Universitätsjahre in Halle, Rostock und Berlin

Im Frühjahr 1824 bezog Francke zunächst die Universität Halle. Schon nach Verlauf eines Semesters vertauschte er diesen Aufenthalt mit Jena. Hier blieb er bis zu Ostern 1826, wo er nach Rostock ging; aber schon im Herbst desselben Jahres begab er sich nach Berlin. Zwischendurch trieb er sich noch auf vielen andern Universitäten umher. Unter diesen Umständen waren, abgesehen davon, dass er gleich in den ersten Wochen mit der Theologie gänzlich gebrochen hatte, zusammenhängende Studien undenkbar. Er verlor sich vielmehr in der ganzen wüsten Romantik des damaligen Studentenlebens, in welcher das Individuum sich seines eigenen Mittelalters zu entledigen pflegt. Diese Sitten- und zügellose Gemütswirtschaft mit ihren Kneipereien und Trinkgelagen, mit ihrer Hunde- und Pferdeliebhaberei, mit ihrer Sucht nach Spiel und sinnlicher Liebe, mit ihrer Lust an Duell und Schlägerei hielt ihn mit ihrer ganzen Gewalt umstrickt.

Es hat von jeher für die Jugend ein eigentümlicher Reiz im Genuss berauschender Getränke gelegen. Vor andern haben sich die Deutschen von ältester Zeit her als mannhafte Trinker hervorgetan. Diese Trinklust findet ihre Erklärung zumeist wohl darin, dass eben in der berauschenden Kraft der Getränke eine Art Aufforderung für den Starken liegt, sich gleichsam mit ihr als einer feindlichen Macht zu messen und den Sieg über sie zu gewinnen. C. Rosenkranz äußert sich über diesen Gegenstand im zweiten Bande seiner Königsberger Skizzen treffend also: „Beim Germanen ist die Trunksucht der Übermut des Selbstgefühls, der sich mit dem Trünke gleichsam als mit einem Feinde einlässt, der ihm nichts soll anhaben können. Es liegt eine Verachtung der Natur als Kraft in seinem maßlosen Trinken. Ohne diese dämonische Tiefe der Versuchung würde es kaum zu erklären sein, mit welcher Lust der Germane trinkt. Das viel Trinkenkönnen ist bei ihm zur Ehrensache geworden.“ Je mehr Einer „vertragen“ kann, für einen desto größeren Helden pflegt er unter seinen Kommilitonen zu gelten. In gleicher Weise verhält es sich mit andern sinnlichen Genüssen. Im falschen Ehrgefühl überbietet sehr häufig der Genuss selbst die Fähigkeit zu genießen und wird zur Ausschweifung. Wer mit der Virtuosität in solchen Dingen große physische Kraft und Gewandtheit verbindet, macht sich so unter seines Gleichen angesehen und gefürchtet. Daher die gewöhnliche Erscheinung, dass mancher Musensohn*) bei allen Verirrungen, welche die Natur schwächen, andererseits sehr darauf bedacht ist, durch gymnastische Übungen sich im Besitz seiner Körperkräfte zu erhalten. Ähnlich Francke. Er blieb keiner jener neun Musen der damaligen Corpsburschenwelt ein Opfer schuldig, versäumte aber auch nicht, manche vergeudete Kraft durch eifrige Gymnastik zu ersetzen. Auf diese Weise spielte er überall, wo er auftrat, eine Hauptrolle, weil er nicht minder mit dem vollen Krug, wie mit der scharfen Klinge seinen Mann stand wie Wenige.


*) Die neun Musen: Trinken, Spielen, Tanzen, Fechten, Holzen, Lieben, Jagen, Reiten, Rauchen.

Indessen ging er bei solchen Gelegenheiten nicht ganz leer aus. So erhielt er in Berlin in einem Duell auf krumme Säbel einen gewaltigen Hieb über die Stirne und das linke Auge, welcher beide Augenlieder durchschnitt, und eine starke Narbe zurückließ, die den ohnehin martialischen Ausdruck seines Gesichts noch erhöhte.

Seine Brod-Collegia besuchte er bloß von Zeit zu Zeit, um sich immer aufs neue zu überzeugen, dass eine vom Leben abgelöste Wissenschaft tot und nicht wert sei, dass man sich ernstlich mit ihr befasse. Inzwischen war er bei alledem für jede wahrhaft geistige Anregung nicht bloß zugänglich, sondern in seltenem Grade empfänglich. Er hörte zu Zeiten medizinische, historische und philosophische Vorlesungen und verarbeitete das Gehörte in den lebhaft von ihm angeregten Disputationen bei Wein und Bier. Solche Unterhaltungen verstand er mit geistreichen Einfällen und beißender Satire zu würzen, so dass er unter seinen Bekannten, die nicht begriffen, woher er solche Weisheit nehme, auch für einen scharfen Denker galt.

Jeder, dessen Studienzeit in jene Jahre fallen, wird sich wohl entsinnen, wie wenig im ganzen die deutsche Jugend wusste, zu welchem Zwecke sie die Universitäten besuchte, wie unverhältnismäßig und gering die Zahl der unverdorbenen Jünglinge war, welche dem wüsten Treiben der Corpsburschen fremd blieben und der Wissenschaft lebten, mochte nun ein wirklich fester sittlicher Wille jeder Lockung Trotz bieten, oder mochte derselbe gar nicht auf die Probe gestellt worden sein. Welche rühmliche Ausnahme die Burschenschaften machten, ist bekannt.

Dass die akademische Jugend zum großen Teil entweder mit dem augenscheinlichen Verlust ihrer mitgebrachten Frische und Kraft, oder mit dem Keim zu langwierigem Siechtum heimkehrte, war es ihre Schuld? Warum kurz nach den Freiheitskriegen ein so viel edleres, der Jünger der Wissenschaft würdigeres Leben und Treiben? Weil wer eine schöne und große Zeit durchlebt hat, nie gemein und klein denken kann. Damals war es die große Idee der Befreiung des Vaterlandes von äußerer Gewaltherrschaft; möchte jetzt die Idee der Befreiung von innerem Despotismus ein Gleiches wirken! Der Jugend, soll sie vor Ab- und Irrwegen, vor Auswüchsen ihrer Kraftäußerungen behütet werden, darf man die Begeisterung für eine große Idee nicht verkümmern. Aber keine Idee entzündet und veredelt ihre Herzen mehr als die Idee der Freiheit, der Freiheit, welche ihr mit der Unabhängigkeit von Tyrannei und Willkür zugleich die Herrschaft über sich selbst verleiht. Sie allein macht den, welcher mit seinem ganzen Sinn in Kampf und Arbeit für sie einsteht, erst wahrhaft zum Menschen! Die Sklavenseele kehrt ihr den Rücken und verliert sich an der Gemeinheit des Lebens. Einzelne wie ganze Völker erstarben an dem Bewusstsein, dass sie für große Zwecke der Menschheit tätig sind, das Feuer einer für diese Zwecke entflammten Seele ruft auch die physischen Kräfte zu erhöhter Anstrengung und Gesundheit wach und stählt sie zu immer fruchtbarerer Wirksamkeit. Aber die arme unglückliche Jugend jener Zeiten! Sie hatte mit gelitten und mit gekämpft für die Freiheit, doch als sie auch mit leben wollte in der Freiheit, da erfanden die Minister die demagogischen Umtriebe und öffneten Kerker. Die Erziehung ging in den Schulen unter der Heuchelei des Fortschritts ihren jesuitisch verdeckten Rückschritt, unter Latein und wieder Latein, unter Beten und Singen wurde der Geist und jeder Versuch freien Denkens niedergehalten. Die meist in ihrer Lebensblüte geknickten Jünglinge hasteten zu den Universitäten, wo dann trotz aller warnenden Stimmen, nach Verlauf weniger Jahre der geistige Scheintod neben physischem Elend vollendet wurde. Junge talentvolle Fürsten, welche Anlage zu kräftiger Selbstregierung verrieten, pflegten ehedem von herrschsüchtigen Ministern und Weibern durch schlau gebotene Lüste zu Automaten entnervt zu werden. Der christlich-germanische Staat brauchte auch solche Charaktere und willenlose Kreaturen für seine Büreaukratie! Verachtete und machte er darum die Männer unschädlich, welche für eine Reform des gesammten Schulwesens ihre Stimme erheben? Ließ er deshalb die Volksschule vom Pietismus knechten und die höheren Lehranstalten von jesuitischer Inquisition infizieren? Machte man deshalb altpreußische Korporale zu Schulräten und zu Bütteln der Philosophie und jedes freien Gedankens? Drückte man deshalb in Lug und Trug die „renitenten“ Bildner der Jugend, damit es ihnen ja nicht zu wohl werden möge, auf dass sie nicht etwa die eigene freie edle schwunghafte Stimmung des Geistes in der geistigen Mitteilung des Unterrichts der Jugend mitteilten? Wollte man deshalb ein sieches Geschlecht weil man wusste, dass der Gesunde unbesiegbar ist, selbst der raffiniertesten Beamtenwillkür gegenüber? Solche und tausend ähnliche Fragen — sie enthalten eine fürchterliche Anklage auf Vernunftmord und Schädigung des Leibes — sie mögen mit dem alten System begraben werden, aber noch so lange fort und fort sich wiederholen, als nicht in ein neues wahrhaft freisinniges Unterrichtsgesetz die Gewähr der Anerkennung der ewigen Rechte des Menschen auf allseitige Entwicklung und Bildung seiner leiblichen und geistigen Anlagen gegeben sein wird!

„Dass Francke als ein offener Kopf mit felsenfestem Willen in seiner instinktartigen Abneigung gegen den Kartoffelbau der Brotwissenschaften und die „fromme Schafzucht“ der Universitäten, die Theologie von Anfang an aufgab und sonst ganz über jeden Kollegienzwang erhaben nach Lust und Belieben seine Studien einrichtete, dass er, gerade je mehr er sich fühlte, um so kühner sich über das wissenschaftliche Pfahlbürgertum der deutschen Professorenherrschaft hinwegsetzte, dass er aus Ekel und Überdruss an aller Dressur des Geistes in den Gegensatz, in ein exzentrisches, dem akademischen Gesetz Hohn sprechendes Tun und Treiben sich warf, — dies Alles ist nach Obigem eben nicht zu verwundern. Von dem Maße der eingesetzten Lebenskraft hängt es bei solchen Menschen, welche auf die Bahn der Opposition gegen die bestehenden morschen Verhältnisse geraten sind, ab, wie lange ihr durch die Borniertheit unnatürlichen Zwanges hervorgerufener Übermut vorhält, ob sie gänzlich scheitern und untergehen, oder ob sie aus dem Schiffbruch sich in eine neue Lebensbahn hinüberretten.

Unserm Francke glückte das Letztere. Er hatte das Schicksal, von allen Universitäten entweder konsiliert oder relegiert zu werden. Er hatte nicht studiert und doch sehr viel gelernt, nur nicht das, was er zum Examen nötig hatte:

„Was man nicht weiß, das eben braucht man
Und was man weiß, kann man nicht brauchen,“

Er kehrte in einer höchst traurigen Verfassung von Berlin in die Heimat zurück mit der Gewissheit, dass er seinen Lebenszweck bis dahin verfehlt habe, krank an Leib und Seele. „Auf der Universität“, äußerte er selbst gelegentlich, „war ich ein Gemisch von Natursinn, Lust zu körperlichen Übungen und Liederlichkeit bis ins Maßlose. Mit der Selbstachtung hatte ich die Achtung vor der Menschheit, vor allem Hohen und Edlen verloren. Die theologischen Schriften erschienen mir als pure Heuchelei und schon von klein an hatte ich nie an den Katechismus geglaubt.“ Indessen Eines hatte er gerettet — seine Liebe zur Wahrheit, mit ihr den untrüglich festen Grundstein beim Beginn eines neuen Lebens! Francke hat sich nie einer Unwahrheit schuldig gemacht, er hat sich auch immer rein vor Schulden bewahrt. Wie er denn in seinen Geständnissen sehr offen war, äußerte er sich auch hierüber unverhohlen, dass er zwar liederlich bis zum Exzess, aber nie unhonnett gewesen sei. „Ein Glück“, sagte er, »war's vielleicht, dass meine Lebenskraft durch die Gifte der Mediziner, die ich als Kind schlucken musste, zum großen Teil gleichsam gebunden war. War das nicht der Fall, dann würde ich mit voller Lebenskraft bei um so größerem Widerstand mich noch weniger geschont und noch mehr Unheil angerichtet haben.“^

Ein Beweis vollständigen Banquerotts seiner Lebenskraft würde es gewesen sein, wenn er nunmehr eine Betschwester geworden und unter die Mucker gegangen wäre. Aber unhonnett ist unser Francke ja nie gewesen. Bis zum — Pietismus war er nicht gesunken. „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ Der Faust stirbt nicht aus. Wer sich dem Pietismus gefangen giebt, der bedarf freilich ganz ausnahmsweise der göttlichen Gnade zur Errettung aus solcher Mistre. Francke ermannte sich und rief sein: Aide toi, le ciel t'aidera! Er stand an der Markscheide eines neuen Lebens, die Rückkehr von Berlin und der große moralische Katzenjammer nach dem Erwachen aus dem Rausch der akademischen Lust, in der er sich verloren hatte, waren der Punkt der Umkehr zu sich selbst. Diese ging zwar anfangs langsam, aber allmählich immer fester und rascher vor sich. Nur der Strebende irrt!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.