Kalb besucht Saemund den Weisen

Ein andermal wollte Kalb Arneson Saemund den Weisen in Odde besuchen und sagte seinen Leuten, dass er versuchen wolle, ihn ganz unerwartet zu überraschen. Es wird von Kalbs Fahrt nichts erzählt, bis er bei Nacht in Odde ankam und leise an die Tür klopfte. Saemund hörte, dass geklopft wurde und befahl einem seiner Knechte, an die Tür zu gehen, um zu sehen, wer der Ankömmling sei. Der Knecht ging hinaus, konnte aber keinen Menschen entdecken; er ging deshalb wieder hinein und sagte, dass niemand draußen stände. Da wurde zum zweiten Mal geklopft, und Saemund befahl einem anderen Knecht, zur Tür zu gehen. Der Knecht gehorchte, und da er draußen niemand erblicken konnte, ging er um den ganzen Hof herum, sah aber trotzdem keinen Menschen; er ging daher unverrichteter Sache wieder hinein und sagte, dass er niemand draußen gesehen hätte. Da wurde zum dritten Mal an die Tür geklopft. Nun sprang Saemund selber auf, indem er sagte, dass wohl er es sei, mit dem der Ankömmling zu sprechen wünsche. Er ging hinaus und sah seinen Genossen Kalb Arneson draußen stehen, und sie begrüßten sich freundschaftlich. Kalb bat um Obdach, und das wurde ihm nicht verweigert, wie man sich wohl denken kann. Er bat Saemund, sein Pferd anzubinden, und Saemund begann, nach einem solchen zu suchen. Kalb sagte, dass es ja eigentlich eine Schande sei, von ihm zu verlangen, dass er sein Pferd anbinden solle, er glaube jedoch, sagte er, dass er ihn darum bitten müsse. Saemund sagte, dass er es schon tun werde, und sogleich machte er sich daran, es ging ihm aber eine geraume Zeit nur schlecht von Händen. Kalb tat, als wundere er sich darüber, wie lange er brauchte, um sein Pferd anzubinden, und fragte ihn, ob er das nicht verstände. Saemund erwiderte, er glaube es doch zu verstehen, er könne aber gar keine Füße unter dem Pferd finden. Kalb sagte, dass sie aus dem Bauche herausständen wie bei jedem anderen Pferd. Saemund antwortete, es sei, wie es wolle, dieses Pferd habe keine Füße, wenigstens könne er sie nicht finden. Es verstrich nun eine gute Zeit, in der Saemund fortfuhr, die Füße des Pferdes zu suchen, und schließlich ließ er dieses Stück Arbeit sein, so dass man nicht weiß, ob er je das Pferd angebunden hat oder nicht. Dann lud Saemund Kalb ein hereinzukommen, und dieser nahm das mit Dank an. Saemund ging mit einer Kerze in der Hand voraus und wartete ganz am Ende des Ganges auf Kalb. Kalb aber zögerte noch draußen. Nach Verlauf einer ganzen Zeit kam Saemunds Frau heraus und fragte, wer der Ankömmling sei. Saemund sagte es ihr. Sie fragte ihn, ob er denn den Gast aufgefordert hätte, hereinzukommen. Saemund erwiderte, dass er das schon längst getan habe. Da wollte sie hinausgehen und ihn nochmals einladen, ins Haus zu kommen; das wollte aber Saemund nicht haben, er würde schon bald kommen, meinte er. Es verging noch eine geraume Zeit, bis Kalb endlich ganz außer Atem hereinkam und Saemunds Frau bat, ihm einen reichlichen Trunk zu bringen. „Brauchst du viel zu trinken?“ fragte Saemund. Kalb antwortete: „Es könnte leicht geschehen, dass andere als ich trinken müssen, ehe der Abend um ist.“

Sie geleiteten Kalb dann in eine Stube und tischten ihm Speise auf und gaben ihm ein Messer zum Essen. Als er aber mit dem Messer schneiden wollte, war es ganz stumpf. Saemund fragte ihn, ob das Messer nicht scharf sei. Kalb erwiderte nein. Saemunds Frau sagte, dass es nicht ihre Absicht gewesen wäre, ihm eins ihrer schlechtesten Messer auszusuchen, und dass dies Messer ihrer Meinung nach scharf sein müsse. Saemund bat um das Messer; er wolle versuchen, es zu wetzen. Kalb gab ihm das Messer, und als es Saemund gewetzt hatte, reichte er es Kalb wieder und sagte, dass er sich jetzt damit vorsehen möge, denn nun glaube er, dass es scharf genug sei. Kalb erwiderte, dass er davor keine Angst habe; als er aber das erste Stück abschnitt, schnitt das Messer durch Brett und Tisch und fuhr ihm tief in den Schenkel hinein. Saemund sagte, dass er ihn ja gebeten hätte, sich vorzusehen, da das Messer scharf sei. Kalb antwortete, dass die Wunde nicht tödlich sei und verband sie dann.


In diesen Zeiten war es Sitte und Brauch, vor und nach der Mahlzeit ein Tischgebet zu lesen. Während Kalb nach beendeter Mahlzeit das Tischgebet las, fiel Saemund wie tot vom Stuhl, und Kalb gebot, man solle ihn sofort mit Wasser besprengen. Saemund er; holte sich wieder, und als ihn Kalb nun aufforderte, etwas Wasser zu trinken, tat er es sofort. Da sagte Kalb: „Sagte ich nicht, dass andere als ich heute Abend noch trinken müssten, als ich um einen reichlichen Trunk bat, nachdem ich mich nach der Tür müde gesucht hatte?“ Dann hörten sie mit diesen Neckereien auf und schwatzten miteinander darüber, wer von ihnen wohl der Klügste sei.

Später aber erzählte Kalb, dass Saemund mehr in der Schwarzen Schule gelernt hätte als er, und dass er daher mehr könne als er.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen