Kindheit und Schulzeit

H. Francke, das älteste Kind aus der zweiten Ehe des Superintendenten Francke zu Güstrow im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, war am 18. August 1805 geboren. Er hatte noch zehn Geschwister, von denen sechs aus der ersten Ehe stammten. Zwei seiner Schwestern sind in Rom an namhafte Künstler, die eine an den berühmten Bildhauer Steinhäuser verheiratet. Sein Großvater von mütterlicher Seite war der Oberforstmeister von Kamptz zu Padresch, seine Großmutter war eine geborne von Mewius. Johann Falck sagt irgendwo, von Goethe sprechend, dass große Männer meist in ihren Müttern vorgebildet seien. Es ist dies ein wahres Wort. „Von meiner Mutter,“ sagt Francke, „habe ich den Stolz, die Wahrheitsliebe, den Natursinn.“ An ihr hing er, der äußerlich kalt und ohne Familiensinn erschien, mit seltener Pietät. Jedenfalls war sie eine treffliche Frau, gleich ausgezeichnet durch körperliche, wie durch geistige Vorzüge. Ihre Eltern wohnten, wie es der Beruf des Vaters mit sich brachte, mitten in einem großen Walde. Fern von dem verzärtelnden Komfort der Städte und reichen Landedelsitze wuchs sie mit ihren Brüdern in freier Waldnatur auf, deren Bäume, deren Tiere ihre ersten Bekannten und Gespielen waren. Frische blühende Glieder, Gesundheit an Leib und Seele und ein reines mit solcher Gesundheit allein verschwistertes reiches Gemüt, hoher natürlicher Verstand und eine lebendige diesen noch überbietende Phantasie waren die Erbteile dieser Erziehung, einer Erziehung, welche mehr in einem Gewährenlassen, als in direkter Einwirkung bestand, welche schon von früh an die Anlagen der Kinder zur Selbsthilfe und zum Verlass auf die eigene Kraft reisen ließ. Der freie ungebundene Sinn, eine gewisse Unbeugsamkeit, eine lebhafte Neigung die gewohnten engen verkrüppelnden Schranken der Gesellschaft rücksichtslos zu überspringen, der in der Francke'schen Familie einheimische, kecke, rastlose Tatendrang in die Ferne hinaus — diese Erscheinungen finden ihre Erklärung vor allem auch in jenem abhärtenden einsamen Waldleben der Mutter, wo die Kinder viel sich selbst überlassen, früh schon sich helfen lernen mussten und mit Ungemach, Unbequemlichkeiten, selbst Gefahren mancher Art bekannt und vertraut wurden.

H. Francke war bereits in seinem aller ersten Lebensalter Gegenstand der Bewunderung der ganzen Wochenstube und dessen, was aus und ein dort ging. Er war ein Knabe von seltener Größe und Wohlgebildetheit. Der Hausarzt stellte ihm das Prognostiken, dass er ein Simson werden würde. Ein solches Kind war die Herzenswonne einer solchen Mutter! Der Knabe gedieh und wuchs so kräftig, dass er mit dreiviertel Jahren seine ersten Gehversuche durch das Zimmer machte und obendrein noch eine ziemlich schwere hölzerne Fußbank in den kleinen Händen voranschleppte. Überdies muss er sehr hübsch gewesen sein, die Mutter schnitt ihm die Locken nicht ab, um ihn auch darin dem Simsen ähnlich sein zu lassen, ja sie ließ ihm bis in das dritte Jahr hinein die Brust, in der Meinung, dass nichts so sehr das kräftige Gedeihen des Kindes fördern könne, als eben diese Nahrung. Wer den derben, behenden und stämmigen Jungen in seiner Blondlockenfülle, mit seiner schön geformten Stirn und dem offenen vielversprechenden Auge über den frischroten Wangen sah, musste gestehen, dass ihm ein solches „Prachtexemplar“ noch nicht vorgekommen sei. Namentlich tat sich der Hausarzt, der sich gern in der eingebildeten Rolle eines schützenden Hausgenius wiegte, förmlich etwas darauf zu gute, dass das Kind so ungewöhnlich stark für sein Alter war, obgleich sein ärztliches Verdienst an diesem Umstand ein durchaus negatives war. Inzwischen dachte die Muller daran, ihren Heinrich zu entwöhnen. Es geschah dies ganz plötzlich. Die Folge davon, wenigstens in diesem Falle, war die, dass sich bei dem Kinde ein anhaltender Durchfall einstellte. Nun wurde der Arzt zu Rat gezogen; mit seltener Gewissenhaftigkeit, ja mit einer Art von Andacht, wurden dessen Vorschriften erfüllt. Die überbesorgte Mutter, so frisch und resolut sie auch sonst sein mochte, — wie hätte sie sich über das Vorurteil jener Zeiten hinwegzusetzen vermocht, dass ein Hausarzt als unumschränkter Gebieter in den von ihm bevormundeten Familien walten dürfe! Das wäre mehr als Freigeisterei, mehr als Emanzipation gewesen! Der Arzt war damals noch ein Orakel; was er sprach war Weisheit, was er schrieb war Leben! Er hatte dieselbe Macht, wie sein geistlicher Gesinnungsgenosse, der Pfarrer. Der Doktor und der Pfarrer! Sie waren in den Augen der Laien von einem Nimbus umgeben, mit Hilfe dessen sie sich die gedankenlose Herde immer mehr leib- und geisteigen zu machen bemüht waren. Niemand hätte es gewagt, ein Bedenken gegen die Hieroglyphen eines Rezeptes zu erheben. Niemand sich erkühnt, die Wundersalbe der Geistlichkeit anzuzweifeln! Freilich je mehr das Volk an die medizinischen und geistlichen Wunder glaubte, desto lächerlicher kamen sich die Wundertäter untereinander selbst vor. Die Geschichte von den beiden Augurn in Rom, die im Begegnen auf der Straße einander ins Gesicht lachten; die Geschichte von den beiden Gespenstern, welche vor Schreck vor einander davon liefen, wird sich wiederholen, so lange es Schlauköpfe und Schufte gibt, die von der gläubigen Dummheit Anderer leben, und anderer Seits Einfaltspinsel, die sich überlisten und ausbeuten lassen.


Bequem allerdings war die Sache. Man lebte so in den Tag und die Welt hinein, so lange es gut ging. Wurde man krank, so hatte man sich nicht durch eigenen Unverstand die Krankheit zugezogen, sondern sie war unmittelbar vom lieben Gott geschickt. Man ließ den Doktor holen und hatte auch bei dem schlimmsten Ausgang doch wenigstens sein Gewissen beruhigt. In gleicher Weise, wie den Doktor am Leichnam, ließ man den Pfarrer an der Seele herumflicken. Wie gesagt, es war so bequem und man war des eignen Denkens überhoben! Die jetzige, der Bevormundung überhaupt überdrüssige Welt will es besser wissen. Sie rückt den Leibes- und Gewissensärzten mit allerlei naseweisen Fragen zu Leibe, und man kann es den Herren nicht verdenken, wenn sie die ewig sich wiederholende Frage „Warum“ so überaus unangenehm und langweilig finden und auch ihrerseits über „einige wenige Schreier“ sich erboßen, welche das Volk so halsstarrig machen, dass es nicht so ohne Weiteres alle Pillen mehr verschlucken will.

Also im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin waren damals noch für leiblichen und geistigen Ablass die guten alten Zeiten und unser kleiner Francke wurde mit „stopfenden Mitteln“, und zwar mit Riesenportionen, gefüttert. Dem kleinen Magen wurde viel zugemutet. Zwei und ein halbes Jahr dauerte die Stopfkur und der blühende Knabe wurde bleicher und matter. Endlich war der Durchfall „besiegt“, aber dafür hatte sich nun eine desto hartnäckigere Verstopfung eingestellt. Auch gegen dieses Übel wurde mit allen „öffnenden Mitteln“ aus der Güstrow'schen Apotheke zu Felde gezogen. Der Hausarzt verschrieb Purganzen und Klystiere und das dauerte wieder fast zwei Jahre, bis der Knabe völlig erschöpft und hinfällig war. Selbst der Arzt pflegte über dessen derbe Natur zu staunen, weil er so unerhörte Portionen seiner Arzneien vertragen könne, Portionen, wie man sie sonst etwa Dreschern reicht. Was war nun zu tun? Jetzt kamen natürlich die „stärkenden Mittel“ an die Reihe. Als auch diese einige Jahre fortgesetzt angewendet waren, da war das Siechtum vollständig fertig. Unser Francke wog in seinem zehnten Lebensjahre nicht mehr, wie im ersten. Seine roten Wangen waren dahin, dahin war die muntere Fröhlichkeit und die naive Keckheit! Ein Gerippe von erdfahlem Aussehen, einem Kobold ähnlich, setzte er die Bekannten durch seinen Anblick in Schrecken.

Noch lebte er, ein lebendiges Beispiel, was eine kräftige Natur zu überstehen vermag! Arzeneimassen, an denen sonst ein Gesunder hätte krank werden und sterben müssen, hatten hier die Lebenskraft nicht zerstören können! Welche kernige Natur einerseits, die einem solchen Angriff nicht ganz erlag; welche Zerstörungswut andererseits, dass ihr so viel Lebenskraft zum Opfer fallen musste!

Hier haben wir den Schlüssel zur Einsicht in die grenzenlose Erbitterung, Rausses gegen Alles, was Medizin heißt, hier den Schlüssel zu dem Geheimnis seines wahrhaft dämonischen Dranges, durch eine naturgemäße Heilweise sich von dem durch jene ärztliche Misshandlung eingepflanzten bösen Feind medizinischer Stoffe zu befreien. Rausse hat seine Mutter geliebt und geehrt, wie kein anderes Wesen auf Erden, aber Eines hat er ihr nie vergeben — und die namenlosen Leiden seiner späten, Jahre mahnten ihn stündlich daran — dies Eine war die blinde Schwäche, womit sie gedankenlos den Ärzten vertauend seine Jugend vergiften ließ.

Ja noch wenige Tage vor seinem Tode entwand sich seiner gequälten Brust ein Seufzer, ein letzter Vorwurf gegen seine Mutter, welche aus übergroßer Ängstlichkeit von den Ärzten die Blüte seiner Kindheit habe knicken lassen und so den Keim zu bleibendem Siechtum in ihn gepflanzt habe. Wir werden später sehen, welche Ansichten Rausse über die Wirkungen der Medizin im gesunden Organismus hatte und wie er nach diesen Ansichten, die sich bei ihm zur felsenfesten Überzeugung gestaltet hatten, in jener medizinischen Behandlung die Untergrabung seines ganzen Lebensglückes erkennen musste.

Als die Medizin - Ärzte nunmehr zur Einsicht gekommen waren, dass ihre Mittel nicht anschlagen wollten, dass vielmehr ein naher Tod in Aussicht stehe, so zogen sie es vor, „weil menschliche Kunst nun doch nichts mehr helfe“, den Knaben in Ruhe hinsiechen und sterben zu lassen. Aber, siehe da, kaum ist er von seinen Peinigern befreit, kaum befolgt die Mutter den letzten Rat der Ratlosen, dass sie den Jungen jetzt nur tun, treiben und essen lassen solle, „wozu er Lust habe“, da regten sich die noch übrigen Funken der schmählich unterdrückten Lebenskraft. Er beginnt sich zu erholen und kommt allmählich so weit, dass er, obgleich fortwährend blassen Aussehens, denn doch für leidlich gesund gelten und gleich Andern seines Alters den gewöhnlichen Gymnasialkursus durchmachen konnte.

An mutwilligen Knabenstreichen nahm er gern Teil, machte auch oft den Anführer und tummelte sich in Wald und Feld. Er blieb zwar blass und mager, doch bekam er feste Muskeln. Eine Schule vor dem Gymnasium hat er nicht besucht. Die Mutter selbst hatte ihn lesen und schreiben gelehrt. Bei seiner Kränklichkeit war er natürlich meist im Hause und unter unmittelbarer Aufsicht und Belehrung seiner Mutter; daher verdankte er ihr die erste Anregung und Erweckung seiner ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten. Sie erzog ihn, wie er selbst sagt, „mit maßloser Sorgfalt“, namentlich war sie sehr um seine religiöse Ausbildung bemüht. Der Vater scheint sich in dieser Beziehung nicht in dem Grade um ihn bekümmert zu haben. Er war Skeptiker, ohne es dem Sohne merken zu lassen, bis er erwachsen war.

Einst hatte dieser eine Predigt gehört über die Austreibung des Satans in die Säue. Die Geschichte machte ihm viel in seinem kindischen Kopf zu thun. Er trug dem Vater seine Skrupel vor und meinte: „Entweder die Schweine waren zahm und gehörten Jemandem, dann litt der Besitzer unrechtmäßiger Weise Schaden, oder es waren wilde Schweine (an die Hirten dachte er nicht) und die waren ohnehin bös genug, in keinem Falle durfte Jesus den Satan in sie fahren lassen.“ Der Vater tat, als ob er niesen müsse und hielt sich das Taschentuch vors Gesicht, um sein halb beistimmendes Lächeln nicht merken zu lassen. Gleichwohl war es dem Sohn nicht entgangen, und machte er sich seine eigenen Gedanken darüber. Jene Bedenken gegen das biblische Wunder waren denn doch so ganz kindisch nicht und zeigten, dass die religiöse Bildung der Mutter den Knaben geistig geweckt und dass bei ihm nicht, wie bei vielen andern Kindern mit den Unbegreiflichkeiten aus Katechismus, Gesangbuch und Bibel jedes selbstständige Denken von vornherein abgeschnitten war. Wie die Geschichte mit jedem Kinde von vorn anfängt, ebenso wiederholt sich in jedem neuen Menschen der religiöse Entwicklungsgang der Menschheit. Nur über die Brücke der Naturreligion fühlt der Weg zur Geistesreligion. Jenes Suchen und Forschen der Kinder in der sie umgebenden Natur, jenes unbewusste Aufnehmen der reinen Verhältnisse der in ihr unmittelbar dargelegten göttlichen Gedanken sollte auf das Sorgfältigste geleitet werden, bis die Ahnung eines Höheren sich allmählich zum Bewusstsein über die hinter den Naturerscheinungen wirkenden Kräfte erschließt und zur Erkenntnis des Gesetzes, des Geistes, des Göttlichen gereift ist.

Ein solches Eingehen der Kinder in die Natur ist nicht ohne allseitige Tätigkeit, Übung und Schärfung der Sinne möglich. Die Sinne führen das Baumaterial für die Gedankenwelt des Geistes zusammen. Scharfe Sinne, gesunder Sinn! Stumpfe Sinne, Blödsinn! Nicht durch Mysterien werden die Sinne geschärft, sondern durch täglichen Verkehr mit der offenbaren Natur, unter verständiger Richtung und Befriedigung der menschlich berechtigten Wissbegierde des Kindes. Was nur immer die Jugend von der eifrigen Umschau in der freien Natur abhält, macht sie schwachsinnig und stört ihre gesunde Entwicklung. Der wahre Gesundheitsinstinkt ist die Blüte einer möglichst gesteigerten Sinnestätigkeit:

„Nicht der Kelter ew'ge Schraube
Gibt den Wein, es ist die Traube!“

Wir dürfen annehmen, dass die Mutter Franckes im allgemeinen zu viel gesunde Natur aus ihrem Waldleben mitgebracht hatte, als dass ihre religiöse Einwirkung auf den Sohn etwas anderes gewesen sein konnte, als liebevolle, auf die Erweckung einer kindlichen Frömmigkeit ausgebende Lehren und Ermahnungen.

In seinem elften Lebensjahr kam unser Francke auf das Gymnasium seiner Vaterstadt. Er besuchte dasselbe zehn Jahre lang bis 1824, wo er die Universität bezog.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.