Miscellen zur Gräfenberger Wasserkur

So viel ist gewiss, das Leiden, mit dem er selbst zu kämpfen hatte, ließ in seinem Forschen nach der Grundwahrheit von Krankheit und Heilung keinen Stillstand eintreten. Daher erschien bereits im Jahre 1839 ein neues Werk über Wasserheilkunde, welches seinen Hass gegen Medizin, der nach allem Vorhergehenden erklärlich ist, und seiner Kunst, einem an sich prosaischen Gegenstand enthusiastische Verehrung abzugewinnen die Krone aufsetzte; den Titel: „Miscellen zur Gräfenberger Wasserkur“ und das Motto: „Wasser tut's freilich“ führte. Seinen Schriftstellernamen J. H. Rausse illustriert er mit dem Zusatz: „wirklicher geheimer Zauberer und großer Medikus beim Stamm der Schlangenindianer, korrespondierendes Mitglied aller Akademien und gelehrten Gesellschaften in den Ländern der Caraiben und Hottentotten, Ritter unzählig vieler Orden aus den Staaten Fichtenhain, Ziegenhain und Passendorf etc.“ — Wer das gediegene Buch voll schweren Ernstes gelesen hat, der versteht den Hohn und den bittern Spott auf die mit Orden und Titeln behangenen Geheimräte und denkt an jenen alten Griechen, der die Ärzte glücklich pries, weil ihre Erfolge von der Sonne beschienen, ihre Irrtümer aber von der Erde bedeckt würden; ihm fällt auch wohl Voltaire ein, welcher den Arzt einen Mann nannte, der Medizin, wovon er wenig weiß, in einen Körper schafft, von dem er noch weniger weiß. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass eben jener Zusatz Manche, die mit der Sache noch nicht bekannt waren, bestimmte, das Buch nicht zu lesen, weil sie eine leichtfertige Behandlung des Gegenstandes darin vermuteten. Ich glaube, dass dem Absatz der ersten Auflage dadurch einigermaßen geschadet ist.

Da durch diese Schrift sein Name am meisten verbreitet ist, so kann ich nicht umhin, an dieser Stelle zu erwähnen, was er mir einst auf meine spezielle Erkundigung über die Wahl des Namens Rausse mitteilte. Er hatte nämlich in Aschaffenburg den französischen Namen Rausse als Spitznamen. Als er später als Schriftsteller auftrat, zu einer Zeit, wo es noch nicht geheuer war, neben seiner amtlichen Tätigkeit zu denken und das Gedachte zu Veröffentlichen — neben seinem Amte täglich in loyale Casinos laufen, auf die Jagd gehen, Bälle, Konzerte und Kaffeehäuser frequentieren. Das Hat nichts — also damals musste ein solcher Schriftsteller sich unter einem angenommenen Namen verbergen, und Francke setzte, ohne lange zu wählen, seinen alten Universitätsnamen auf den Titel eines Manuskripts. Der Drucker druckte den französischen Namen mit deutschen Lettern und so wurde aus Rausse — Rausse.


Die Miscellen wurden schon 1810 zum zweiten Male und 1846 stark vermehrt und gänzlich umgearbeitet zum dritten Male aufgelegt. Bei der großen Auflage von vielen tausend Exemplaren fand sie in Deutschland und durch Übersetzungen auch im Auslande ausgedehnte Verbreitung. Auch ward u. a. seine erste Schrift: „Der Geist der Gräfenberger Wasserkur“ in englischer Übersetzung in Nordamerika viel gelesen. Indessen hatte der Übersetzer sich als Verfasser angegeben, eine Täuschung, welcher Francke durch Inserate in New-Yorker Blättern kräftigst begegnete.

Die Stellung, welche sich Francke in seinen „Miscellen etc.“ zur Medizin gibt, bezeichnet er mit dem ersten Satz der Vorrede zur ersten Auflage derselben: „Wahrscheinlich werden diese Blätter nicht ohne Irrtümer in Nebensachen sein; aber in der Hauptsache enthält das Buch mehr Wahrheit, als die sämtlichen medizinischen Schriften und Systeme von Galen bis auf unsere Zeiten zusammen genommen — was freilich nicht viel sagen will.“ Den Medizinern räumte er gar kein Urteil über sein Buch ein. Ein untrüglicher Richterspruch könne er nur Einem zugestehen, dem Vincenz Prießnitz, aber dieser Eine befasse sich nicht mit Rezensieren und Schriftstellern.

Freilich ließ die Medizinzunft, da sie ans den europäischen Ruf eines Prießnitz nicht hinanreichte, ihre Wut um so mehr an dem begeisterten Jünger und Verkünder seiner Lehre aus. Rausse wurde geschlagen und Prießnitz war gemeint. Ohnmächtige Wut! Rausse antwortete mit neuen Auflagen seiner Schriften und mit fast höhnenden Aufforderungen, ihn öffentlich zu widerlegen, da es mit bloßem Schimpfen und Spotten und mit vornehmem Ignorieren doch einmal nicht getan sei. Auch antworteten viele unparteiische Männer durch gewissenhafte Beurteilungen seiner Schriften, Beurteilungen, welche so günstig und zahlreich ausfielen, dass, wie Rausse sich ausdrückt, „selbst der krassesten Autoreneitelkeit nichts zu wünschen übrig bleiben würde“ — was etwas heißen will.

In der Tat hat wohl Nichts, weder das Triumphgeschrei der vom Gräfenberg gesundet Heimkehrenden, noch die Zugeständnisse der daselbst durch eigne Anschauung zur neuen Lehre bekehrten Mediziner, noch die Anzahl von Büchern, welche Prießnitzens Lob verkündigen, diesem so viele Vorteile, aller Art eingebracht, wie die Miscellen Rausses. Sie waren eine neue Quelle von Ansehen, Geld, Vertrauen und Geschenken für Prießnitz. Aber ihre Sprache übte auch eine wahrhaft bezaubernde Macht auf den Leser. Man konnte sich von der so hinreißend, so kernig, markig und ungeschmückt auftretenden Wahrheit nicht losreißen; wer das Buch einmal gelesen hat, der las, verschlang es zum zweiten, zum dritten Male. Da war Keiner, welcher nicht irgend ein Capitel darin fand, was wie für ihn speziell niedergeschrieben, eigens auf seinen Zustand gemünzt schien. Der Eine fühlte sich getroffen und tiefbeschämt, der Andere hoch erhoben und ermutigt; jenen führte die Scham über seine schwache Verweichlichung zu heilsamer Einkehr bei sich selbst, zu allmählicher Erkenntnis von der Notwendigkeit einer sittlichen Selbsterneuerung, dieser jauchzte im Bewusstsein, dass er auf dem rechten Wege zum Gesunden sei, dem winkenden Besitz physischer Kraftfülle entgegen; der Verzweifelnde und Niedergeschlagene ward aufgerichtet, der noch mutig Hoffende bekräftigt zu felsenfester, unerschütterlicher Ausdauer. — Man muss mit angesehen haben, wie namentlich junge, noch wenig verdorbene Naturen sich dem Eindrucke des Buches Hingaben, um sich einen Begriff von der Allgewalt seiner Sprache machen zu können. Das Entzücken ging oft in einen wahren Taumel über. Ein Beweis, was Alles aus der Jugend gemacht werden könnte, wenn ihr nur stets die rechte Nahrung geboten, wenn ihr eine große Idee vor- und entgegengehalten würde, die es wert ist, dass sie um dieselbe sich müht, alle Kräfte für sie einseht. Nur ein Ringen nach etwas Großem und Erhabenem, über das Alltagsleben philisterhafter, eintöniger Genusssucht Hinausragendem, nur in der Begeisterung für eine die Kraft der Entwicklung steigernde Idee wird die Jugend vor Erschlaffung und Entnervung, vor Langeweile und Ausbrüchen der Rohheit bewahrt, keiner Stimme gehorcht sie so, wie jener göttlichen der Freiheit, der Freiheit vor allem, welche den Menschen zum Herrn seiner selbst, zum Gebieter seiner Bedürfnisse und seiner Leidenschaften macht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.