Kur bei Prießnitz auf dem Gräfenberg

Mit diesem Entschluss beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Francke. Er wurde auf das Gebiet geführt, auf dem er wahrhaft heil- und segenbringend für die Menschheit wirken sollte.

Es war im Herbst 1837, als er sich „mit einem bis nahe an Wahnsinn überreizten Nervensystem“ nach dem Gräfenberg aufmachte. Zu jener Zeit wollte das viel mehr sagen als heut zu Tage. Die Wasserheilkunde hatte bei Weitem noch nicht so viel Boden in größeren Kreisen gewonnen, dass der, welcher sich ihr anvertrauen wollte, nicht hätte erst einen harten Kampf mit den Vorurteilen seiner ganzen Umgebung zu bestehen gehabt. Auch war für einen Patienten die Reise durch rasche Kommunikationsmittel noch nicht so verkürzt und erleichtert, wie gegenwärtig. Francke ließ sich indessen von keinem seiner Freunde irre machen. Auch wusste Jeder schon, dass er von einem Vorhaben so leicht nicht abzubringen war.


Sein Aufenthalt auf dem Gräfenberg dauerte im Ganzen zehn Wochen. Während dieser Zeit hielt er sich von der Kurgesellschaft absichtlich fern. Was er sah und hörte war etwas durchaus Neues, die Schlaraffenkultur seiner bisherigen Gewohnheit geradezu Durchbrechendes. Hier trat ihm wieder ein Naturverhalten entgegen. Anklänge an Rousseaus Emile, deutliche Aussprache dessen, was oft schon als dunkel gefühltes Bedürfnis durch seine Gedankenwelt hindurch gezogen war. Das Genie des Prießnitz, die Gläubigkeit, womit seine Kurgäste vom Erzherzog herab bis zum dürftigen Arbeiter sich um ihn drängten, mussten ihm imponieren und er begann die Kur nach den Befehlen und Winken des mit uneingeschränkter Herrschermacht auf seinem Sitz gebietenden Prießnitz. Francke jedoch hat niemals blind Jemanden gefolgt. Er dachte nach über die Kur, welche ihm vorgeschrieben war, er wurde sich klar über die Beschaffenheit seines Leidens, er verglich das Verfahren des Prießnitz mit den andern ihm bekannten Heilmethoden und seine verschiedenartige Anwendung je nach verschiedenen Nebeln, beobachtete Ursachen und Wirkungen und fand so selbst die obersten leitenden einfachen Grundsätze, von welchen Prießnitz sich bei seiner heilweise leiten lässt. Es musste ihm um so mehr daran gelegen sein, diese Prinzipien ermittelt zu haben, je weniger bekanntlich Prießnitz die Gabe besitzt, über sein eigenes Thun sich klar auszusprechen, da er fast mehr im dunkeln Drang des Genies, als nach hinlänglich deutlicher durch Nachdenken gewonnener Erkenntnis verfährt.

Kaum war sich Francke über die neue Heilweise klar geworden, als er sofort auch zur entschiedenen Erkenntnis der Irrtümer ihrer Anwendung in einzelnen Fällen kam.

Prießnitz hatte ihn täglich zweimal in der trocknen Decke schwitzen lassen. Dieser Behandlung entzog er sich dadurch, dass er in einem abgelegenen Hause der Kolonie Wohnung nahm. Hier behandelte er sich nach eigenem Ermessen. „Ich reiste bald darauf“, sagt Francke, „als ich mir über die Gestaltung meiner Kur Klarheit erworben hatte, in die Heimat. Dennoch wäre ich nie zu einer Erkenntnis sowohl der allgemeinen Wasserkur, als meiner besondern gelangt, wenn nicht die großen und genialen Entdeckungen, die Prießnitz gemacht, für mich eine Basis zu weiterer Forschung und Erkenntnis geworden wäre.“ Francke sagt zwar, dass die österreichische Maut, welche ihm bei der Grenzvisitation alle seine Bücher, die er sich zur Unterhaltung mit nach dem Gräfenberg hätte nehmen wollen, abgenommen habe, die Ursache gewesen sei, dass er sich dort mit nichts Anderem, als dem Nachdenken über die Kur hätte befassen können. Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich, dass auch nicht die interessanteste Lektüre den eigentümlichen Reiz, welchen das Ergründen einer neuen Heilmethode für ihn haben musste, überboten haben würde. Solche Naturen, wie die Franckes, haben nicht Ruhe und nicht Rast, bevor sie nicht jede neue fremdartige Erscheinung durch Nachdenken bewältigt, zum Eigentum ihres Geistes gemacht, überhaupt also begriffen haben; denn der Begriff hebt jedes fremde und feindliche Verhältnis zwischen dem Geist und seinem Gegenstand auf.

Die Kur auf dem Gräfenberg länger fortzusetzen, dazu fehlte es ihm an Geldmitteln. Er musste sie unterbrechen, war aber überzeugt, dass er die Heilung nach eigener Einsicht würde vollenden können. Sichtlich gestärkt und mit frischer Lebenslust traf er zu Hause ein. Das Forstkollegium beschäftigte ihn in Schildfeld. Hier setzte er die Wasserkur fort und schrieb die Ergebnisse seiner Erfahrungen über dieselbe nieder. Das Buch ist unter dem Titel: „Der Geist der Gräfenberger Wasserkur“ bei Schieferdecker in Zeitz 1838 erschienen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.