Die isländische Dichtung der Neuzeit.

Jetzt erfuhr man mit Staunen, dass im 19. Jahrhundert eine neue klassische Periode der isländischen Literatur angebrochen war. Die entzückende, frische Bauergeschichte „Jüngling und Mädchen" von Jón pórdarson Thoroddsen erlebte in der Übersetzung von Pöstion sogar vier Auflagen (Leipzig, Reclam), Küchler verdeutschte zwei Bände Novellen von Gestur Pálsson („Drei Novellen vom Polarkreis", „Grausame Geschicke") und vier Erzählungen von Jónas Jónasson („Lebenslügen", Reclam). Das erste isländische Drama, "Schwert und Krummstab" von Indri?i Einarsson, wurde übertragen (von Küchler, Berlin 1900) und zeigte, dass sich auch auf diesem Gebiete verheißungsvolle Keime regten. Die Hauptstärke aber der neuisländischen Dichtung beruht in der Lyrik; sie hat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einen solchen Aufschwung genommen und steht noch heute in so herrlicher Blüte, dass sie verdient, auch im Auslande gekannt zu werden (M. Lehmann-Filhés, Proben isländischer Lyrik, Berlin 1894; Pöstion, Eislandblüten, Leipzig 1905). Ein wahrhaft erquickender, reiner Hauch geht von diesen Gedichten aus. Die Dichter werden nicht müde, die Heimat und ihre Bewohner zu verherrlichen, uns die lachenden Wiesen im Sommer, die gegen den blauen Himmel sich abhebenden Schneeberge, die Schrecken des Winters und die unheimliche Macht des Erdfeuers zu schildern. Das ganze Leben des Isländers, seine Beschäftigungen, Freuden und Leiden gehen an uns vorüber. Am eigenartigsten berühren uns die Totenklagen, die schon die alte klassische Zeit kannte, und die schon in dem tief empfundenen, ergreifenden Gedichte des Egill Skallagrinisson ,,Verlust der Söhne" ihren Höhepunkt erreichte. Eine Gesamtübersicht über die neuere isländische Literatur bot endlich Pöstions Monumentalwerk „Isländische Dichter der Neuzeit in Charakteristiken und übersetzten Proben ihrer Dichtung" (Leipzig 1897), ein Werk, dem nicht einmal Island selbst etwas Ähnliches an die Seite stellen kann.