Vorrede

Wer sich einigermassen mit dem Leben und Weben der Volkssage vertraut gemacht hat, der wird von vornherein erwarten, dass in Bezug auf sie in Island noch reiche Schätze zu heben seien. Mehr noch als anderwärts zieht dort eine glänzende und vielgefeierte Vorzeit, von den beengten und beschränkten Zuständen der Gegenwart grell abstechend, den Blick des Volkes auf sich, und nur allzu tief wurzelt in den Herzen der überwiegenden Mehrzahl Isländischer Männer die trübe Überzeugung, dass vordem Alles weit besser und herrlicher gewesen sei im Lande als es jetzt sei oder jemalen wider werden könne. Dabei hat nicht nur die äussere Geschichte der Insel in ununterbrochenem Zusammenhange sich entwickelt ohne jemals einen unvermittelten Sprung zu thun, sondern auch die Sprache des Landes ist von der ältesten Zeit ab bis in die Gegenwart herunter in der Hauptsache unverändert geblieben; noch immer liest demzufolge der Isländische Bauer die ältesten Schriftwerke welche seine Heimat aufzuweisen hat ganz ebenso geläufig wie diejenigen welche der heutige Tag bringt, und erhält sich damit Kenntniss und Verständniss der Geschichte und der Alterthümer seines Landes in einem Maasse welches man anderwärts vergebens suchen würde: Die historische Richtung, welche unter solchen Umständen dem Volksgeiste angewiesen ist, schafft nothwendig für die mündliche und sagenmässige Überlieferung nicht minder als für die Geschichtschreibung Lust und feste Anknüpfungspunkte, während der geringe Umfang einer Litteratur, die schon aus sprachlichen Gründen auf eine Bevölkerung von nur 50 – 60.000 Seelen sich beschränkt sieht, die Bedeutung der von Mund zu Mund gehenden Tradition noch erheblich steigert, und die langen Winterabende den wohl gebildeten und geistig höchst regsamen Leuten zumal bei der geringen Entwicklung der industriellen Betriebszweige zum Erzählen und Hören ebensowohl als zum Lesen reichlich Zeit gewähren. Die dünne Bevölkerung der Insel und der Mangel nahezu aller grösseren Staatsbegebenheiten auf derselben lassen überdiess deren geschichtliche Überlieferungen weit enger als diess anderwärts der Fall zu sein pflegt an locale oder selbst häusliche Vorkommnisse, an bestimmte einzelne hervorragende Persönlichkeiten oder Geschlechter sich binden; welches Gewicht aber gerade diesem Punkte zukommt, wird Derjenige wohl zu würdigen wissen, der die Neigung der Volkssage zum Individualisiren und Dramatisiren aller und jeder Vorgänge kennt, und zugleich die hohe Bedeutung nicht übersieht, welche gerade der Familientradition in Bezug auf dieselbe zukommt. – Ist hiernach durch das Zusammentreffen einer Reihe günstiger Momente für die Reichhaltigkeit der Isländischen Volkssage eine gewisse Gewähr geboten, so lässt sich ziemlich Dasselbe in Bezug auf deren Alterthümlichkeit und Selbstständigkeit behaupten. Die Abgeschiedenheit der Insel von allem Weltverkehre, die ziemlich unvermischte Nationalität ihrer Bewohner, endlich auch die Gleichmässigkeit der Bildung und der Lebensweise, welche mit geringen Ausnamen für Geistliche und Weltliche, für Beamte und Bauern wesentlich dieselbe ist, hat Island vor dem massenhaften Eindringen fremder Einflüsse auf die Dauer bewahrt, und eben damit auch seine Volkssage rein und unverfälscht erhalten müssen. Günstiger als in irgend einem anderen Lande Germanischer Bevölkerung liegen in dieser Beziehung die Verhältnisse auf Island, und von dorther darf demnach immerhin eine sehr erhebliche Bereicherung des gemeinsamen Sagenschatzes erhofft werden.

Inzwischen ist bisher für die Veröffentlichung der Isländischen Volkssagen nur Weniges geschehen. Die königliche Gesellschaft für Nordische Alterthumskunde in Kopenhagen hat zwar bereits im Jahre 1846 einen Aufruf an die Isländer erlassen, in welchem sie um Mittheilung nicht nur von Handschriften, Urkunden und Ortsbeschreibungen, sondern auch von Volkssagen, Volksliedern, Beschwörungsformeln, Aberglauben u. dgl. bittet, 1) und ihre Rechenschaftsberichte zeigen, dass mancherlei derartige Zusendungen in der That bei derselben eingelaufen sind. Die Isländische gelehrte Gesellschaft (Bókmentafèlag) hat unter der Leitung ihrer dermaligen trefflichen Vorstände ebenfalls diesem Zweige der Volkskunde ihr Augenmerk zugewandt; aber von dem hier wie dort in dieser Richtung Gesammelten ist dem Publikum bis jetzt noch Nichts zugänglich gemacht worden. Alles was bisher veröffentlicht wurde beschränkt sich vielmehr auf einzelne in verschiedenen Werken zerstreute gelegentliche Notizen, und auf eine einzige, wenig umfassende und überdiess in Deutschland nur sehr Wenigen bekannte Sammlung, welche zwei Isländische Männer, Sèra Magnús Grímsson und Jón Árnason, vor einigen Jahren auf Island selbst herausgegeben haben. 2 )


Unter solchen Umständen glaubte ich nichts Überflüssiges zu thun, wenn ich während eines halbjährigen Aufenthaltes auf Island im Sommer des vorigen Jahres soweit diess meine sonstigen Reisezwecke gestatteten auch die Volkssagen der Insel im Auge behielt. Der Natur der Sache nach konnte dabei auch nur annähernde Vollständigkeit des Materiales in alle Weite nicht erstrebt werden; dagegen schien der Versuch immerhin nicht hoffnungslos, einen Überblick über die vorkommenden Sagengattungen und ein paar mehr oder minder charakteristische Beispiele für jede derselben sich zu verschaffen, und es liess sich zugleich erwarten, dass doch wohl die eine oder andere für sich allein schon interessante Erzählung dem Sammler in die Hand laufen werde. Ganz leicht war es allerdings trotz dieser Beschränkung und ganz abgesehen von der Kürze der verfügbaren Zeit nicht, eine genügende Zahl und Auswahl von Sagen zusammenzubringen. Ganz wie bei uns in Deutschland ist auch auf Island der Glauben an einen guten Theil der Volkssagen, zumal an die mythischen, bereits verschwunden; höchstens ein vereinzeltes altes Weib, oder irgend ein Sonderling, wie etwa der in den letzten Jahren verstorbene Bauer Ólafr Sveinsson zu Purkey, glaubt noch an Elbe, Riesen oder andere Unholde. Bezüglich anderer, z. B. der Gespenster– oder Zaubersagen, herrscht zwar, wider wie bei uns, bei beschränkteren oder minder gebildeten Leuten wenigstens noch einiger Glauben; aber die Gläubigen selber schämen sich ihres Glaubens, und mögen diesen kaum sich selbst, geschweige denn Anderen eingestehen. Viele wissen hiernach bereits Nichts mehr von den alten Überlieferungen; Mehrere noch verachten diese als Aberglauben und Altweibergeschwätz, und fürchten sich und ihr Volk lächerlich zu machen, wenn sie dem Fremden von solchen erzählen; mancher, zumal ältere, Pfarrer verfolgt dieselben auch wohl noch mit gründlichem Hasse, und fürchtet wenn nicht für das Seelenheil, so doch für den christlichen Ruf seiner Gemeinde, sowie ihm das Bestreben solche zu sammeln in den Weg tritt. Dazu kommt, dass eine Reihe von Sagen mit bestimmten einzelnen Personen oder Geschlechtern in Verbindung steht, welche eben darum deren Verbreitung nur ungerne sehen; persönliche Rücksichten also schliessen ebenfalls dem einen oder anderen Erzähler den Mund, wenn nicht überhaupt, so doch in bestimmten, oft gerade sehr interessanten Richtungen. U. dgl. m.

1 ) Antiquarisk Tidsskrift, 1843—45, S. I—VIII.

2 ) Íslenzk æfintýri; söfnnö af M. Grimssyni og J. Arnasyni. Reykjavik, 1852; Vm, und 144 S. S. klein 8°.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Volkssagen der Gegenwart