Iwan Karamasow und die Welt.

Autor: Morgenstern, Christian (1871-1914)
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Aller Blick auf menschliche Dinge muß zuletzt im Furchtbaren enden. Iwan Karamasow lehnt diese Welt ab; und wenn er alles begriffe, die Leiden der Kinder begreift er nicht. Wie aber — wenn all dies Leiden zuletzt ein Eigenleiden, ein Selbsterleiden Gottes ist! Wenn die ganze Menschheit und jede nur irgendwie denkbare Menschheit des Alls Gott selbst ist, das ohne Maß große schauerliche tragische Leben Gottes selbst! Nur eine Sekunde dumpfer Ahnung Seiner, als Gott selbst, in eines Menschen Hirn .. und scheint nicht alles aufgelöst — nicht in eine unsagbare Harmonie — o nein — aber in einen nie zu erfassenden, erfühlenden Abgrund von solcher Schauerlichkeit und Tiefe, daß jede Anklage, jede Klage, ja jedes Urteil verstummt. Es bleibt nur der fast unsichtbare Blitz einer fernen Erkenntnis Seiner selbst, der mich, den Menschen, zerfressen und tot niederwerfen würde, wenn er auch nur einen Grad heller, eine Sekunde länger leuchtete. Aber ich glaube, diese dumpfe Selbsterkenntnis Gottes im Menschen ist zugleich Seine einzige Selbsterkenntnis. Gott ist in der Natur gefangen, wenn man so sagen soll. Gott ringt sich aus ihr zum Sich Selbst erschauenden Geist empor. Der Mensch ist Gottes Kopf. Aber so wenig wie der Mensch, wird sich Gott je selbst erkennen (nur erahnen); denn er erkennt ja nur so weit, als er Mensch ist. Menschenleid ist zugleich Gottesleid; es scheint nur ein Wechsel des Worts und es ist doch etwas andres, ob jenes kleine Mädchen, von dem Iwan Karamasow erzählt, sich als eben dieses Mädchen die Brust mit den Fäustchen schlägt oder ob es einen Moment im Leben dieser selbstseienden, mit sich selbst kämpfenden, um sich selbst kämpfenden Unsagbarkeit ‚Gott‘ darstellt. Dieses Mädchen ist dort noch bürgerlich gesehen, göttlich gesehen wird es zum Mysterium, zu liebenswert für unsere Liebe, wie zu tief für unsere Klage.

Christian Morgenstern

Christian Morgenstern