren Münchener Malergeneration anerkannt werden: Hugo v. Habermann und Albert v. Keller. Habermann kommt gerade in den idealistischen Kompositionen der letzten Jahre wieder auf seinen Ausgangspunkt, die Piloty-Schule, zurück, obgleich die Bemühungen seines Mannesalters in erster Linie auf die malerisch-tonige Form und einen breiten zeichnerischen Stil gerichtet waren; Keller dagegen hat seinem Hang zur Darstellung krankhafter seelischer Erregungen, der ihn mit Gabriel v. Max in eine Linie stellt, nie abgesagt, behält sich aber zugleich eine besondere Form des Damenbildnisses vor, das er mit vollendetem koloristischen Geschmack und in intimen Abmessungen zu einer feingezüchteten Gattung ausgebildet hat.

Wenn bei Künstlern wie Keller, Groeber, Püttner u. a. der Einschlag des Impressionismus schon deutlich spürbar wird, so wurzeln sie doch eigentlich noch durchaus in älteren Traditionen der Münchener Malerei und haben ihr Schwergewicht von diesem Nährboden nie abgerückt. Anders die eigentlichen Vertreter des Impressionismus. Es ist schon vorausgeschickt worden, dass das Eindringen dieser in Frankreich erwachsenen Kunst nach Deutschland nicht der Willkür eines einzelnen anheim gestellt war, sondern ähnlich, wenn auch viel weniger erschütternd als die Gotik, als ein Stadium der universellen Kunstgeschichte alle zivilisierten Länder ergriff. Und wie die Gotik sich allmählich in den außerfranzösischen Ländern akklimatisierte und ihre besonderen Formen hervortrieb, so auch der Impressionismus. Ohne also den ausländischen Ursprung dieser malerischen Anschauungsform aus dem Auge zu verlieren, den wir gerade jetzt nach ihrem Ableben so stark als solchen empfinden, und ohne uns für ihre Anhänger zu irgendeinem Werturteil grundsätzlich zu verpflichten, haben wir den Impressionismus als eine internationale Erscheinung anzusehen, die in Deutschland den spezifischen Anlagen des Volkes gemäß ihre besonderen Früchte zeitigte.

Nicht ohne innere Begründung sehen wir die Hegemonie des deutschen Impressionismus in Berlin erstehen, das, durch künstlerische Überlieferungen und Vorurteile weniger belastet als München, dem Fortschritt freiere Aussichten bot. Die Anziehungskraft der jungen Kunstmetropole wirkte sogar so stark, dass Max Slevogt, das stärkste Talent, welches den Impressionismus in Süddeutschland zu vertreten berufen gewesen wäre, unbedenklich München mit Berlin vertauschte. Dem besonderen Charakter der süddeutschen und speziell der Münchener Malerei entsprechend, trat der Impressionismus bei uns nie in seiner bedingungslosen, freiesten Form auf. Sein bedeutendster Anhänger in München, Fritz v. Uhde, ein geborener Sachse, hat die Landschaft, die in erster Linie das Gebiet der impressionistischen Malerei bildet, nur gelegentlich gepflegt, dafür aber seine volle Kraft der Gestaltung idealer, namentlich religiöser Stoffe gewidmet, die dem Impressionismus von Natur durchaus ferne lagen; zudem blieb seine hohe malerische Ausdrucksform in München ohne durchgreifende Nachwirkung.

Eine impressionistische Schule ins Leben zu rufen war dagegen Heinrich V. Zügel vorbehalten. Die folgerechte Methode, mit der er die Lichterscheinungen auf warme und kalte Tonkomponenten schematisch zurückführte, war recht eigentlich zur pädagogischen Übertragung auf andere geeignet, um so mehr als Zügel sich mit strenger Genügsamkeit auf die Haustiermalerei beschränkte und hierin die Konsequenz bewährte, die dem Lernenden leicht fassliche Anhaltspunkte bietet. Von ihm und Ludwig v. Herterich, der in seinen malerischen Grundlagen mit Zügel eng zusammenhängt, strahlt denn auch eine weitverzweigte Wirkung aus über die gesamte süddeutsche Malerei unserer Zeit.

In eigentümlicher Mischung mit romantischen Vorwürfen und Empfindungen bringt Fritz Baer als ältester unter den Münchener Impressionisten seine kühne Malweise zum Vortrag. Kompositorisch freier, fragmentarischer folgten Richard Pietzsch und eine Anzahl jüngerer Künstler wie Hans Heider, Lichtenberg und Kühn. Im Figürlichen hatte der im vergangenen Jahr gefallene Josef Schmid die tonige Malerei der Diez-Schule mit den Ausdrucksmitteln des Impressionismus eigentümlich verquickt, während Robert Engels als gewandter Eklektiker aus verschiedenartigen Elementen, unter denen die Erinnerung an Daumiers malerisches Pathos vorherrscht, zu einer besonderen Gestaltungsart gelangte. Als eine frische malerische Kraft mit virtuosen Fähigkeiten ist endlich in den letzten Jahren der Tiermaler Otto Dill hervorgetreten, der zwar in kleinen Kompositionen zur herkömmlichen Bildform neigt, in seinen großen Tierbildern aber die Wucht reinster Unmittelbarkeit besitzt.

Von dem Zufälligen, Unberechenbaren, das der impressionistischen Kunst sowohl im Bildausschnitt als auch im malerischen Vortrag eigentümlich ist, strebt nun die jüngste Phase der Malerei wieder zu einem nicht nur stofflich, sondern namentlich koloristisch fester gefügten Bildaufbau. Gerade in München war, dank der Tradition von Cornelius und den eklektischen Neigungen in der zweiten Jahrhunderthälfte, der Sinn für die monumentale Komposition nie ganz erloschen, und in der dekorativen Malerei müssen im wesentlichen auch noch heute für ganz Deutschland die Münchener Künstler einspringen. Hier hatte vor allem Franz von Stuck neue Ideen gebracht, auf die Julius Diez, mit einer Neigung zum Gewerblichen, in seinen phantasievollen, prächtig kolorierten Dekorationen höchst selbständig einging; auch Erscheinungen, wie Koppen, Baierl oder Baumhauer wären ohne die Anregung von Stuck nicht zu denken.

Andere Wege zur Verwirklichung großer dekorativer Gedanken suchten um die Jahrhundertwende Becker-Gundahl und namentlich die Mitglieder der „Scholle“, unter denen sich von Anfang an Fritz Erler als Führer auszeichnete. Seine eigentümliche flächenhafte Übertragung der Körper, der sich ein helles, kalkiges Kolorit mühelos anpasste, wies ihn naturgemäß auf die Ausmalung großer Wandflächen. Nach der gleichen Richtung hat in neuerer Zeit auch Hans Lesker gestrebt, der vom Krieg hingerafft wurde, ehe er zur rechten Klärung seiner Absichten gelangt war.

Alle diese Künstler schließen sich auch in dem Sinn zu einer recht eigentlich Münchener Gruppe zusammen, als ihre Bestrebungen außerhalb unserer Stadt nirgends dauernd Wurzeln zu fassen vermocht haben. Erst durch den Einfluss van Goghs und Cezannes, also abermals durch Anregungen von jenseits der westlichen Landesgrenze, wurde die Bemühung um eine monumentale und zugleich geistig verinnerlichte Malerei wieder die Sache der gesamten deutschen Kunst und zugleich mit diesem tieferen neuen Impuls schien das Bewusstsein zu erwachen, dass der stark artistische Charakter des Impressionismus das künstlerische Ausdrucksbedürfnis unserer Rasse eigentlich nie ganz befriedigt hatte. Diese neuen Ideen, die man unter dem odiosen Namen „Expressionismus“ zusammenzufassen sich gewöhnt hat, fanden denn auch eine viel breitere und selbständigere Verarbeitung als ehedem der Impressionismus, weil die stärkere Betonung eines idealen Gehaltes den natürlichen Anlagen des Deutschen reichere Anknüpfungs- und Entwicklungsmöglichkeiten bot. In der Tat besteht heute mehr als je die Aussicht, daß Deutschland seine Abhängigkeit von der französischen Malerei überwindet, die mit Ausnahme des den gegenwärtigen Bestrebungen in gewissem Sinne parallelen Nazarenertums, nun schon zweieinhalb Jahrhunderte dauert. Die Frage aber, wo innerhalb Deutschlands die neue Kunst ihren Mittelpunkt finden wird, hat sich bisher noch nicht mit jener Bestimmtheit zugunsten von Berlin entschieden, wie beim Impressionismus, ja es sprechen manche Faktoren dafür, daß München den verlorenen Vorrang wieder erlangen könnte, weil die natürliche Anlage zu bildhafter Gestaltung idealer Stoffe, die heute für die internationale Stellung der gesamten deutschen Kunst einen Vorsprung bedeutet, im Süden des Reiches von jeher am stärksten ausgeprägt war.

Bei aller Problematik der jüngsten Kunst und bei den nicht zu leugnenden Fehlgriffen ihrer Ausstellungen wird sich daher doch gerade München um die Pflege der jung aufstrebenden Keime ernstlich zu bemühen haben. Es heißt gewiss nicht aus kritikloser Begeisterung für den Fortschritt oder aus Unterschätzung des Altbewährten der neuen Kunst das Wort reden, wenn man in einer Stadt, die ohnehin ihren Vorrang in der Kunst bedroht sieht, die Notwendigkeit betont, ebenso wie auf anderen Gebieten, auch in der Kunstpolitik für die Zukunft zu bauen.

Mit einem Einschlag von zarter, gefälliger Empfindsamkeit hat Carl Schwalbach die Richtung eines streng formalen Figurenaufbaus im Rahmen des Staffeleibildes verfolgt und bis an die Grenze kubistischer Auflösung dringt Edwin Scharff in seinen traumhaft entrückten Visionen. Ihm steht der Schweizer A. H. Pellegrini mit der durchgeistigten Ausdrucksfähigkeit seiner Figuren gegenüber, deren kompositionelle Bedeutung unmittelbar an Marees anknüpft.

Suchen diese Künstler mehr im Figürlichen, Zeichnerischen die monumentale Gesetzmäßigkeit des Bildaufbaus zurückzugewinnen, die die Impressionisten verloren hatten, so stellen andere vorwiegend die Farbe in den Dienst einer bildnerischen Synthese. Bei starken Anklängen an den Impressionismus — namentlich im Bildausschnitt — hat Julius Hess eine Skala von vornehmen, vollklingenden Farbtönen aufgestellt, die der Erscheinung seiner Werke eine altmeisterliche Stetigkeit verleiht, ohne jedoch durch starre Eintönigkeit zu ermüden. Noch üppiger in den Tönen und ebenfalls nicht ohne fühlbare Verknüpfung mit der älteren Münchener Schule hat sich in den letzten Jahren der Kolorismus Julius Hüthers verheißungsvoll entwickelt. Eine ähnliche Abgeschlossenheit der farbigen Wirkung besitzt, bei sehr viel lebhafterem, wechselvollerem Temperament, Maria Caspar-Filser, die zugleich den Stoff auch geistig tiefer zu durchdringen und zu einheitlichem Ausdruck zu erheben strebt. In dieser Hinsicht geht ihr Gemahl Karl Caspar ihr voran, bei dem die Verinnerlichung der religiösen Vorwürfe in ihrer koloristischen Gestaltung den adäquaten Ausdruck sucht. Die Sonderausstellung des Künstlers, die im Oktober 1917 in der Galerie Thanhauser stattfand, zählte zu den wenigen ganz überzeugenden Eindrücken der jüngsten Kunst, die uns das Jahr schenkte. Noch weiter geht Oskar Coester in der Vergeistigung des Gegenständlichen, sei es in den klassizistisch komponierten Landschaften mit den seltsam flimmernden, blaugrünen Tönen, sei es in Bildnissen von fast krankhafter psychischer Erregung.

Wenn die nüchterne Klassifizierung künstlerischer Individuen, wie sie hier im Interesse einer leicht fasslichen Übersicht entworfen wurde, schon an sich trocken und gewaltsam ausfallen muss, so hält sie für die neuesten Erscheinungen, deren Wert und Tragweite wir noch nicht abzusehen vermögen, naturgemäß am wenigsten stich. Anderseits aber braucht man kein Reaktionär zu sein, um zu erkennen, daß der heute übliche Kult des Neuen und immer Neuesten gerade auf dem Gebiete der Kunst, wo objektiver Fortschritt, d. h. ein Weiterbauen und sich Vervollkommnen im Sinn der Wissenschaften nicht stattfindet, sich durchaus nicht immer rechtfertigt, sondern oft nur reiche Kräfte nutzlos vergeudet. Bei voller Anerkennung der Gesamtentwicklung der Malerei bis auf die extremsten Äußerungen der Modernen, oder vielmehr: überzeugt von einer gewissen psychologischen — nicht künstlerischen — immanenten Notwendigkeit auch in den Auswüchsen unserer kühnsten Sezessionisten, können wir doch dem Heute auf Kosten der Vergfangenheit in unserem Werturteil keinerlei grundsätzlichen Vorschuss gewähren. Es kann in unserer Zeit nicht dringlich genug wiederholt werden, daß im Wert einer künstlerischen Leistung nur die persönliche Gestaltungskraft des Einzelnen den Ausschlag gibt, gleichgültig, welcher Tradition oder Strömung er angehören mag. Je eingehender wir uns mit Kunst befassen, je mannigfaltigere Eindrücke wir in uns aufnehmen, umso zwingender werden wir immer wieder auf diesen einzig feststehenden Maßstab in künstlerischen Fragen zurückgewiesen. Die junge Kunst kann dabei nur gewinnen, denn gerade an einem Ort wie München, der in der vorigen Generation eine Malerschule von stärkster Einheitlichkeit erlebt hat, trägt diese strenge Einstellung des Urteils auf den persönlichen Wert des Einzelnen dazu bei, das Vergangene nicht kritiklos zu überschätzen, sondern auch hier die wenigen führenden Geister von der Menge der Mitläufer, das Kühne vom Durchschnittlichen zu unterscheiden und damit den Druck einer Tradition zu lindern, der auf den heute schaffenden Künstlern schwer lastet. Gerade hier, wo die verschiedenartigsten künstlerischen Anschauungen von z. T. starken Talenten vertreten werden, muss die Erkenntnis herrschend bleiben, daß es sich nicht um Parteinahme und Politik, sondern um die über allen Tendenzen stehende Sache, die Kunst, handelt.

R. Oldenbourg


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jahrbuch der Münchner Kunst – 1. Jahrgang
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