Gymnasialzeit

Es war dies eine Zeit, in welcher die deutschen Gymnasien zwar noch nicht so sehr an der spätern Uniformwut litten, dafür aber sonst um so mehr mittelalterlichen Spuk beherbergten. Für Francke war dies zweite Dezennium seines Lebens eine nicht geringere Marterperiode als das erste. In diesem hatte man ihm den Körper vergiftet, in jenem versuchte man ihm den Geist zu ertöten. Er hatte nämlich einen unbezwinglichen Widerwillen gegen den Partikel - Pedantismus, womit der Unterricht in den alten Sprachen verunreinigt wurde, bei dem er sich „wie vernagelt“ vorkam. Ohne Zweifel musste sein für die Natur durchaus offenes Gemüt auch für die antike Weltanschauung, welche ja stets nur von sinniger Naturbetrachtung ausgeht, zu gewinnen sein. War er dafür empfänglich, so brauchte er vor den alten Sprachen, wenn er sie auch gerade nicht zum Lieblingsstudium erkor, doch wenigstens keinen Widerwillen zu haben. Dass dies gleichwohl bei ihm der Fall war, ja dass er sie förmlich verabscheute, kann nur die Schuld des Unterrichts selbst gewesen sein. Versteht dieser es ja fortwährend noch, einzelne Lernfächer so gründlich verhasst zu machen, dass die Schüler ihre Abneigung gegen Einen Lehrgegenstand endlich überhaupt auf alle übertragen. Jener einseitigen Pädagogik lag nichts ferner, als eine der Einheit von Wissenschaft und Leben entsprechende Durchdringung der Gymnasial- und Realstudien, wodurch allein der junge Francke für eine ernste wissenschaftliche Tätigkeit hätte gefesselt werden können. Statt dessen verloderte das Feuer seines Geistes oder trieb die wilden Auswüchse einer in Trägheit oder Mutwillen hingebrachten Schulzeit. So viel fehlt dem Staat noch immer, dass er Allen, die ihm angehören die Möglichkeit bietet, ihr Glück lediglich im Vereich ihrer durch eine vernünftige Erziehung allseitig ausgebildeten Anlagen und Kräfte zu finden! Der jedem Kinde angeborne Tätigkeitstrieb wird künstlich bis zum geistigen Scheintod erstickt; sein erstes Gestalten der Wirklichkeit in den Spielen, in welchen — bedeutsam genug — das ernste Tun der Erwachsenen vorgebildet ist, wird irre geleitet; statt zur Lust und Freude an der Tätigkeit überhaupt, schlägt er zur Unlust, und Trägheit aus, und der Unterricht ist nicht was er sein soll: Spiel — im Sinne der Alten. Denn spielend lernen, heißt mit Lust und Liebe lernen! Der Ekel am Lernen ist nur die Reaktion der gesunden Natur gegen eine widernatürliche Zumutung, durch deren öftere Wiederholung das Erziehungen Kunstprodukt der Arbeitsscheu entsteht. Wer denkt im Ernst daran, diese einfach als eine Erkrankung der Natur aufzufassen und demgemäß zu heilen?

Auch Francke litt an dieser Krankheit und nahm sie mit hinüber in seine Universitätsjahre, wo sie noch reichlichere Nahrung fand. Erst dann glaubte er das ihm Gemäße, lang Vorenthaltene gefunden zu haben, als er die Schranken einer unverantwortlichen geistigen Bevormundung, deren Produkt „der beschränkte Untertanenverstand“ von jeher gewesen ist, durchbrochen und sich durch das Studium des contrat sociale von Rousseau die Bahn in das freie Reich der Wissenschaft erobert hatte. Freilich waren bereits die Jahre, welche sonst die schönsten an jugendlicher Kraft und Fülle sind, ein Opfer jener Verwilderung geworden, welcher geniale Köpfe um so leichter verfallen, je weniger sie auf der von engherzigen Philistern ihnen aufgezwungenen Bahn Befriedigung finden.


Francke wurde von seinen Eltern zum Studium der Theologie bestimmt. Von freier sittlicher Selbstbestimmung als Ziel der Gymnasialbildung war damals wenig die Rede, zu einem klaren Bewusstsein über den innern Beruf für ein Studium hatte ihm die Schule nicht verholfen. Ihm fehlte die Idee der Lebensaufgabe, für die er sich hätte begeistern können, welche als befreiende Macht den ganzen Menschen erfassend die Seele von roher Natürlichkeit reinigt und den Körper mit belebender Wärme zu Kraft und Gesundheit durchdringt. Der Vater hatte gepredigt, der Sohn sollte einst wieder predigen! Er sollte Pastor werden, sollte die Erde künftig als ein irdisches Jammertal ansehen und über ihre Freuden als über lauter Sünden den Stab brechen! Bis dahin musste die Welt und was sie den Sinnen bot, genossen werden! Von diesem Gesichtspunkte aus fasste Francke folgerichtig die bevorstehenden Universitätsjahre als die kurze Frist auf, in der er sich für spätere lange Entbehrungen im voraus entschädigen müsse. Mit solchem Sinne bezog er die Universität, um sich in den Strudel der sogenannten akademischen Freiheit zu stürzen.

Noch krankte sein Körper an den medizinischen Leiden seiner Knabenjahre. Darum hatte er sich nie des Vollgefühls der Gesundheit erfreut. Andererseits waren höhere geistige Interessen bei ihm nicht angeregt und die Wissenschaften waren in seinen Augen gelehrter Plunder. Mit der Gesundheit des Leibes und der Seele mangelte ihm auch jener gesunde Sinn, welcher die Jugend glücklich durch das Gären der Leidenschaft hindurchführt. Es leuchtete ihm kein Ideal, in dessen Dienst er sich für die höhere Aufgabe des Lebens hätte erwärmen, läutern und stählen können; darum wollte er sich wenigstens im sinnlichen Genuss sättigen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.