Erstes Buch. Einleitung

Es lebt ein Volk, das sich seit den ältesten Zeiten der Weltgeschichte unter allen Nationen und allerlei Menschengeschlechtern der Erde bewegt, das, in genauer Verbindung mit denselben, sowohl unter ihnen wohnt, als auch sonstigen Umgang mit ihnen pflegt; doch von allen auf eine ganz eigene Weise Jahrhunderte lang abgesondert ist, und sich bis auf den heutigen Tag charakteristisch von denselben unterscheidet. Dieses Volk allein von allen Völkern weiß seinen Ursprung aus einer einzelnen Familie, von einem einigen Stammvater historisch zu beweisen. Söhne Abrahams nennen sie sich — Kinder Jakobs und Volk Israel heißen sie nach dem Namen dieses letzten in der denkwürdigen Dreizahl ihrer Patriarchen. Und Niemand bestreitet ihnen die Wahrheit dieser Abkunft! so fest steht die Überzeugung davon in der Überlieferung, in der Geschichte und in dem Bewusstsein der christlichen Völker sowohl, als der Bekenner des Islam. Aber auch Niemand unter allen Nationen der Welt beneidet sie um den Ruhm jener Abkunft! so sehr wussten diese Völker gerade diesen Ehrentitel Israels in ein Zeichen der Schmach, der Zurücksetzung und der Ausschließung zu verkehren. Sie, die Söhne Abrahams, die Bewahrer und Bekenner der Gesetze Moses und der Verheißungen der Propheten, tragen ihre Genealogie wie mit Blut bezeugt an ihrem Fleische, durch die Beschneidung, welche ihr Vater Isaak am achten Tage erhielt, wahrend ihr Erzvater Abraham selbst sich derselben in seinem 99ten Jahre unterzog. Als Jünger Moses lassen sie seit vier und dreißig Jahrhunderten vor aller Welt den Ausruf ertönen: „Höre Israel! der HErr, unser Gott, ist ein einiger Gott!“ Jeden Sabbath noch werden Moses und die Propheten in ihren Synagogen gehen, auf dieselbe Weise, wie es vor achtzehnhundert Jahren geschah, wie der Apostel Jakobus die damals schon uralte Gewohnheit erwähnt hat (Ap. Gesch. 15, 21). Es ist ein Volk aus dem Morgenlande. Nach Jahrhunderten, ja bereits Jahrtausenden, beweisen noch jetzt die Gesichtszüge der im Abendlande naturalisierten Israeliten ihre morgenländische Abkunft. Und diese Gesichtszüge verkündigen einerseits die Stammverwandtschaft mit dem Araber der Wüste, dem Sohne Abrahams, dem nomadischen Emir, andererseits bezeugen sie, dass Israel, der obschon tiefgebeugte dennoch ungebrochene Gegenstand einer Jahrhunderte langen Bedrückung und Misshandlung war.

Von Alters her ist es ein Volk der Fremdlingschaft gewesen. Als Fremdling zog ihr erster Vater in dem seinen Nachkommen zum Erbteil verheißenen Lande umher. Fremdlinge nennen sich die Nachkommen noch mitten im Besitz des verheißenen und eroberten Erblandes, das ihnen als Eigentum geschenkt war, und das sie, streng abgesondert von andern Völkern, bewohnen sollten. Aber in einem noch eigentlicheren Sinne kannten Abrahams Nachkommen eine Fremdlingschaft, noch lange ehe sie durch den Verlust ihres Heiligtums und ihrer Hauptstadt, ihres Vaterlandes und ihrer Fürsten, in der Verbannung die Erde durchwanderten. Lange vor Jerusalems Falle, das bis diesen Tag noch nicht wiederhergestellt ist, lieferte das Volk Israel, als es noch im Besitz von Palästina war, außer einer zahlreichen Bevölkerung, Weise und Staatsdiener an Assyrien, Babylonien und Persien: wie Daniel, Serubabel, Nehemia, Mardochai; ebenso an die Makedonier oder Griechen im späteren Ägypten Kolonisten, Kaufleute, Krieger, Gelehrte und Philosophen, an Rom römische Bürger, sowohl für die große Weltstadt selbst, als für ihre weltausgedehnten Provinzen. Und auch nachdem es später durch Jerusalems schließlichen Untergang und seine eigene Zerstreuung, unter allen Himmelsstrichen angesiedelt, bei verschiedenen Völkern Vieles gelitten, auch wohl hie und da zuweilen etwas geblüht hat: so ist es dennoch ein einiges, mit keinem andern verschmolzenes, auch mit keinem andern zu vergleichendes Volk geblieben. Dessen ungeachtet hat es überall auch etwas von dem Eigentümlichen der verschiedenen Nationen sich angeeignet, so dass neben der Einheit des israelitischen Grundtypus dennoch der Unterschied kennbar und bedeutend ist zwischen dem morgenländischen und dem abendländischen, dem spanischen, dem polnischen, dem deutschen, dem italienischen, dem englischen, dem amerikanischen, dem russischen, dem berberischen, dem türkischen, dem persischen, dem schwarzen, dem ostindischen und dem chinesischen Israeliten.

Aber gleichwie der Hauptzweck im Gottesdienst, in Geschichte und Bestimmung dieses Volkes die Einheit ist: so ist und bleibt es auch durch alle Zeiten hin, unter allen Veränderungen durch Klimate, Umgang, Zeiten und Umstände bis auf diesen Tag in einem abgesonderten Kreise das, was die ganze Menschheit im Großen und Ganzen ist: Ein Volk, Eine Familie, Ein Same.


An dieses Volk knüpfen ihren sehr verschiedenen Ursprung zwei mächtige Religionen an: Das Evangelium der Wahrheit und die Dichtung des Korans. Die Bekenner beider ehren gleicherweise die Väter des Volkes Israel, als die Väter auch ihres Glaubens; die des Islam nehmen in bedeutender Anzahl Israels Erzvater Abraham auch als ihren Stammherrn an; beide verehren Israels Propheten als heilige Gottesmänner, die Stadt Jerusalem als eine heilige Stadt. Und doch gereicht dieses hohe Altertum, diese Geschichte, so voll von erschütternden und auf eine ganze Zukunft einflussreichen Begebenheiten, dem Israeliten selbst, weder in seiner östlichen noch in seiner westlichen Verbannung, zum Vorteil. Aus dem von Gott seinem alten Volke gegebenen Ehrennamen haben, um der Sünde des Volkes willen, die Heiden, die Mohamedaner und die Namenchristen einen Spott- und Scheltnamen gemacht: aus dem Namen Israelite einen Spottnamen, aus dem Namen Jude, das heißt Sohn Judas, einen Scheltnamen.

Wie sehr verdient dies Volk Gegenstand der Ehrfurcht und des Nachdenkens zu sein, sowohl für den Israeliten selbst, als für den Christen, dies Volk, dessen Geschichte von den 6.000 Jahren der Geschichte unserer Menschheit bereits 4.000 durchlaufen, und deren neuester zu wenig bekannter Teil schon ein Alter von 1.800 Jahren erreicht hat! Welch eine Geschichte, deren Gegenstand ein auf Erden, so zu sagen, zugleich gestorbenes und zugleich unsterbliches Volk ist! — ein Volk, das vor den Augen der Völker beinahe aller Teile der Erde in seinem Wesen erhalten worden ist, indem es die verschiedensten Zeiten der Menschheit miterlebt und überlebt hat! — ein Volk, dessen geweihte Geschichte und dessen heilige Schriften in den Händen Aller sind! Welch ein Gegenstand wichtiger und vielseitiger Studien! Einzelne als acht erwiesene Abkömmlinge und Sprösslinge griechischen oder römischen Ursprungs waren allein schon, als lebende Denkmale des hohen Altertums, ja als bloße antiquarische Merkwürdigkeiten, wichtige und willkommene Erscheinungen; — und von Israel, von dem Israel, dessen geweihte und ungeweihte Urkunden von so beispiellosem Altertum, von solcher Sicherheit und solchem Zusammenhang sind, besteht nicht bloß hier und da ein kleines verborgenes Überbleibsel, sondern über die ganze Welt hin das anerkannt identische Geschlecht.

Welch ein Gegenstand der Ehrfurcht, des Nachdenkens und des Studiums besonders für den Christen, der in diesem Volk dem unwissenden oder unwilligen Zeugen alles dessen huldigt, was Gott von Anbeginn an den Menschen und Zeitaltern von Seinem Christus bekannt machen ließ, — der in diesem Volke das Fleisch und Blut erkennt, woraus Christus, in sofern Er des Menschensohn war, entsprossen ist, — und der in demselben das Zeugnis findet von der Wahrheit der bereits erfüllten sowohl, als der in ihrer ganzen Fülle und Herrlichkeit noch zu erfüllenden Weissagungen, — ja der in dem bloßen Dasein dieses Volkes den überall gegenwärtigen Beweis antrifft für die historische Wirklichkeit aller der großen Tatsachen, worauf das Christentum ruht und welche das Übermenschliche seines Wesens begründen. In dem Fortbestehen der unter allen Nationen zerstreuten Juden als Volk offenbart sich die Gewissheit und Unveränderlichkeit der einst dem Abraham, Isaak und Jakob gegebenen Verheißungen einer unzählbaren und unvergänglichen Nachkommenschaft, in seiner Beschneidung, welche sich so viele Zeitalter hindurch ununterbrochen erhalten hat, die Wirklichkeit dieser von Gott einst dem Abraham bis in die fernste Nachkommenschaft gegebenen Einsetzung, — in seiner fortwährenden Absonderung, mitten unter allen Nationen, die einmal von Gott gewollte und eingesetzte Scheidung zwischen Israel und den übrigen Völkern der Erde, welche letztere doch auch einmal in dem Samen Abrahams gesegnet werden sollten und sollen, — in ihrer fortdauernden Beobachtung des Gesetzes Mosis, welcher Art sie auch sei, die historische Wirklichkeit seiner göttlichen Abkunft, — in ihrer Gottesverehrung, ihren Gebrauchen, ihren Festen und Fasttagen, sei es am 10. Tisri oder am9. Abib, eben so viele Gedenkzeichen der göttlich-geschehenen Offenbarung des alten Bundes, — in ihrer Jahrhunderte lang festgehaltenen Erwartung eines Messias die Wirklichkeit der ihren Vätern gegebenen und von Geschlecht zu Geschlecht wiederholten Verheißung, welche in die ganze heilige Schrift sowohl, als in das ganze Bestehen des israelitischen Volkes hinein verwoben ist, — und endlich in ihrer Zerstreuung, in ihrem bereits achtzehnhundertjährigen Elend, ohne König, ohne Tempel, ohne Opfer, ohne Vaterland, aber auch ohne Theraphim und Abgötter, die Wahrheit ihrer eigenen Weissagungen, welche in Dem erfüllt sind, welchen sie erwarteten und verwarfen, welchen sie durchstachen, und welchem sie einst zu Fuße fallen sollen.

Welch ein Volk, das, entblößt von Allem was allgemein notwendige Bedingung zum Volksbestehen ist, noch ein Volk bleiben, und in diesem Zustand die mächtigsten Reiche und Dynastien überleben konnte! — das in seiner tiefsten Erniedrigung und Misshandlung, unter der Hand, ja unter den Füßen der Völker, sich für dieselben in gesellschaftlicher Beziehung oft unentbehrlich machen konnte! — Sollte nicht der Ungläubigste erkennen müssen, dass hier etwas Auffallendes, etwas Wundervolles vor seinem Geiste liegt? Der Christ erkennt anbetend in der Unvergänglichkeit des tiefst erniedrigten und verwerflichsten Volks der Welt den Finger des Gottes, dessen Wort allein Bestand hält, während es sonst nach allen uns bekannten Gesetzen und Wegen, nach dem Laufe und der Natur der Dinge unmöglich wäre. Dasjenige also, was für den Ungläubigen ein unauflösliches Rätsel bleibt, ist für den, der Gott und seinem Worte glaubt, eine Alles erklärende Wahrheit, eine sich von allen Seiten erfüllende Harmonie. Solch eine göttliche Harmonie ist ihm die Erscheinung von Abrahams Jahrhunderte durchlebender Nachkommenschaft in Verbindung mit dem Ursprung derselben, der nicht in der Kraft der gewöhnlichen Naturgesetze, sondern in der Verheißung liegt. Solch eine göttliche Harmonie ist ihm die Geburt eines Erlösers von der Jungfrau, mitten unter einem Volke, das selbst, zahllos wie die Sterne des Himmels, einem dem Leibe nach bereits erstorbenen Ehepaar entsprossen ist.

Aber so wie dieses Volk allein die genaueste und meist abgesonderte Geschichte hat von seiner Entstehung aus einem einzigen Geschlecht, von einem einzigen Stammvater, und von diesem wieder hinauf bis zum ersten Menschen: — so ist es auch das einzige Volk, das, seit ununterbrochenen Zeitaltern, eine sichere und bestimmte Erwartung von seiner Zukunft hat. Es behielt diese Zukunft stets im Auge, durch alle Zeiten seiner langen Zerstreuung hindurch. Es gründet die Erwartung einer Wiederherstellung und Herrlichkeit auf dieselben prophetischen Schriften, die auch seine gegenwärtige Verbannung und seinen Jammer beschreiben. Und diese prophetischen Schriften — sie sind es wieder, die auch das Leiden und die darauf folgende Herrlichkeit seines Messias verkündigen, und die an seine durch Leiden erworbene Herrlichkeit einen Segen anknüpfen, der sich nicht allein in Israels geistiger und nationaler Wiederherstellung kund tun wird, sondern auch in einer Ausbreitung des Friedens über alle Völker und des Lichts über die ganze Erde, wenn das alte Gottesvolk unter dem Zepter Christi, des Sohnes Davids und Gottes, in das Erbteil seiner Väter zurückkehren, wieder aufleben und für fernere Zeitalter wieder blühen wird.

Das Evangelium bestätigt diese Weissagungen, es unterschreibt und versiegelt diese Verheißungen. Der Apostel Paulus hat in dem unvergleichlichen elften Kapitel des Briefes an die Römer alle prophetischen Strahlen des alten Testaments in den Brennpunkt des Wortes zusammengefasst: „Ihre Verwerfung war die Versöhnung der Welt, ihre Wiederaufnahme wird ihr das Leben aus den Toten sein. — Wenn die Fülle der Heiden eingegangen ist, so wird das ganze Israel selig werden.“ In diesen wenigen Worten liegt der Schlüssel für die ganze Zukunft der Völker, sowie hinwiederum alle Weissagungen des alten und neuen Testaments durchgehends die ausführlichen Erklärungen dieser Worte des Apostels sind. Sie enthalten den Kern der zukünftigen Geschichte Israels und unsrer ganzen Erde.

Die Geschichte eines Volkes, das eine solche Vergangenheit hinter sich und eine solche Jahrhunderte lang vorher verkündete und beleuchtete Zukunft vor sich hat, muss natürlicher Weise für eine jede ihrer Einzelheiten, selbst in ihren dunkelsten Zeiträumen, Interesse erwecken. Wohl ist die Geschichte dieses Volkes sowohl, als das Volk selbst, seit dem Eintritt des Evangeliums in die Welt, eine überallhin zerstreute. Doch auch in dieser Zerstreuung ist Einheit. Es ist eine sich zu allen Zeiten und fast überall gleichbleibende Geschichte von Jammer und Elend. Es ist die Geschichte eines Volkes der Schmerzen um seiner Sünde willen. Doch gerade dieser Zug macht sie ganz besonders wichtig für den Christen, der in dem Mann der Schmerzen ohne Sünde seine Erlösung, sein Heil und die feste Hoffnung einer einst sich über die ganze Erde verbreitenden Herrlichkeit besitzt.

Aber musste zu allen Zeiten die Geschichte der Juden, sowohl vor als nach ihrer Zerstreuung, für den Christen von großer Wichtigkeit sein, wie viel mehr in unsern Tagen, wo die so sichtbar zusammentreffenden Umstände, oder lieber die zusammenhängenden Zeichen der Zeit, in keinem Verhältnis stehen zu dem, was in früheren Tagen geschah.

Die Zeit, in welcher wir leben, ist eine beispiellos vielbewegte, an großen Folgen schwangere Zeit, und wird als solche, von keinerlei bedeutender Richtung des menschlichen Geistes verkannt. Die wirklich in aller Herzen lebende Frage forscht nach dem Endziel, nach der Auflösung aller der sich täglich um uns her vervielfältigenden oder ankündigenden Erschütterungen, Umwälzungen, Verwicklungen und Vorbereitungen im Gebiet der Kirche und der Welt, des Glaubens, des Aber- und Unglaubens, der Sittlichkeit und Wissenschaft, des gesellschaftlichen Lebens und des Strebens jedes Einzelnen. Das letzte Ziel, worauf Alles hinauskommen muss, weiß allein der Christ, der in Einfalt des Herzens dem Worte der Verheißung seines HErrn und Erlösers vertraut, dasselbe untersucht und bewahrt. Er, der gesagt hat, dass Er viel leiden müsse von seinem Volke und von den Heiden, und dass Er gekreuzigt werden müsse und am dritten Tage wieder auferstehen — und es geschah also! — Derselbe hat auch, sowohl vor als nach seinem Tod und seiner Auferstehung, mit seinem eigenen Munde, wie durch den Mund seiner Apostel und Propheten verkündigt, dass Er wieder kommen werde auf den Wolken des Himmels und dass mit dieser Wiederkunft die Erfüllung alles dessen verbunden sei, was von Ihm, dem Gesalbten Israels, dem allen Völkern Geoffenbarten geschrieben steht, und durch die Propheten und Psalmisten den israelitischen Vätern und außerwählten Gläubigen bezeugt und verkündet worden ist: „Er wird als König herrschen über das Haus Jakobs. „Gott der HErr wird Ihm den Stuhl seines Vaters David geben. „Er wird regieren von einem Meeresende zum andern, und von den Flüssen bis an die Enden der Erde. Unter seinem Zepter müssen „alle zwölf Stamme Israels vereinigt werden. Alle Völker der Erde „werden Teil haben an ihrem Frieden, ihrer Herrlichkeit, ihrer Unterwerfung unter dieses Zepter der Gerechtigkeit, Wahrheit und „Liebe. Die ganze Erde wird seiner Erkenntnis voll und mit seinem Licht erleuchtet werden. Die Gottlosen, so wie alle gottlosen und abgöttischen Mächte werden ausgerottet und der Fürst dieser Welt ausgeworfen werden. Jerusalem wird sich in Herrlichkeit aus seiner Erniedrigung wieder aufrichten, sowie die Toten, die an den HErrn „glauben, aus ihren Gräbern erstehen." Das letzte Buch der Bibel zieht dies Alles zusammen in seine letzten Worte: „Ich Jesus — die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern — siehe „Ich komme bald!"

Höchst merkwürdig, unter den vielen und mannichfachen Zeichen, ist gewiss auch diese Erscheinung unserer Zeit, dass in unsern Tagen viel mehr als je vorher die Herzen zu den prophetischen Büchern des alten und neuen Testaments hingezogen werden. Nie richtete sich so allgemein die Aufmerksamkeit der Christen aller Orten auf das Studium der noch unerfüllten Weissagungen. Dieses Interesse, dieses Forschen macht in der Geschichte der Kirche das Charakteristische einer ganz neuen Epoche aus, deren Anfang man ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts stellen kann, und deren stets zunehmende Entwicklung man in unserem neunzehnten besonders bemerkt. Sie fällt also mit derjenigen zusammen, welche in der Weltgeschichte die Epoche der Umwälzungen genannt wird. Aber nicht weniger merkwürdig ist das Verhältnis derselben zur christlichen Kirche. Während der Unglaube die Grundpfeiler des Papsttums erschüttert; während er in den verfeinerten Formen des Philosophismus, Rationalismus und Mythizismus die protestantischen Kirchen untergräbt, erhebt sich auf einmal ein neues Panier, um dem Glauben, dem Eifer und dem Interesse des Christen einen Vereinigungspunkt zu bieten. Von allen Seiten lassen sich Stimmen hören, welche zu einer neuen Würdigung, einer neuen und tieferen Untersuchung der Offenbarung Johannis aufrufen! Nicht länger genügen bloß vergeistigende Auslegungen der alten Propheten Israels, welche in Christus teils bereits erfüllt, teils noch zu erfüllen sind. Diese Stimmen fordern auf zu einer zugleich wesentlicheren, als auch einfältigeren Auffassung der unfehlbaren Gottesworte, die nicht allein von einer individuellen Bekehrung und himmlischen Glückseligkeit, sondern von einer wirklichen Herrlichkeit und Herrschaft Christi als König über Israel und über alle Völker zeugen und große Ereignisse beschreiben, welche dieses Königreich vorbereiten, darstellen und bezeichnen werden.

Von einem solchen Wiederaufleben, oder lieber von einer solchen vorher nie gekannten Art und Weise der Aufmunterung zur Untersuchung des prophetischen Wortes, in Hinsicht auf die Zukunft und Bestimmung dieser Erde, war wohl ein erhöhtes, ganz neues und wichtiges Interesse für das Schicksal, die Geschichte und Erwartungen Israels unzertrennlich. Dieses Interesse wird jedoch ein umso merkwürdigeres Zeichen der Zeit, da es sich gleichzeitig mit einer davon ganz unabhängigen, ganz neuen Bewegung zeigt, welche mitten unter den zerstreuten Israeliten selbst vorgeht. Das, was etwa wieder seit dem Anfange der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und fortwährend und zunehmend in diesem unserm 19. unter fast allen Juden der Welt, und namentlich in Europa, wahrgenommen wird, ist, wenigstens in seiner Allgemeinheit, eine ganz neue Erscheinung in der 1.800jährigen Geschichte seiner Zerstreuung. In religiöser und politischer Hinsicht ist ihre Lage in der letzten Zeit auf einmal eine ganz andere geworden. Der Talmud, der wie eine chinesische Mauer fast allen christlichen Einfluss auf das Judentum unmöglich machte, hat nun an vielen Orten eine Bresche erhalten. Das Verlangen nach einer andern, gemilderten, verbesserten und vernünftigeren Gottesverehrung führt zwar Viele aus Israel zu einer gänzlichen Verwerfung der väterlichen Sitten und Überlieferungen; aber auch Manche unter ihnen zu einer gläubigen Untersuchung und Annahme des Evangeliums. Groß ist die Zahl der Bekehrungen in Israel zu dem Namen Jesu Christi unter allerlei Ständen, besonders in Deutschland; aber weit zahlreicher ohne Zweifel (und auch dies ist von keiner geringen Bedeutung für die Zukunft) sind die vielfältigen Berührungen, in mehr als bloß materieller Hinsicht, zwischen den Juden und den Völkern, in deren Mitte sie wohnen. Die hierdurch entstandene Bewegung ist noch keine Auferstehung aus den Gräbern, aber doch gewiss ein Anfang der Bewegung der Gebeine. (Ezechiel 37, 7.) Ein neues Leben offenbart sich unter den Juden in unserer Zeit in allen Fächern der Wissenschaft und Kunst. Lehrstühle in den Fächern der Philosophie, der Philologie, Astronomie und Jurisprudenz werden in Deutschland von Söhnen des lang verworfenen Israels mit Ruhm bekleidet. Wie ihre Väter einst vor der Zerteilung, die durch den Fall von Jerusalems Stadt und Tempel bis in den innersten Nerv des jüdischen Volkes hervorgebracht worden ist, tragen sie seit den letzten 50 Jahren die Waffen wieder mit Ehren. Dichtung und Gesang wird durch Söhne Israels auch abendländischen Saiten entlockt *). Unter den Fürsten der Musik werden in unserer Zeit israelitische Namen hoch gefeiert. Die Israeliten bieten den Ländern, darin sie wohnen, nicht mehr bloß Gold und materielle Schätze an, sondern sie stellen denselben auch Talente und Kräfte des Denkens und der Gelehrsamkeit zu Dienst. Sie verlangen dagegen Befreiung von den alten Banden, die sie in ihrem Aufblühen hinderten, und Gleichstellung mit den übrigen Staatsgliedern in Deutschland, dem Lande ihrer tiefsten Erniedrigung. Diese Gleichstellung haben sie in England erhalten, von wo sie im 13. Jahrhundert so schmählich ausgestoßen, und wo sie seit Cromwell und Karl II. bloß wieder geduldet wurden.

*) Unter diesen abendländischen Meistersängern glänzt der Verfasser selbst als Stern erster Größe. U. d. Übers.

In diesem Allen liegt freilich noch nichts — fern sei dieser Gedanke! — was für den Christen die Verheißung der nationalen Wiederherstellung des Volkes Israel verwirklichte, in gewisser Hinsicht wohl eher das Gegenteil, und dennoch ist es eine Ankündigung, vielleicht selbst eine Vorbereitung von ganz andern, noch zukünftigen Lebensbewegungen.

Aber in der Bewegung von Israels dürren Gebeinen finden die Völker der Christenheit, aus mehr als einer Ursache, eine vorher nie gekannte Wichtigkeit; besonders diejenigen Christen, deren Auge auf die Erfüllung der Weissagungen und auf das Wiederkommen ihres HErrn gerichtet ist. Betrachtete der Katholizismus die Juden Jahrhunderte lang als eine Volksmenge, die bestimmt sei am Ende der Zeit in den Schoß der Mutterkirche aufgenommen zu werden; — hatte der Protestantismus im Ganzen, selbst bei dieser oder jener Erwartung für das alte Volk Gottes, meist eine kalte unsichere Stellung: — die jetzige evangelische Erweckung, die sich in der Beherzigung und Untersuchung der Weissagungen kund tut und darin ihren erneuernden und belebenden Mittelpunkt hat, sieht in dem zerstreuten Israel ein Volk, das, als solches, zu dem HErrn seinem Könige und Erlöser gebracht werden, und als Volk unter diesem Könige das Land seiner Väter aufs neue erwerben und bewohnen soll, das nicht bloß in die Kirche oder die Kirchen der Völker aufgenommen werden, sondern selbst der Kern und das Zentrum von dem Königreiche Gottes und seines Christus auf Erden sein soll. Betrachtete die Christenheit die Juden Jahrhunderte lang, ja fast von den frühesten Zeiten an, nach den Lebzeiten der Apostel, ausschließend als Verräter und Mörder des HErrn, als enterbte Kinder um ihrer Sünde willen, und seit der Annahme der Heiden nicht mehr als das Volk Gottes: so fühlen die Christen, welche den Werth und das Wesen der noch unerfüllten Weissagungen kennen gelernt haben, dass ein ganz anderes Verhältnis zwischen Israel und seinem alten Los, seinem gegenwärtigen Zustande und seiner zukünftigen Bestimmung eingetreten ist. Während sein Auge sich auf die Wolken des Himmels richtet, in welchen der HErr kommen wird, betet der Christ, ebenso wie Paulus, für Israel als für eine Nation, und um das für diese Nation anbrechende Heil.

Und dies Interesse für das Volk teilt, durch einen merkwürdigen Zusammenfluss von Umständen, ganz besonders die Hauptstadt seiner alten Herrlichkeit, jenes Jerusalem, welches, wie Israels Volk, zugleich gestorben und unsterblich ist. Die Zeit, in welcher wir leben, zeichnet sich durch einen ganz neuen Zug aus, welchen das christliche Abendland zu der königlichen Witwenstadt des Morgens fühlt. Es hat ihr gewiss seit ihrer 17. und letzten Verwüstung, seit ihrer 1.800jährigen Zertretung durch die Heiden, nie an Besuchern gefehlt. Wallfahrende Pilger aus dreierlei Religionen hielten ihre Überreste heilig und teuer. Aber die Geschichte dieser Besuche wird eine ganz andere von dem Augenblick an, da Chateaubriand (1806) den seinigen vollbracht und beschrieben hat, und nach ihm zahlreiche Reisende wie: Robinson, Keith, Schubert, Laborde u. s. w., welche, die Bibel in der Hand und im Herzen, den Grundriss aufnahmen, und mit Schätzen neuer Beobachtungen und Erfahrungen für Religion und Wissenschaft heimkehrten. Wie die Gebeine des zerstreuten Israel, ebenso reden die Mauern und Ruinen Jerusalems zu den Herzen der Christen.

In einer solchen Zeit, ist die Geschichte der Schicksale Israels in allerlei Zeiten und unter allerlei Völkern nicht allein Gegenstand eines mit großem Interesse verbundenen Studiums, sondern Bedürfnis für das Herz. Jedoch eine solche Geschichte vollständig zu geben, mag für den Augenblick eine Unmöglichkeit heißen. Kaum hat man angefangen, Materialien über diese Jahrhunderte lange Zerstreuung zu sammeln, welche Israel mit allen Völkern der Erde in Verkehr und in die innigste Verbindung mit den gesellschaftlichen Einrichtungen und ihrem gesellschaftlichen Zustande gebracht hat. Die Geschichtsschreiber pflegen mehr aus dem Zustand und Schicksal der überwindenden als der überwundenen Völker zu machen; und wie selten war es, dass sich in früheren Jahrhunderten jemand zu dem herumziehenden Israel hingezogen fühlte, oder dass man irgend einen Begriff hatte von einer Geschichte der Juden nach den Zeiten, welche von der Bibel und Josephus beschrieben sind. Wiederum ist es ein Zeichen der jetzigen Zeit, dass Juden und Christen, von sehr verschiedenen Standpunkten ausgehend, sich begürtet haben zu einer solchen Arbeit.

Die hier unternommene Übersicht hat nur zum Zweck, die Geschichte in ihren großen Umrissen der Betrachtung darzubieten. Aber auch so sucht sie ihr Augenmerk auf einen bestimmten Punkt gerichtet zu halten, d. h. sie sucht Israel vorzuführen in seiner Beziehung zu den verschiedenen Völkern, durch deren Mitte seine Geschichte von Anbeginn an läuft. Sie muss uns den Weg und den Plan Gottes anzeigen in dem Verhalten, welches zwischen Israel und den nicht israelitischen Völkern in so verschiedenen Zeiten und auf so verschiedene Weise statt hatte. So wollen wir zuerst Israel betrachten in seiner Beziehung zu Ägypten, und dann zu den verschiedenen Völkern und Stämmen, mit welchen es in Asien in Berührung kam, und mit denen es entweder in Feindschaft, oder in nachbarlichem Verkehr, wohl auch in Blutsverwandtschaft und hernach besonders im Verhältnis) der Fremdlingschaft stand, wie zu Midian, Edom, Moab, Ammon, ferner zu den Philistern, Syrern, Assyrern, sodann zu den vier großen Weltmonarchien: Babylon, Persien, Makedonien und Rom. Wir gehen ferner Israel nach in seinem Verhalten bei dem Eintritt des Evangeliums in der Erfüllung der Zeiten; dann nach dem Fall Jerusalems in seiner Zerstreuung, sowohl im Osten als im Westen. Wir betrachten es in Beziehung auf das weströmische und griechische Kaiserreich; in Beziehung zu den Parthern und Persern, den Ost- und West-Goten, in Beziehung zu Arabien und der Entstehung des Islam; in Beziehung zu den sarazenischen Reichen, zu den Franken, zu den Deutschen, Normännern, Angelsachsen, Polen und Slawen; in Beziehung ganz besonders zu der spanischen Halbinsel; und folgen ihm von dort nach den Niederlanden, England, Italien und Amerika, — dann sehen wir es endlich in seinem Verhalten zu der Zeit, darin wir leben und zu seiner eigenen Zukunft.

Wir werden Israel zu allen Zeiten ausgezeichnet finden als das Volk großer Vorrechte, großer Übertretungen, großen Elends und großer Verheißungen. Aber was dabei entschieden in den Vordergrund zu stehen kommt, ist das höchst merkwürdige, von Gott angeordnete Verhältnis zwischen Israel und den Völkern außer Israel: von den ältesten Zeiten her einander entgegengestellt, durch eine Scheidewand getrennt und feindlich gegen einander gesinnt, fühlen sie dennoch zu allen Zeiten den tiefen Zug eines gegenseitigen Bedürfnisses, wie die Geschichte unabweisbar zeigt. Ein scharfsinniger Schriftsteller Deutschlands (Herder) hat diese Beziehung sinnbildlich mit der Umarmung Esaus und Jakobs (1 Mos. 33, 4) verglichen: „Sie sind mit einander in Feindschaft und können einander nicht loslassen." Und so finden wir es auch in der Geschichte. In allerlei gesellschaftlichen Beziehungen war Jahrhunderte lang der Israelite dem Heiden verhasst, aber unentbehrlich; — desgleichen bestand Israel, so abgesondert es auch von den Nationen war, dennoch nie selbstständig und unabhängig von denselben. Es ist dieses eine Folge und zugleich ein Abbild der großen Anordnung Gottes, nach welcher die Völker von Israel das Evangelium empfangen mussten, hingegen auch Israel nicht zu dem vollkommenen Erbe der Gottesverheißungen gelangen konnte, ohne die vorangegangene Berufung und den gleichzeitigen vollen Eingang der Heiden. Von Natur ist eine Kluft, eine Scheidewand zwischen beiden; doch, versöhnet mit einander durch das Kreuz Christi, werden sie einst beide unter Seinem Zepter ihre gegenseitige Glückseligkeit vervollkommnen; mit einander auf ewig vereinigt, doch in Eins verschmolzen — nimmermehr.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Israel und die Völker