Forstakademie zu Aschaffenburg 1828

Mit der Theologie und ihren dogmatischen Schlagbäumen war's also Nichts. Francke fühlte das Bedürfnis; nach Gesundheit. Er wählte einen dem entsprechenden Lebensberuf draußen in Wald und Feld, den Umgang mit der Natur, er wollte Forstmann werden. In dieser Absicht besuchte er Ostern 1828 die Forstakademie zu Aschaffenburg.

Hier trat er in dem Kreise seiner Kommilitonen durchaus als Autorität auf. Er hatte reiferes Alter und Erfahrung, überlegene Kenntnisse und Körperkräfte für sich. Mit Eifer und System studierte er Forst- und Naturwissenschaften und war bald in der Mathematik der ausgezeichnetste. Allerdings hatte diese Umwandlung nicht vom Beginn seines Aufenthaltes in Aschaffenburg an statt gefunden. In den ersten Monaten rekognoszierte er sein Terrain und ließ sich dann und wann wohl etwas zu tief in die burschikosen Zerstreuungen ein. Den entscheidenden „Durchbruch“ des Gedankens verdankte er einem zufälligen Griff nach dem contrat sociale von J. J. Rousseau. Er hatte das Buch von dem Bibliothekar der Schlossbibliothek entliehen. Als er die erste Seite gelesen hatte, war er für immer von der neuen Wahrheit gefesselt. Von nun an war er ein anderer Mensch. Hier fand er zum ersten Mal sein eigenes besseres Selbst in der kühnen selbst im Irrtum ehrwürdigen Opposition gegen die bestehenden faulen Verhältnisse wieder. Die Lehre von der unveräußerlichen Rechts- und Machtvollkommenheit des Volkes als einziger Rechtsbasis im Staat war der Boden, auf dem die Menschheit in seinen Augen wieder zu Ehre und Achtung gelangte, auf dem es ihm der Mühe wert schien, selbst sich Ehre und Achtung zu erwerben. Alles was er früher als tot und mit Moderduft behaftet, voll Ekel und Widerwillen, zurückgestoßen hatte, gewann nunmehr im Licht der neuen ihm aufgegangenen Wahrheit Leben, Sinn und Bedeutung! Er arbeitete Tag und Nacht zunächst Rousseaus Schriften durch, so dass sich an dem Bewusstsein des Fortschritts die Lust zur Tätigkeit steigerte.


Zugleich wurde die Gymnastik nicht vergessen. Trotz seiner früheren Ausschweifungen stand ihm eine nicht gewöhnliche Kraft zu Gebote. Eines Abends fanden sich unter anderen auch fünf Tiroler in der „Kneipe“ ein. Ihr gedrungener Körperbau, ihre Gewandtheit und Muskelstärke erregte die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Man forderte sie auf, einige Proben ihrer Stärke zum Besten zu geben. Sie ließen sich bereit finden und erklärten dass sie es mit Jedem der Anwesenden aufnehmen wollten im Fingerhaken. Dies bestand darin, dass zwei am Tische einander Gegenübersitzende die Zeigefinger der rechten Hand in einander hakten und mit der linken Hand sich gegen den Tisch stemmten. Sieger war, wer den Gegner über den Tisch zog. Als von den Tirolern bereits alle anwesenden Akademiker herübergeholt waren und diese ihrer Niederlage sich doch etwas zu schämen ansingen, fiel ihnen ein, den Francke als Ehrenretter herbeizuholen. Francke kam und — zog die fünf Tiroler einen nach dem andern über den Tisch. Francke strich sich den Bart, — ging nach Hause und studierte weiter.

Hatte er früher die Frauenwelt überwiegend von ihrer verrufenen Seite kennen gelernt, hatte er in frivolem Übermut alle weibliche Tugend für besiegbar erklärt: so erschien sie ihm nunmehr in dem Spiegel seines neuen Glaubens an das Göttliche im Menschen gleichfalls als eine Wahrheit, deren Macht er unterlag, indem er sich zum ersten Male in seinem Leben leidenschaftlich wirklich verliebte. Dieses Verhältnis; wirkte sittlichend und befestigte ihn in seinem Studieneifer. Nachdem er so eine Zeit lang unermüdlich in angestrengtester Geistestätigkeit verbracht hatte, fühlte er dringend das Bedürfnis nach einem Haltpunkt, nach einer Pause, um all das mit so unendlichem Heißhunger Aufgenommene verarbeiten zu können. Eine Reise schien ihm das geeignetste Mittel. Da er aber in dem ersten Halbjahr viel Geld ausgegeben hatte, wollte der Wechsel nicht zu einer größeren Reise ausreichen. Der feste Wille wusste Aushilfe. Schulden machte Francke nicht. Daher wurden überflüssige Bücher und Kleidungsstücke verkauft bis zum Betrag von vier Louisd'or. Mit dieser Summe machte sich Francke in Begleitung seines Hundes, einer treuen Dogge, auf den Weg, um das südliche Deutschland und Oberitalien zu durchstreifen. „Ich schlief“, so erzählt er, „höchst selten in einem Hause, meist im Wald oder auf freiem Feld unter einem Baum. In Städten oder Dörfern kaufte ich mir Brod beim Bäcker, Wurst bei einem Fleischer, ging hindurch und lagerte mich mit meinem Hund an einer Quelle oder einem Bach, wo ich aß, trank und badete. Ich habe immer gern gebadet. Ich langte zu der großen Reise mit den vier Louisd'or. Als ich nach Aschaffenburg zurückkam, und von meiner Wanderung erzählte, da hieß es, »der Francke muss doch einen großen Wechsel haben, unter 500 fl. macht Keiner eine solche Reise durch Italien.“ Ich ließ sie bei der Vermutung, ohne sie gerade durch Äußerungen besonders darin zu bestärken.“

Nach einem anderthalbjährigen Aufenthalte auf der Forstakademie kehrte Francke endlich wieder für längere Zeit in seine mecklenburgische Heimat zurück. Nachdem er das betreffende Examen bestanden hatte, trat er als Forstgeometer und Forsttaxator ein. In dieser Stellung brachte er drei Jahre zu und wurde, weil er der einzige Forstgeometer war, welcher das Forstkollegium damals hatte, so ziemlich im ganzen Lande umhergeschickt. Daher war der Ort seines Aufenthaltes sehr wechselnd. Diese Beschäftigung brachte es von selbst mit sich, dass Francke bei seinen Streifzügen durch Wald und Feld seiner Neigung in und mit der Natur zu leben, sich hingeben konnte.

Die Menschen glaubte er so ziemlich kennen gelernt zu haben. Er betrachtete nunmehr die Natur, forschte nach den Gesetzen ihrer Erscheinungen. Der Baumwuchs, die Metamorphose der Pflanzen, das rinnende Wasser und die Entstehung der Quellen, der Wolkenhimmel und der meteorologische Prozess fanden an ihm nicht minder einen aufmerksamen Beobachter, wie die Lebensweise und die Triebe seiner Hunde und der wilden Tiere draußen ,im Grünen. Er wurde sich klar, dass der kluge Mensch für seine Lebensweise noch gar viel von dem dummen Vieh lernen könne. Je mehr nun Francke früher in der Unnatur des Genusses ausgeschweift hatte, desto unwiderstehlicher geriet er auf dem betretenen Wege in das andere Extrem. Er wollte ganz Naturmensch werden, Rousseaus Emile war nicht zu verkennen. Hierfür fand er in Europa kein Feld. Er wollte dieser krank machenden Kultur entfliehen und in Amerikas Urwäldern finden, was er suchte - Natur und wahre Menschenfreiheit!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches J. H. Rausse, der Reformator der Wasserheilkunde.