Kunstgewerbe

Die Vorstellung, die sich mit dem Begriff Kunstgewerbe verbindet, hat manche Wandlung durchgemacht. Lipowsky hat in seinem vor etwa hundert Jahren erschienenen Bayerischen Künstlerlexikon als Vertreter des Kunstgewerbes u.a. Uhrenmacher, Mechaniker und Degenschmiede aufgeführt. Lange Zeit wurde dann unter Kunstgewerbe alles verstanden, was, ohne Kunstwerk im eigentlichen Sinne zu sein, künstlerischen Kuriositätenwert besitzt, vornehmlich Dinge, wie sie hohe Herren in ihren Kunst- und Wunderkammern zu sammeln liebten. Niemand aber hätte vor hundert und noch vor fünfzig Jahren daran gedacht, einen zweckmäßig und materialgerecht gebauten, von gutem Verständnis für Proportionen und Ausformungen zeugenden Stuhl ohne jeglichen Zierat in die Kategorie kunstgewerblicher Leistungen zu versetzen!

Diese Umstellung des Begriffes erfolgte erst vor etwa zwei Jahrzehnten, als auf den Rausch der namentlich in München üppig ins Kraut geschossenen Neu-Renaissance, die in dem vielseitigen Lorenz Gedon ihren Vorkämpfer und in Georg Hirth ihren beredten Herold besaß, und der von König Ludwig II. heiß protegierten sogenannten französischen Königs-Stile die unvermeidliche Ernüchterung kam. Es war die Zeit des herbsten Konstruktivismus. Aus einem Extrem verfiel man ins andere. War früher die Form unter der Fülle des Beiwerks, des Ornaments und des Dekors, geradezu versunken, so blieb jetzt in strengster Selbstzucht, die häufig genug weit über das Maß des Angebrachten hinausging, alles ausgeschlossen, was nicht unbedingt zu den Konstruktionselementen eines Gegenstandes gehörte. Es entstand — man darf nicht sagen: ein neuer Stil, wohl aber — eine neue Formensprache, die sich auf das Allernotwendigste beschränkte, die Sprache des Purismus im Kunstgewerbe. Ihr eigentliches Dokument war die Ausstellung für angewandte Kunst, die 1906 in Dresden veranstaltet wurde, eine Schau und Unternehmung, deren propagandistischer und weiterwirkender Wert unvergessen bleiben muss, wenn man sich auch heute von sehr vielem dessen, was damals in die Erscheinung trat, lächelnd abwendet oder es als harmlose Kinderkrankheit mit mehr bedauernder als ernsthafter Gebärde abzutun geneigt ist.


Die Münchener Spielart des purifizierten deutschen Kunstgewerbes konnte man gelegentlich der Münchener Ausstellung für angewandte Kunst 1905 (im Studiengebäude des Neuen Nationalmuseums) kennen lernen und dabei zugleich Überblicken, welche Kräfte in München am Werke waren. Sie hatten sich in der 1903 gegründeten „Münchener Vereinigung für angewandte Kunst“, dem heutigen „Münchener Bund“, versammelt, einer Gruppe, die nicht als Konkurrenzgründung gegen den wesentlich älteren „Bayerischen Kunstgewerbeverein“, vielmehr als dessen natürliche Ergänzung und als ein gelungener Versuch, besonders die jüngeren künstlerischen Kräfte der Bewegung zu sammeln, angesehen werden muss.

Nach den Architekten und Handwerkern, die früher die Pflege dessen, was man Kunstgewerbe nennt, ganz in ihrer Hand hielten, kamen jetzt hauptsächlich die Maler in die Bewegung herein und eroberten einen Teil dieser Provinz, wie sie früher schon in die einst so streng geheiligten Bezirke der Baukunst eingebrochen waren. In München standen die früheren Maler und Graphiker Bruno Paul, Richard Riemerschmid, Friedrich Adler, Julius Diez, W. v. Debschitz, Adalbert Niemeyer, Bernhard Pankok, Ignatius Taschner, T. T. Heine, F. A. O. Krüger und Margarete v. Brauchitsch im ersten Plan, denen sich als reine Kunstgewerbler Männer wie der Goldschmied Rothmüller, der Silberschmied A. V. Mayrhofer, der Ziseleur G. Wilhelm, der Keramiker Scharvogel und der kunstgewerbliche Bildhauer Obrist gesellten.

Das Prinzip jener Ausstellung von 1905 ging dahin, Zusammenhänge zwischen Raum und Gegenstand zu bewirken, die verlorene Harmonie mobiler und immobiler Umwelt des Menschen herzustellen. Was schon unter Gedon, Gabriel Seidl und Rudolf Seitz das Spezifikum des Münchener Kunstgewerbes war, Raum-Ensembles von bezwingend malerischem Eindruck zu schaffen, das wurde auch jetzt nicht aufgegeben, wie sich deutlich ergibt aus den Worten, die dem Katalog der Ausstellung vorausgeschickt wurden: „Nicht der einzelne Gegenstand der angewandten Kunst, zu beliebigen Gruppen vereinigt, sollte fernerhin allein als Ausstellungsobjekt gezeigt werden, vielmehr kommt es darauf an, sein Verhältnis zu dem Raum, in dem er sich befindet, klarzustellen. Im Erkennen der Beziehungen zwischen Raumgröße und Lichtquelle, zwischen Raumgröße und Wanddurchbrechungen, zwischen Raum und Gegenstand liegt die große künstlerische Aufgabe der Zukunft.“

Es kann nach diesem Programm scheinen, als sei man ausschließlich ausstellungstechnische oder doch vorwiegend raumkünstlerische Probleme zu lösen willens gewesen und habe den Kultus des Einzelstückes geringer geschätzt, — und es ist wohl auch etwas an dieser Anschauung. Indessen kam bei den Wechselbeziehungen zwischen Raum und Gegenstand auf alle Fälle für letzteren dies heraus, dass er, entsprechend den architektonischen Grundsätzen der Raumgestaltung, logischer und konstruktiver geformt, als es bis dahin üblich war, in die Erscheinung trat.

Die Ausstellung „München 1908“, die in ihrem Verlauf die konstituierende Versammlung des „Deutschen Werkbundes“ brachte und durch dieses Manifest die noch unbestrittene Vormachtstellung Münchens in Fragen der angewandten Kunst bekundete, gab an positiven Ideen wenig: das über die Ausstellung von 1905 hinausgegangen wäre. Dieselben Künstler natürlich mit Hinzutritt neuer Kräfte, die sich auf das alte Programm festgelegt hatten — hielten die geistige Leitung des Unternehmens in Händen. Aber indem die gesamte Stadt wirklich herzlichen Anteil an dem Gelingen dieses Werkes der angewandten Kunst nahm und allen Bestrebungen und Veranstaltungen dieser Art durch die Erbauung der vorbildlichen Ausstellungshallen auf der Theresienhöhe fortan die Stätte und den Mittelpunkt gab, war die Bewegung um ein Beträchtliches gefördert. „Einheit der Form“ war die Parole dieser Ausstellung. Riezler erklärte das in seinen programmatischen Ausführungen folgendermaßen: „Das Wesentliche an dieser Einheit ist, dass es eine künstlerische oder, wenn man dieses Wort zu anspruchsvoll findet, eine geschmackliche Einheit ist: der heute leider als ganz natürlich hingenommene Zwiespalt zwischen dem vom Künstler bewusst gestalteten Einzelding und der großen Masse der industriellen Erzeugnisse, die entweder geschmacklich indifferent oder aber mit irgend einer geschmacklosen Schmuckform behängt zu sein pflegen, soll verschwinden, und man muss wieder sehen können, dass der künstlerische Geschmack nicht etwas zu sein braucht, was an besonders bevorzugte Einzeldinge von außen herangetragen wird, sondern dass er den Dingen als etwas ganz Selbstverständliches innewohnen kann, gleichsam ihre eigene Natur ausdrückend und so die Einheit zwischen dieser Natur und der Gesinnung des Besitzenden betonend. Was uns vor allem Not tut, das ist nicht die Möglichkeit für ein Dutzend Bevorzugte, sich mit unbeschränkten Geldmitteln das eine oder andere hervorragende Stück zu erwerben, sondern die Möglichkeit für jeden, sich mit anständigen Dingen zu umgeben. Aus dieser Gesinnung heraus muss die Ausstellung „München 1908“ verstanden werden.“

Man sieht, wie da das Schlagwort „Einheit der Form“ (wofür man dann nach den erregten Debatten der Kölner Werkbundtagung von 1914 dem Beispiel folgend, das Hermann Muthesius gab, den Begriff „Typus“ zu setzen sich gewöhnte) doch schon in einem weiteren und höheren Sinne als in dem des Akkords von Raum und Gegenstand aufgefasst wurde. Aber es war noch keine völlige Deckung und Ausrichtung von programmatischer Absicht und tatsächlicher Leistung erzielt. An den Entwurf von „Typen“, die in allem Wesentlichen Sache der Kunstindustrie sind, wollten die Künstler nicht gerne herangehen. Die Veredelung des einfachen Gebrauchsgegenstandes blieb zunächst noch eine Sache, für die sich nur ein verhältnismäßig recht kleines Grüppchen von Künstlern praktisch einsetzte: es gab da wenig Anerkennung zu holen, desto mehr Spott oder wenigstens mitleidiges Lächeln zu ernten. Das hatte z. B. Riemerschmid erfahren müssen, als er seine an sich vorbildlichen Packungen für Schnäpse schuf.

Aber auch hier war die Entwicklung nicht aufzuhalten. Den vorläufigen Abschluss der Bewegung bildete die Bayerische Gewerbeschau vom Jahre 1912. Die Männer, in deren Hände die Durchführung dieser Veranstaltung gelegt worden war, konnten sich der Einsicht nicht verschließen, dass jetzt doch wohl eine Ausstellung möglich sein müsste, die sich der kostspieligen und den Blick für die Details leicht verwirrenden Raum -Ensembles enthalten könnte und sich durchaus auf das qualitätsvolle Einzelstück einzustellen vermöchte. Die Produktion auf diesem Gebiete war allmählich gestiegen. Von den Typenmöbeln der Deutschen Werkstätten München-Hellerau erstreckte sie sich bis zu den einfachen Porzellan- und Steingutgeschirren, bis zu den billigen, aber gut geformten Aluminium-Küchengerätschaften und vorbildlichen Leinengeweben. Es hatten sich auch Künstler bereitfinden lassen, durch Beratung von Gewerbetreibenden und Industriellen und durch Mitarbeit in den Betrieben eine Gewerbeförderung zu betätigen, deren segensreiche Wirkungen nicht ausbleiben konnten. In der Weißglut einer in manchen Fällen geradezu idealen Arbeitsgemeinschaft von Künstlern und Gewerbetreibenden, von Künstlern und Industriellen entstanden Arbeiten, deren Wert und Geltung weit über die rasch verrauschten sommerlichen Ausstellungstage hinaus währten. Es war von vorneherein die Forderung gestellt, die sich seitdem dem Münchener Kunstgewerbe eingekörpert hat und zu seiner wirtschaftlichen Erstarkung wesentlich beitrug: dem Nouveaute-Schwindel, zu dem besonders die Leipziger Messe aneiferte, zu Leib zu rücken und, wie in alten Zeiten, durch die Einführung vorbildlicher, dem Geschmack wechselnder „Moden“ nicht unterworfener Muster wieder Stetigkeit in die Produktion zu bringen und eine Art Tradition zu schaffen.

Der Typen-Gegenstand, der durchaus Sache industrieller Herstellung unter Beratung oder Überwachung seitens geeigneter Künstler ist, überwog bei der Bayerischen Gewerbeschau, aber er schloss die Leistung des Handwerkers nicht aus. Dieser brachte die individuelle Arbeit, den Einzelgegenstand, wie er für Edelmetalle und für alle wertvollen Stoffe selbstverständlich ist, wenn das Material eine wirtschaftliche Verwertung erfahren soll. Bei dieser Gruppe traten allmählich wieder Schmuckformen hervor, die den Purismus, der doch nur ein Übergang hatte sein können, ablösten, wenn sie auch seine Errungenschaft, die Klarheit des Aufbaues, sich zu eigen behielten und auszuwerten wussten. Die Wechselwirkungen von industriellem Typengegenstand reiner Konstruktivität und von handwerklichem Einzelobjekt unter Hinzutritt von Schmuckformen blieben und bleiben ganz lose, und das ist recht. In diesem Falle ist eine reinliche Scheidung durchaus notwendig und nützlich, schon um bei dem Industrieartikel die Vortäuschung von Techniken auszuschließen, die nur der kostbaren Handarbeit, niemals der Maschine eigen und möglich sind. Gemeinsam darf den beiden Polen, zwischen denen es allerdings vermittelnde Bindeglieder gibt (z. B. in der Weise, dass maschinelle Dreharbeiten in Holz Handbemalung erhalten), nur ein Doppeltes sein, wenn sie vollkommen sein wollen: höchste Qualität und — in unserem Falle — der Zug des Münchnertums. Den erkenne ich in der Neigung zum Behaglichen, Farbigen, Phantastischen, in einem bewussten Anknüpfen an die Tradition älterer Stilformen, besonders an das bürgerliche Barock, das für Münchens künstlerischen Ausdruck so bezeichnend ist. Steile Stilisierungen und herbe Übersetzungen aus den Bezirken des Realen in das Abstrakte liegen dem künstlerischen Münchnertum nicht; wo sie trotzdem innerhalb der kunstgewerblichen Produktion Münchens auftreten, da stammen sie zweifellos von Persönlichkeiten oder Gruppen, die im Münchener Wesen nicht wurzeln, sie sind Fremdkörper und Kuriosa.

Wie auf dei erfreulich klaren und erfrischenden Bayern-Abteilung der Kölner Werkbund-Ausstellung des Jahres 1914 Typenstücke und weitest getriebene Individualitätsstücke trotz inneren Gegensatzes friedlich nebeneinander standen, sich ergänzten und so erst das wahre Bild des kunstgewerblichen Könnens der Stadt München gaben, wurde auch bei der Auswahl der hier reproduzierten Stücke versucht, beide Richtungen: die konstruktiv-typisierende und die dekorativindividualisierende, erscheinen zu lassen. Vertreten sind nach Tunlichkeit alle Zweige und Gebiete kunstgewerblicher Tätigkeit, denn es lässt sich nicht behaupten, dass Münchens kunstgewerbliche Bedeutung nach einer bestimmten Richtung hin gehe; es wird in München jedem kunstgewerblichen Gebiet Pflege und Interesse zugewandt. Infolgedessen ist die Auswahl auch nur ein bescheidenes Segment aus dem Ganzen des kunstgewerblichen Schaffens der Stadt in den letzten Jahren, und künftigen Publikationen wird noch viel zu tun übrig bleiben, denn die Summe der anständigen und gediegenen Arbeit, die in München geleistet wird, ist trotz mancher Hemmung, die sie durch äußere Umstände erfährt, namhaft.

Dass auch hier keine Stockung eintrete, sondern die Entwicklung fortdauernd nach oben weise, ist Sache des künstlerischen Nachwuchses und jener, denen seine Erziehung anvertraut ist. Gelegentlich der Ausstellung, die die Münchener Kunstgewerbeschule im Sommer 1918 zeigte, konnte man erkennen, dass diese Erziehung sich ihrer Aufgabe wohl bewusst ist, wenn sie auch noch nicht in allen Fällen den richtigen Weg findet, manchmal einem spielerischen Amateurtum Vorschub leistet und das Handwerkliche der kunstgewerblichen Erziehung nicht immer im Auge behält. Darauf aber kommt es an, bei dem heranwachsenden wie bei dem „fertigen“ Kunstgewerbler: dass er über das Entwerfen hinauswächst in jeden wünschbaren Zusammenhang hinein mit Material und Betrieb. Dass er wieder Handwerker werde im besten Sinne, wie der Handwerker wieder Künstler werden soll. Erst bei solch gegenseitiger Durchdringung werden die Worte angewandte Kunst und Kunsthandwerk ihre volle Bedeutung entfalten.

Georg Jacob Wolf


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jahrbuch der Münchner Kunst – 1. Jahrgang