Über die gewöhnlichsten ärztlichen Missgriffe beim Gebrauche des Wassers als Heilmittel

Zu dieser Zeit erschien auch die letzte bedeutende Schrift Rausses unter dem Titel: „Über die gewöhnlichsten ärztlichen Missgriffe beim Gebrauche des Wassers als Heilmittel. Nebst einer Abhandlung über Aufsaugung und Ablagerung der Gifte und Medikamente im lebenden animalischen Körper und einer Kritik der Kurmethode des Vincenz Prießnitz. Zeitz, 1847.“ Das Buch brachte in dem Bereich der Anhänger der Kaltwasserheilkunde eine fieberhafte Aufregung hervor, namentlich dadurch, dass Francke den Stab über die Ausartungen der Prießnitz'schen Methode auf dem Gräfenberg selbst bricht, er, der begeisterste Apostel des Meisters! Aber nicht Rausse, Prießnitz ist der Apostel: dies ist das große Resultat der Schrift. Prießnitz ist von sich selbst abgefallen. Rausse ist dem einfachen Prießnitz, so lange er unbeirrt seinem Genius folgte, treu, aber von dem Prießnitz, der geblendet vom Beifall und vom Gewinn, irre gemacht durch das Geschwätz Unberufener, aufgeblasen durch den Weihrauchqualm der Enthusiasten echt metternichisch von einem Fortschritte der Heilweise nichts wissen will, dem vor der Konsequenz seiner ursprünglich rein und klar hingestellten Prinzipien graut, von diesem Prießnitz ist er abgefallen. Die veränderliche Person hat Rausse aufgegeben, das unveränderte Wesen der Sache hat er festgehalten. Durch dieses Buch ist Rausse der Reformator der Wasserheilkunde. Es ist wahrhaft rührend, in der Kritik der Kurmethode des Vincenz Prießnitz den Kampf zu beobachten zwischen der Gewissenhaftigkeit für die Sache und der Anhänglichkeit an die Person des Prießnitz, dem Rausse als seinem Lebensretter sich zu Dank verpflichtet fühlt. Aber Wahrheit, Pflicht und Gewissen, selbst auf die Gefahr hin, dass er den Schein der Undankbarkeit und Wandelbarkeit auf sich ladet. Prießnitz ist der Entdecker und der Held der Wasserheilkunde, aber ihr Meister und Vollender ist er nicht.

„Das Verschweigen der Wahrheit ist eben so sehr Verrat an derselben, als die Lüge es ist. So fest überhaupt in der menschlichen Seele eine Überzeugung wurzeln kann, so fest ist meine Überzeugung von der ewigen Wahrheit der Wasserheilkunde, so fest ist ferner die Überzeugung, dass nur durch den Sturz der Medizin und durch den Sieg der Hydriatik mit allen seinen Konsequenzen die Menschheit dem Elend entrissen werden kann, — so fest ist endlich meine Überzeugung, dass auf dem falschen Wege, auf welchen Prießnitz in neuerer Zeit geführt hat, diese größte und segensreichste Entdeckung für das Menschengeschlecht, notwendig dem Untergange entgegengeführt wird. Hat Jemand eine Idee davon, wie es bei solchen Überzeugungen möglich sein kann, zu schweigen? Ich für meine Person habe keine Ahnung von dieser Möglichkeit. Die Seele, die von einer großen Idee bewegt wird, muss diesen Bewegungen nachgeben, wenn sie nicht von der Spannkraft des zusammengepressten Gedankens gesprengt werden soll. Ich muss sprechen, weil ich nicht schweigen kann.“


Wer wollte ihm zürnen, dass er gesprochen hat? Obgleich ich aus dem Munde vieler meiner nähern Bekannten, welche auf dem Gräfenberg Heilung gesucht hatten nur Bestätigung der Rausse'schen Kritik vernahm, so konnte ich doch nicht umhin, mir von einem in jeder Beziehung als Ehrenmann bekannten Freunde, welcher längere Zeit unter Prießnitzs Behandlung gestanden hat und gleich mir ein großer Verehrer des großen Mannes war und ist, ein anderweitiges Urteil über denselben zu erbitten. Ich teile den mir gewordenen Brief im Auszuge mit:

Alles, was Rausse in seiner Kritik der Prießnitz'schen Heilmethode sagt, ist tatsächlich begründet. Prießnitz ist ein nur gar zu roher Empiriker. Er kam mir vor, wie eine große Tafel, die mit allerlei Weistümern beschrieben ist, von denen sich Jeder nach Belieben auswählen kann. Doch soll dies um Gotteswillen nicht etwa heißen, der Weise der Sudeten erlaube Jedem die freie Wahl. Im Gegenteil, nur er allein gestattet sich den Griff, und wehe dem, der von seiner Anordnung abweicht. Seinen Ruf in Bezug auf Heilung akuter Krankheiten (man könnte vielleicht hinzusetzen: stark und bestimmt ausgesprochener Krankheiten) in Ehren; aber von den 1.200 Patienten, welche ich in Gräfenberg kennen gelernt habe, sind nur — gut gerechnet — 10 Prozent passabel geheilt abgereist. Es folgt hieraus, dass er für die chronischen Krankheiten nicht der rechte Arzt ist. Die meisten in diese Kategorie Gehörige sind Nerven- und Unterleibskranke. Wie oft man in Gräfenberg das Wort „nervös“ hört: Prießnitz weiß von Nerven nichts; ebenso ist ihm das Kapitel von der Diät fast eine terra incognita, während er über die Anwendung der Klistiere, welche er nur bei chronischer Diarrhöe, und auch da nur höchst sparsam gebrauchen lässt, mit sich ziemlich im Trüben ist. Jetzt, da Rausse aber dieselben so wichtig findet, scheint er sich eben so entschieden von ihnen abzuneigen, wie seit den guten Schwitzkuren des Sammel-Doktors er ein Todfeind allen Schweißes ist. Letztere Antipathie haben hier bereits mehre sekundäre Syphilitiker mit dem Verlust von Nasen, Gaumenzapfen u. f. w. büßen müssen. Primäre Syphilitiker lässt er natürlich wenigstens zweimal in der Woche schwitzen. Da Prießnitz aber von dem Prinzip ausgeht, das lokale Leiden durch die Stärkung des Ganzen zu heben, — ein Prinzip, welches er in seiner ganzen Abstraktheit durchführt — so ist dann, da die Lebenskraft für ihn kein schwer zu erkennender Faktor, auch kein diffizil zu behandelnder ist, die Kurform bei den meisten Patienten dieselbe. Die Erzählungen von den Luftbädern, welche wenigstens von der Dauer einer Minute jedem Gangbade und der Douche folgen müssen, so wie von den ewig Fröstelnden sind der Wahrheit getreu. Teils letztern Umstandes wegen, teils aus dem richtigen Instinkt, dass in der weiland Schwitzkur wenigstens Konsequenz war, hat mindestens die Hälfte der Patienten das Verlangen zu schwitzen, ein Gerücht, welches verlautbarlicht, die ganze Ungnade des Unsterblichen zur Folge hat. Bekanntlich soll nach Prießnitz die Stärkung stets durch Austreibung „schlechter Stoffe“, der Ursache der Stockungen, bewirkt werben. Es erscheint daher den Leutchen zu diesem Zwecke der Schweiß das sicherste Mittel, um so mehr, als noch hie und da die Märchen der Vorzeit spuken. Nur selten findet man Einen, der über das Verhältnis von Materie und Kraft einige Klarheit hat. Was aber die äußere Einrichtung: Bäder, Wasserleitungen, Wohnung, Essen, Bedienung anbetrifft, so existiert in Gräfenberg nichts, was nicht ganz nach Prießnitzs Kopf angelegt, d. h. nach dem Gesichtskreis und Bedürfnis eines Bauern konstruiert wäre. Schließlich muss ich bemerken, dass es mir mit der Perfektibilität des gestrengen Herrn Vincenz zu Ende zu gehen scheint. Wie tätig derselbe auch immer sein mag, so hat derselbe doch ganz aufgehört, sich etwas von den Kurgästen zu assimilieren und borniert sich durch Abbruch der Vermittlung mit diesen immer mehr.

Der eben mitgeteilte Brief mag als eine Kritik der Kritik Rausses über Prießnitz gelten. Ich versichere nochmals, dass der Schreiber desselben ein durchaus vorurteilsfreier, klar denkender und richtig auffassender Kopf ist, welchen Prießnitz wider seinen Willen selbst von seinem Prießnitz-Enthusiasmus befreit hat. Rausse, der Mann der Wahrheit bedarf übrigens keines weitern Zeugnisses für seine Wahrheitsliebe. Er konnte sich in seinem Urteil über Prießnitz irren, das war möglich. Er hat sich aber nicht geirrt, denn der Bestätigungen seiner Worte liegen zu viele vor.

Was mich anbetrifft, so habe ich in Lehsen, wo der vierte Teil der Kurgesellschaft aus Gräfenberger Auswanderer bestehen mochte, selbst einige junge Männer näher kennen gelernt, welche, da sie ein Vierteljahr lang auf dem Gräfenberg beständig gefroren hatten, von beständigem Frost gepeinigt ankamen. Rausse ließ dieselben zunächst „warm werden,“ d. h. er ließ sie etwa acht Tage gar nicht die Kur gebrauchen. Dann fing er mit abgeschrecktem Wasser an, und zwar so, dass zwischen den einzelnen Bädern dem Körper stets Zeit blieb sich gehörig zu erwärmen; zugleich warnte er vor forcierter Bewegung und nach 14 Tagen waren die Herren warm und hatten die schönste Furunkelkrise, dabei Lachen und Weinen in einer Tasche, je nachdem das Vergnügen über endlichen Erfolg der Kur mit dem momentanen Furunkelschmerz abwechselte. Wenn ich nun auch den Worten dieser Geflüchteten nicht hätte glauben wollen, die Tatsache der Geschwüre, die ich bewundern half, musste ich glauben.

Wie Rausse 1846 eine Beschreibung der von ihm gegründeten und dirigierten Anstalt Stuer herausgegeben hatte, so eröffnete er sein Auftreten in Lehsen mit einer Schrift, worin er diese Anstalt selbst zunächst beschreibt, dann am Ende „Allgemeine Kurregeln“ folgen lässt, welche als die kürzeste Abbreviatur seines Heilverfahrens in dem Umfang nur weniger Blätter einen Schah von Erfahrung erhalten und die Bestimmung haben, dem Patienten die Kur und die Befragung um sein Verhalten möglichst zu erleichtern. Kurz vorher war auch sein „Jahresbericht über die Wasserheilanstalt zu Stuer für das Jahr 1846 bei H. G. Voigt in Hamburg“ erschienen. Dieser Bericht zeichnet sich durch seine gedrungene Kürze und seine Reduzierung auf bloß Wesentliches vorteilhaft vor ähnlichen aber weitschweifigen, selbstgefälligen Machwerken über andere Anstalten aus, und mag dem kundigen Wasserarzt als ein praktisches Kompendium der Hydrotherapie gelten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.