Grafik

Grafik ist vom Entwicklungsstandpunkt aus ja nur ein Teil der zweidimensionalen Kunst, in der schon vor dem Kriege die größten Umwälzungen begannen. Es hat sich ein heißer Kampf entwickelt, so heiß und so ehrlich, wie irgend einer zuvor, der Epoche machte. Auf den verheerenden, für die Zeit so bezeichnenden, schnellschaffenden Impressionismus mit seinen verblüffenden Ausschnitten aus der Natur musste der Rückschlag kommen. Seine Reize stumpften sich ab, man sah nur mehr billige Schalheit, sehnte sich nach geistigem Inhalt und langsam bauender Gesetzmäßigkeit. Die Wellen der großen Wandlung gebaren den Spanier El Greco und den primitiven Holzschnitt wieder, diesen nicht zuletzt wegen seines wundervollen mystischen Kolorits. Es formt sich heute ein neuer Stil. — Aus diesen schweren
Kämpfen auf dem Gebiete der darstellenden Kunst profitierten die realen Künste: Architektur und Kunstgewerbe, die vor dem Krieg allein klar die deutsche Rasse von den fremden schieden, wirklich ihre alleinige Errungenschaft bildeten. — Dass der neue Stil der darstellenden Kunst sich nahezu gleichzeitig auf Europa niederließ, wie ein Riesenspinngewebe — selbst im konservativen England, im Whitechapel, machte sie 1914 Aufsehen — , das konnte stutzig machen. Man war vor dem Krieg ja mit der Erscheinung schneller, über die Rassengrenzen fegender Kunstwellen vertraut. Aber diese letzte Art der Stilwerdung bedeutete doch die Krönung der himmelstürzenden, weder Zeit noch Raum achtenden Vorkriegsentwicklung. Der Krieg hat mit furchtbar schwerer Hand das Rad zurück-
gedreht, daß wir uns nicht verlieren sollten in der Leere des Internationalismus.

Tatsache ist, daß die neue Kunst marschiert und daß sie ihre nicht zu unterschätzenden Erfolge nicht zuletzt ihrer in breiten Maßen vorgehenden Graphik verdankt. Es ist an sich wohl reizvoll, in solchen Gärungszeiten einen Überblick zu versuchen.


Auch in München scheiden sich die Gruppen klar voneinander. 1917 stellten ja die alte Künstlergenossenschaft und die alte Sezession gemeinsam im Glaspalast aus, gegen den gemeinsamen Feind, die neue Sezession, die außerhalb tagte. Ein paar, unter unsäglichem Wust verlorene wirkliche Größen bei der Künstlergenossenschaft, aber bezeichnenderweise bei weitem die höchsten Verkaufsziffern, bei der alten Sezession viel werbendes Lächeln, so dünkt es heute, aus der Erkenntnis verlorenen Spiels. Bei den Alten Sieger vielleicht ein Rückschauender, Stahl, bei der alten Sezession alles überragend ein Graphiker mit glänzenden Bildnissen: Olaf Gulbransson. Er schlägt außerordentlich geistvoll die heutige Gesellschaft mit Peitschenhieben. Bei der neuen Sezession immer noch das gleiche Bild: Kampf. Vom großen Standpunkt der Kunstgeschichte aus in jedem Querschnitt ziemliche Mittelmäßigkeit. Was aber in den Gemäldeausstellungen der letzten Jahre sämtlich besonders unangenehm auffiel, das waren die Überläufer, aus der Bahn geworfen von den Neuesten. Impressionisten von wirklichem Rang haben mit ihnen die Paletten getauscht, haben ihre eigenen Figuren mit geisterhaften „Augenrändern“ umzogen, als ob es nur gälte, eine neue Mode mitzumachen.

Davon hat sich Grafik freigehalten. Graphik ist stiller und charaktervoller. Man denke nur an den Zwiespalt von Grafik und Malerei schon bei Dürer! Es sind überhaupt Anzeichen vorhanden, die auf eine neue Siegeslaufbahn der Grafik deuten. Es weitet sich der Kreis der absoluten Grafiker, wie der Künstler, die zeitweise wegstreben von der Malerei und ihrer verwirrenden und so leicht verbilligenden Sprache und sich danach sehnen, in aller Stille auf kleinster Platte oder kleinstem Stein ihre Gesichte von der Seele schreiben zu dürfen. Daneben laufen viele äußere Gründe. Der im modernen Kunstgewerbe so starke Ruf nach Handarbeit ruft die Graphik auf den Plan, wo die Technik allwöchentlich ein neues, wenn auch noch so glänzendes, letzten Endes aber eben doch mechanisches Reproduktionsverfahren erfindet. Aus ihm geht natürlich auch das verstärkte Verlangen des kunstgewerblich völlig auf der Höhe stehenden Buches nach guten Illustrationen hervor. Die Graphikauktionen sind in die Reihe der großen Kunstmarktereignisse eingetreten. —

Zu der an sich schon erschwerenden Tatsache, daß die gesamte darstellende Kunst in einem schweren Gärungsprozess sich befindet, kommt also noch ein weiteres lähmendes Moment: Viele im Feld, irritiert alle, die draußen und die daheim. Es hat sich klar erwiesen, daß die gesamte, bildende Kunst auf diesen Krieg, von ein paar Zufallstreffern abgesehen, keine einzige, wirklich große Antwort zu geben wusste. Und deshalb ist auch, was viele bei der zeitlichen Festlegung erwarten möchten, Kriegsgraphik möglichst vermieden. Auch alle Münchener Ausstellungen der letzten Jahre waren voll davon. Es erschienen auch hier Kriegsbilderbogen. Aber das waren alles nur schwere Sünden, die auf diesem Gebiete begangen wurden. Die Militärverwaltung ließ auch Münchener Kriegsmaler und Zeichner zu. Manch guter Graphiker, auch Münchens, hat sich damit sein künstlerisches Grab geschaufelt. Sie brachten „Fotografien“ von Todesszenen mit, farbige Impressionen von den Schlachtfeldern und Militärbildnisse, die einen so niedrig wie die anderen. Und die Modernsten brachten aus ihren extremsten Reihen Schwingungen von Drähten im luftleeren Raum, die die Erschütterung des unten auf der Erde tobenden furchtbarsten aller Kriege hervorbringt. Nirgends steht die Kraft, die solchem Ereignis gewachsen wäre.

Auch der Simplizissimus, das künstlerisch weitaus hochstehendste illustrierte Blatt Deutschlands, hat durch den Krieg- eingebüßt. Es gehört viel guter Wille dazu, diesem radikalsten Blatt des Friedens seine heutige Nationalität zu glauben. Und unter dieser Umstellung litt auch das künstlerische Gesamtniveau des Blattes merklich.

Es wurde versucht, die paar gegenwärtig in München aus dem Getriebe ragenden Erscheinungen in typischen Beispielen festzuhalten:

Von den Alten:

Olaf Gulbransson mit einem herrlichen Bildnis des Münchener Hofschauspielers Dreher. Es wurde absichtlich von seinen Illustrationen zum Simplizissimus hier abgesehen, wie das gleiche Prinzip auch bei den Fliegenden angewandt wurde.*) Langes illustrieren ermüdet. Deshalb wurde bei diesen Künstlern aus dem Atelier herausgegriffen. Rolf von Hörschelmann, der liebenswürdige Lyriker mit seinem mächtig gewachsenen, struppigen Selbstbildnis. Kirchner mit einer seiner feinen, kleinen Landschaften. Toni v. Stadler, dessen Tod einen wirklich schweren Verlust für die Münchener Kunst bedeutet, mit einer seiner letzten, seltenen Lithographien. Ferdinand Stäger, der hier süß schmachtend die Wiener Note vertritt, mit einem Bild aus seinem Zyklus in der Leisching-Ausgabe. Stockmann mit einer seiner empfindungsvollen, eben im Krieg erst angewandten, feinen Federzeichnungen.

Von den Neuen:

Dora Brandenburg-Polster, die einzige Frau dieser Übersicht, die schon mit ihrer Ausstellung bei Schmidt-Bertsch in diesem Frühjahr viel versprach und sich in dem größten graphischen Ereignis Münchens in diesem Krieg, der heurigen Frühjahrsausstellung der neuen Sezession bei Caspari, hielt. Es ist eines ihrer letzten Werke gewählt, wo sie versucht, ihre ausgezeichneten früheren sonnengetränkten Impressionen in Energie umzusetzen. In dieser Ausstellung bei Caspari ragt ein Künstler besonders hervor, Caspar, und der bayerische Staat ist zur Erwerbung des dort ebenfalls ausgestellten und hier abgebildeten Werkes „Begegnung“ zu beglückwünschen. Der Ausdruck solcher Innigkeit war einem die letzten Jahre entfallen gewesen. Von Engert, dem unermüdlich geistvollen Silhouettenschneider ist eine Bildnisradierung von ausgezeichneter Charakteristik gezeigt. Bruno Goldschmidt mit seinen schwer akzentuierten Rhythmen ist mit letzten Holzschnitten vertreten. Klee's Beziehungen zweier Pendel sind das Extremste der ganzen Schau, ein vor allem graphologisch bemerkenswertes Hinschreiben von Gebilden aus luftleerem Raum. Die Konsequenz verbietet ein Zurückgehen bei diesem Künstler auf frühere Jahre, das ihm sicher manchen Freund gewinnen würde. Klee zeigt in seinen Radierungen vor 10 und 15 Jahren ein großes Können. Die psychologische Rechtfertigung solcher Abstrakte wie die Beziehungen zweier Pendel mag eine spätere Zeit erbringen. München ist im großen ganzen von solchen Erscheinungen weniger überschwemmt als der Norden. Kubin ist eine zweifellos starke künstlerische Persönlichkeit. Seine „Blätter mit dem Tod“, in der Reihe sich allerdings abschwächend, gehören zum besten der heutigen deutschen Graphik. Schinnerer ist mit Kriegsgraphik vertreten. Er ist einer der wenigen, bei denen die künstlerische Qualität über dem Gegenstand nicht leidet. Das gleiche gilt von dem ganz jungen Joseph Weiß, bei dem nicht zuletzt auch die außerordentliche technische Reinheit überrascht.

*) Aus diesem Grunde wurde auch auf die Vertretung Th. Th. Heines verzichtet, von dem andre als Simplizissimuszeichnungen nicht zu erhalten waren.

Dr. K. Weinmayer


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jahrbuch der Münchner Kunst – 1. Jahrgang
R. von Hörschelmann – Selbstbildnis - Steinzeichnung

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