Architektur

Die neuere Baugeschichte Münchens setzt mit der Regierungsperiode Ludwig des Ersten (1825 — 1848) ein; mit ihr sind für immer die beiden Namen Leo von Klenze und Friedrich Gärtner verbunden. Ludwig der Erste fand eine barocke Stadt sehr provinzialen Charakters vor. Einige wenige Baudenkmale der Spätgotik und der Renaissance waren in diesem gemütlich-behaglichen, städtebaulichen Gebilde stehen geblieben, ohne dass sie im Gesamtbild bestimmende Geltung gehabt hätten, abgesehen vom Dom zu U. L. Frau, über dessen „stiefelzieherliche Gestalt“ sich Heinrich Heine, der kurz nach des Königs Regierungsantritt nach München übergesiedelt war, mehr geistreich als kunstkennerisch mokierte. Die schlichte Residenz, an der Nordostgrenze des damaligen Burgfriedens gelegen, sprach im Stadtbild keineswegs entscheidend mit, wie denn überhaupt der kurfürstliche Hof, auch nachdem er unter Max dem Ersten die Hofhaltung eines Königs geworden war, auf die städtebauliche und architektonische Entwicklung Münchens keinen nachhaltigen Einfluss nahm. Das München des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts trug vielmehr alle Merkmale und Züge des Hauptplatzes eines bescheidenen Bauernlandes; wichtigste Straßenzüge, wie das Tal und die Sendlingergasse, glichen Dorfstraßen, und den Mittelpunkt der Stadt bildete der Platz der Schranne, des Getreidemarktes, auf den die architektonische Umgebung abgestimmt war. Einige schöne Bauten des heute fast vergessenen Karl v. Fischer und des aus kurmainzischen Diensten über die Fürstprimas-Stadt Regensburg nach München vorgedrungenen Portugiesen d'Herigoyen, dem die bayerische Hauptstadt den für damalige Zeit bedeutenden, heute noch in seinen Massen und in seinen Proportionen angenehmen Bau des Theaters vor dem Isartor (als Bühne längst eingegangen) verdankt, waren das Erbe, das Ludwig aus jüngerer Vergangenheit antraf, als er das Ruder in die Hand bekam.

Den jungen Hofarchitekten des unternehmungslustigen und baufreudigen Königs Jerome von Westfalen, Leo von Klenze, hatte Ludwig schon gelegentlich des Wiener Kongresses kennen gelernt; seine Berufung nach München war beschlossene Sache, lang bevor Ludwig die Regierung antrat. Noch während Ludwigs Kronprinzenzeit hatte Klenze den Auftrag erhalten, für die antiken Kunstsammlungen, die Ludwig durch seinen Vertrauten, den Bildhauer Wagner, hatte zusammenbringen lassen, ein Gebäude, die Glyptothek, nahe der damaligen Neuhauser Gemeindeflur zu errichten. Im Jahre 1816 wurde mit dem Bau dieses jonischen Tempels begonnen. Ein Stück Griechenland stieg zwischen Vorstadtgärten und Neuhausener Kartoffeläckern empor. Die Münchener konnten sich nicht genug tun, auf das Bauwerk zu schimpfen; indessen von diesem Bau datiert die neue Architekturperiode Münchens.


Um Klenze, das Genie, und Gärtner, das Talent, um den Wiedererwecker hellenischer Stilklarheit, die er in zeitgemäße Zweckformen umzugießen verstand, und den Romantiker, der dem mittelalterlichen Bauausdruck wieder die Ehre gab, scharten sich die „dii minorum gentium“, alle reich beschäftigt, den Bauaufträgen des Königs, dessen Baugesinnung auch den Staat, den Hof, die Stadt und die Bürgerschaft zu erhöhten Leistungen aufstachelte, zu genügen. Ohlmüller, Ziebland, Pertsch, Voit waren die Helfer bei dem Werke, ein neues München, ein München des ludovicianischen Mäzenats, erstehen zu lassen. Es ist festgestellt worden, dass König Ludwig aus seiner Privatschatulle nicht weniger als 18 Millionen Mark (genau 10.643.597 fl.) für insgesamt fünfundzwanzig monumentale Kunstschöpfungen aufwandte, von denen nicht weniger als zwanzig seiner Residenzstadt zugute kamen. Die meisten waren für die Aufnahme der erst durch ihn zu ihrer heutigen Bedeutung erhobenen Kunstsammlungen des Staates und des Hofes bestimmt, durch andere ehrte er das Andenken der Befreiungskämpfe, oder er erstellte sie dem Ehrenpreis hervorragender Bayern.

Die gründlich veränderte bauliche Physiognomie der Stadt, der König Ludwig auch nach seiner Thronentsagung bis in die sechziger Jahre hinein sein Interesse durch rege Bautätigkeit bewies, ist bis zu dem Zeitpunkt entscheidend geblieben, da ruckhaft, fast springend, der Aufstieg Münchens zur Großstadt erfolgte. Die kurze Bauperiode mit der Vorherrschaft Bürkleins und Riedels, der Architekten des Königs Maximilian des Zweiten, der einmal — mitten unter seinen literarischen und wissenschaftlichen Neigungen — den Drang in sich fühlte, es an Baugesinnung dem Vater gleich zu tun, war in architektonischer Hinsicht weder ergiebig, noch glücklich. Die „organische Bauweise“, der König Max in seiner pedantischen Systemfreudigkeit das Wort sprach, zeitigte die uniforme, rein auf Fassadenwirkung gestellte, theatralisch prunkvolle, aber an innerer Noblesse arme Maximilianstraße, von der Jacob Burckhardt an seinen Freund Max Alioth schrieb, man müsse froh sein, wenn man aus ihr ohne Schlagfluss wegkomme, und man könne sogar noch dem kümmerlichen Kartonmachwerk des Maximilianeums dankbar sein, weil es wenigstens äußerlich in die Formen der Renaissance hinüberleite und den Geist von dem jämmerlichen Gotisch der Maximilianstraße befreie. Trotzdem bleibt die Erschließung des Ostens durch die Maximilianstraße, die durch sie bedingte Heranrückung des besten Stadtviertels an die Isar, die dadurch erst dem Stadtbild ganz einverleibt wurde, und die organische Verbindung der Altstadt mit den nordöstlichen Vorstädten, die jenseits des Flusses liegen, in städtebaulicher Hinsicht eine Tat.

Das Zeitalter Ludwigs des Zweiten bezeichnet die schlimmste Periode in Münchens baulicher Entwicklung. Die Renaissance-Herrlichkeit der offiziellen Bauten eines Neureuther endete knapp hinter der Fassade, aber ebensowenig wie die staatlichen Gebäude, die damals entstanden, genügten unter der laxen Ägide der Bauordnung von 1863 die Privatbauten weder in ästhetischer noch in hygienischer Hinsicht. Als mit dem Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens nach dem Kriege 1870/71 ein außerordentliches Wachstum der Bevölkerung, meist durch Zuzug vom Lande, eintrat, hob sich auch die Bautätigkeit, aber diese Hebung war eine rein quantitative; künstlerisch bedeuten die Bauten der siebziger und der größte Teil der Bauten der achtziger Jahre den abgründigsten Tiefstand des Bauwesens. Nicht nur in geschmacklicher Hinsicht stand es um das Bauen in München ganz verzweifelt, sondern auch in Hinblick auf die Bautechnik: Häusereinstürze standen auf der Tagesordnung. Das Bauschwindlertum und die Unehrlichkeit im Immobilienwesen regten niemanden mehr auf, so sehr war man daran gewohnt.

Da brachte die straffere Bauordnung von 1879, die endlich so etwas wie eine Baupolizei in technischer und hygienischer Hinsicht einführte und noch mehr das Auftreten einiger starker künstlerischer Persönlichkeiten, die sich für solide, bodenständige Bauweise, vorerst allerdings mit starker Anlehnung an Vorbilder der Tradition, besonders der Spätrenaissance und des Barocks, einsetzten, einen neuen Geist in das Münchener Bauwesen. Der sich mannigfaltig auswirkende Lorenz Gedon trat hier zunächst hervor. Obwohl Bildhauer und Kunstgewerbler und nur im Nebenamt Architekt, gab er doch mit Bauschöpfungen, wie dem Schack-Palais an der Briennerstraße und dem Eymannsberger-Haus am Rindermarkt Anregungen, die besonders jenen Baukünstler zu hohen Leistungen anspornten, der als der Wiederbegründer künstlerischen Bauens in München zu gelten hat: Gabriel Seidl.

Aus altbayerischem Stamme gewachsen, in Lebenshaltung und Brauch, in Stimmungen und Anschauungen ganz im Münchnertum verankert, mit seinen Mitbürgern eins in heißer Heimatliebe und zu jeder Stunde bereit, sein Bestes für die Verschönerung seiner Vaterstadt einzusetzen, war Gabriel Seidl der rechte Mann zur rechten Stunde. Er wies den Geist der schoflen Vernüchterung aus, der z. B. die in den siebziger Jahren entstandenen Bauquartiere im Norden Münchens, dann um den Gärtnerplatz und am Ostbahnhof erfüllte und heute noch zu den unerträglichsten Vierteln macht, und weckte wieder die Lust an heimischer Bauart. Einer seiner ersten Bauten entstand am Karlsplatz: die Gaststätte zum Deutschen Haus, die wirklich ein deutsches Haus voll Stimmung und Traulichkeit wurde. Bald gesellten sich ihr in dem malerisch hingelagerten Bau des Arzbergerkellers an der Nymphenburgerstraße und anderwärts würdige Nachfolgerinnen, die nicht nur den Ruf Seidls in München und außerhalb seiner Vaterstadt begründeten, sondern auch hier wie dort der Münchener Baukunst Freunde und Anhänger warben. Das hatte eine doppelte Auswirkung: Gabriel Seidl wurde vielfach zum Entwurf und Bau auswärtiger Gebäulichkeiten aufgefordert und herangezogen, so dass von seinem architektonischen Wesen mindestens ebenso viele Zeugen außerhalb seiner Vaterstadt anzutreffen sind, wie in ihr und er solchermaßen für Münchener Baukunst (als „Marke“) mit seinen Arbeiten beste Propaganda tat. Sodann aber wurde Seidls Vorbild für die jüngere Münchener Architektenschaft bestimmend. Obwohl er nie Lehrer an der Bauabteilung der Münchener Technischen Hochschule war, hat er mit seinen Schöpfungen doch weit mehr Schule gemacht als alle, die seinerzeit zum Unterricht und zur Erziehung der architektonischen Jugend von Amtswegen bestellt waren. Wenn man heute von einer Münchener Architektenschule als einem Begriff spricht, so denkt man nicht an die Vorkämpfer der Reißbrettarchitekturen, mit denen in den siebziger und achtziger Jahren die jungen Leute am Polytechnikum gequält wurden, sondern man hat sogleich die Vorstellung von malerischem Bauen, wie es durch Seidls Vorbild — namentlich nach der Vollendung seiner St. Annakirche am Lehel und des Nationalmuseums an der Prinzregentenstraße — für die jüngere Münchener Architektenschaft charakteristisch wurde: Auflösung der Massen, Sinn für Proportionen, Blickeinstellung auf die malerische Perspektive, Behagen, Aufnahme der Tradition, Einbeziehung vorsichtig verteilten, dekorativen Beiwerks, vor allem aber sinngemäße Einordnung des Einzelwerkes in das Stadtbild und Aufnahme der Stimmung, die über München dank seiner atmosphärischen und stämmischen Eigenart ausgebreitet ist, kennzeichnet diese geistig-ideelle Gabriel Seidl-Schule, aus der sich als erste selbständige Baukünstler von starker Geltung Emanuel Seidl und Hans Grässel mit Bauten von spezifisch süddeutscher Art heraushoben.

Man darf indessen nicht glauben, durch das Auftreten und die schulbildende Kraft eines einzigen oder einiger weniger sei das Bauen in München mit einem Schlag auf eine Höhe gehoben worden, die allseitig sichtbar geworden wäre. Es waren nur Spitzen, die sich hoben; das Niveau des Münchener Bauwesens blieb ein mittelmäßiges und ist es geblieben bis heute. Das wilde Bauen rief auch noch in der zweiten Hälfte der achtziger und in den neunziger Jahren Architekten auf den Plan, deren Leistungen selbst nicht den bescheidensten Anforderungen des Geschmacks entsprachen. Missverstandenes, Unverdautes, Abgeschautes — ach, es gibt dessen so viel an den neueren Bauten Münchens! Vollends ein unglücklicher Dekorationsstil, der ausgesprochen kunstgewerblichen Flächenschmuck in die Architektur hereinzog, verwirrte die kleinen Geister und zeitigte Dinge, die mit ihren aufgeblasenen Ansprüchen noch unerträglicher sind als das hilflose Gestammel Unfähiger, die sich wenigstens zu bescheiden wussten. Ein Spaziergang durch die Straßen der vornehmen Bauquartiere im Osten und Westen der Leopoldstraße enthüllt Scheußlichkeiten, die dem Münchener Bauwesen keine Ehre machen. Aber auch an offiziellen Bauten entstand viel Unannehmbares, nicht zuletzt, weil hier Architekten zu Worte kamen, die noch vollkommen in der historischen Schule der Stilkopisten verankert sind. Hauberrissers unruhiges, gotisches Rathaus mag zweifellos sehr gelehrte Einzelheiten aufweisen, aber als Ganzes ist es eine Unmöglichkeit. Die in den Fassaden und Höfen vorgetäuschte und leider auch in die Innenräume getragene Gotik ist für das moderne Verwaltungshaus einer Stadt, in der die Gotik niemals entscheidend sprach, ganz unangebracht; es ist einer der schlimmsten Fehler, die im Münchener Bauwesen der letzten Jahrzehnte gemacht wurden. So auch der Justizpalast, das Armeemuseum, eine Reihe von Verwaltungsgebäuden des Staates und der Stadt — in ihrem unerfreulichen architektonischen Historizismus sind sie unerträglich und wären es noch in viel höherem Maße, wenn sie nicht wenigstens dank der guten natürlichen Baulinienführung der inneren Stadt und der dadurch bewirkten glücklichen Massengruppierungen, in städtebaulicher Hinsicht zu relativer Unschädlichkeit für das Gesamtbild der Stadt bestimmt wären. Aber der Stachel bleibt zurück: tüchtige jüngere Baukünstler müssen sich mit kleinen Bauprojekten und mit aussichtslosen Konkurrenzen herumschlagen oder sich außerhalb Münchens Arbeit suchen, während die entscheidenden Bauaufgaben, die zugleich die fetten Aufträge sind, an überaltete Leute vergeben werden, nur weil sie Amt und Würden aufweisen können. In dieser Hinsicht freut man sich der Initiative des Münchener Künstlerrats, der diesen unhaltbaren Zuständen zu Leibe rückt und endlich auch dem System des Baubeamtentums, dem man so unerfreuliche architektonische Erscheinungen im Stadtbild verdankt, ein Ende zu setzen gesonnen ist.

Im Großen und Ganzen war die private Bautätigkeit Münchens innerhalb des letzten Jahrzehnts glücklicher und besser beraten als die öffentliche. Das hängt zum Teil mit dem guten Stadterweiterungsplan und der Staffelbauordnung von 1904 zusammen, zum Teil aber auch mit der Baugesinnung der Bürger und mit dem Heranziehen frischer, originaler Kräfte der Architektenschaft. Neben den in München wie allerwärts bei dem Erhaschen der Bauaufträge an der Spitze stehenden Baufirmen, die alles fix und fertig liefern, sozusagen die Warenhäuser des Bauwesens sind und, trotz der Solidität der Leistung, doch unpersönlich arbeiten und auf die Individualität des Baues und des Bauherrn nicht eingehen, kamen doch, sei es auf dem Wege des Wettbewerbes, sei es durch freihändige Vergebung, einige tüchtige Baukünstler zum Zuge. So entstanden, um nur einiges herauszugreifen, die sympathischen Geschäftshausbauten von Eugen Honig und Karl Söldner, die den Anforderungen, die der Geschäftsbetrieb einer Großstadtfirma stellt, technisch durchaus entsprechen, dabei auch in ihrem Äußeren die „Münchener Bautradition der besten Zeit anklingen lassen, ohne ins Vorgetäuschte, ins Altertümlich-Sentimentale zu verfallen. So entstand Bieber und Hollwecks großzügiger, durch und durch eigenartiger Bau der Rückversicherungsgesellschaft und entstanden Villen und Stadthäuser von E. v. Seidl, Troost, Veil, Jäger, Sattler, Haiger, die meist auch im Hinblick auf die Innenarchitektur, auf Raumkunst und Möbelkonstruktion Bedeutendes brachten.

Theodor Fischer, der seit einer Reihe von Jahren wieder für München gewonnen ist und als Lehrer eine ausgebreitete und erfolgreiche Tätigkeit übt, wurde als schöpferischer Baukünstler gerade von München noch nicht genügend beschäftigt; auch er hat mehr außerhalb seiner Wirkungsstätte gebaut als in München selbst. Trotzdem: was er und andere ferne der Stadt ihrer künstlerischen Entwicklung und ihres Schaffens, ferne dem Nährboden ihres künstlerischen Wesens und Wirkens, erstehen lassen, darf doch als Münchener Baukunst angesprochen werden und fand aus dieser Erwägung Aufnahme in die Reihe der im folgenden reproduzierten Werke der Münchener Baukunst.

Georg Jacob Wolf


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jahrbuch der Münchner Kunst – 1. Jahrgang