Ketil von Silfrunarstad

In längst vergangenen Zeiten wohnte auf Silfrunarstad im Skagefjord ein Bauer, dessen Name nicht bekannt ist. Dieser Bauer hatte viele Schafe; es war aber auch ein Boden da, der sich ausgezeichnet zur Schafzucht eignete. Er ließ sein Vieh gern vorn auf dem Berg an der Bessehütte grasen, manchmal jedoch auch weiter entfernt, und es verging eine lange Zeit, ohne dass sich etwas Merkwürdiges zutrug, und er wohnte jahrelang ganz ruhig dort.

Da geschah es eines Weihnachtsheiligabends, dass die Herde des Bauern auf dem Nachhauseweg am Grimshöi vorbeitrieb, und er erwartete, dass sie jeden Augenblick käme. Er pflegte dem Hirten immer selbst beim Hereinlassen der Schafe behilflich zu sein; daher ließ er Auslug nach ihnen halten, und eine ganze Weile später, als er annahm, dass sie jetzt nach Hause gekommen sein müssten, ging er selbst hinaus; die Schafe waren aber nicht gekommen, sondern immer noch auf demselben Fleck zu sehen. Da sandte der Bauer Leute hin, die die Schafe heimwärts treiben sollten, der Hirt aber war nirgends zu finden, und die Nacht verging, ohne dass er nach Hause kam. Der Bauer musste deshalb jemand anders die Aufsicht über die Schafe halten lassen. Man suchte nun nach dem Hirten, er war aber nirgends zu entdecken. Zu Anfang hatte man allerlei Vermutungen über sein Verschwinden, aber es kam so, dass die Leute allmählich weniger davon sprachen, wie es ja immer der Fall zu sein pflegt, wenn eine Zeit vergangen ist.


Nun ereignete sich nichts bis zum nächsten Weihnachtsfest. Am Heiligabend aber, als das Vieh auf dem Nachhauseweg am Grimshöi vorbeisollte, blieb es dort stehen, und es ging dort auf dieselbe Weise wie im Jahre zuvor zu. Der Bauer war sehr bekümmert darüber und machte sich allerhand Gedanken über das Verschwinden seiner Hirten. Das Gerede über all dies begann von neuem, und man fand, es ginge nicht mit rechten Dingen zu; nur wenige wollten die Schafe des Bauern hüten, und es fiel ihm sehr schwer, Leute für seinen Dienst zu finden.

Im Frühjahr aber trat ein junger Mann in seinen Dienst, der Ketil hieß; er war achtzehn Jahre alt und hatte Kraft und Mannesmut in der Brust. Im Herbst übernahm er das Hüten der Schafe und trieb sie auf die Weide, wie es früher geschehen war. Es ging auf Weihnachten. Am Tage des Heiligabends war das Wetter schön und Ketil trieb seine Schafe auf die Wiese wie sonst. Der Bauer beabsichtigte nun, genauer aufzupassen, wenn sie nach Hause kämen und sobald es sich tun ließ, nachzusehen, wie es dem Hirten ginge. Als es anfing zu dunkeln, ging also der Bauer aus dem Hause hinaus und schaute nach den Schafen aus; als er aber nichts von ihnen sehen konnte, ging er wieder hinein. Nach Verlauf einer kurzen Zeit aber kam er wieder heraus, und da waren die Schafe an den Grimshöi gekommen. Sofort ging er hin, Ketil aber war nirgends zu sehen. Das war ein harter Schlag für den Bauern, denn es gefiel ihm nicht besser, Ketil zu verlieren als die andern. Er glaubte denn auch felsenfest, dass es in Zukunft keiner mehr unternehmen würde, seine Schafe zu hüten.

Von Ketil aber ist zu erzählen, dass er, als der Tag ziemlich verstrichen war, seine Schafe in einer großen zerstreuten Trift am Felsenabhang entlang nach Hause trieb. Als er in die Nähe von Grimshöi gekommen war, sah er eine übermenschlich große Gestalt aus einem Einschnitt, der sich unten im Berg, gegenüber dem Hof von Silfrunarstad, befindet, heraustreten; dort ist nämlich ein kleiner Felsen gleichsam vom Felsen losgerissen, welche Öffnung „Die Schlucht“ genannt wird. Das Ungeheuer nahm die Richtung auf die Schafe zu, die sich ängstlich um Ketil scharten. Er sah jetzt, dass es ein unglaublich großes Trollweib war. Es rief Ketil an und bat ihn um ein Schaf für das Fest. Ketil fand die Sache etwas schwierig, und er erzählte ihr, dass die Schafe nicht ihm gehörten, er hätte nur ein Schaf, das ein paar Tage alte Lämmer bei sich hätte; die zeigte er ihr und sagte ihr, dass sie diese nehmen könnte, wenn sie wollte. Sie brauchte nicht lange Zeit, um sie einzufangen, band sie an den Hörnern zusammen und warf sie über die Schulter. Dann fuhr sie auf Ketil zu, nahm ihn in ihre Arme und kehrte denselben Weg, den sie gekommen war, zurück. Als sie aus der Schlucht heraufgekommen war, ging sie an dem Berge entlang und machte große Schritte. Ketil sah ein, dass es ihm nichts nützte, wenn er auch zappelte, außerdem konnte er sich kaum bewegen. Sie setzte ihren Weg fort, bis sie an die Kluft in der Nähe des Bolstadbaches gekommen war, an einen großen Wasserfall, der dort unten im Berge ist. Diese Felsenkluft ist beinahe ungangbar. Dort stieg das Trollweib hinab in ihre Höhle unter dem Wasserfall. Sie ließ Ketil los und warf ihre Bürde auf den Boden. Sie bat Ketil, die Schafe zu schlachten und zuzubereiten; mit ihnen wollte sie, wie sie sagte, einen Weihnachtsschmaus für ihn und sich selbst halten. Sie setzte einen Kessel aufs Feuer und kochte das Essen eiligst. Darauf fing sie an, mit großer Gier zu essen und ließ Ketil mitessen. Sie erzählte ihm, dass sie die Ursache wäre, dass die Hirten von Silfrunarstad verschwänden, und dass sie die beiden vorigen Jahre hintereinander am Heiligabend zu ihnen gekommen wäre und sie gebeten hätte, ihr ein Schaf zu schenken, aus dem sie ihr Heiligabendessen bereiten könnte. Sie hätten ihr aber nur mürrische Antworten gegeben und sie tüchtig ausgescholten, und darum hätte sie sie in Behandlung genommen. Nun hätte aber er freundlich ihre Bitte erfüllt, und er würde ein sehr glücklicher Mann werden, da er doch weniger als einer der beiden andern zu verschenken gehabt hätte. Sie erzählte ihm, dass im Hornung sein Hausherr entschlafen würde; dann sollte er den Hof übernehmen und sich im nächsten Frühjahr auf ihm ansiedeln. Ketil aber sagte, dass er keinesfalls den Hof übernehmen könne, denn erstens wären die Felder groß und schwierig, und dann hätte er auch kein Geld. Außerdem fehle ihm eine Wirtschafterin und Hofgesinde. Sie aber sagte, dass er schon Geld in die Hand bekommen würde; denn binnen einem Monat würde sie sterben, und dann würde er alles erben, was in ihrer Höhle an Goldes: wert wäre, und so würde es ihm nicht an Geld fehlen, um sich auf Silfrunarstad anzusiedeln. Darum aber wollte sie ihn bitten, sagte sie, dass er in einem Monat nach ihr sehen und ihren Leichnam dort vorn in den Wasserfall legen solle, wenn es ihm möglich wäre. Sie sagte, dass das Eigentum seines Hausherrn im darauffolgenden Frühjahr verkauft werden würde, er solle davon kaufen, was er brauche, und Geld zum Bezahlen solle er sich aus ihrer Höhle holen. Er solle dasselbe Gesinde dingen, das jetzt auf Silfrunarstad diene, und dann solle er um die Tochter des Pfarrers auf Havsteenstrand freien. Ketil fand jedoch, dass das ein wenig glücklicher Rat sei, er war ja ein armer, ungebildeter Mensch. Sie bat ihn, keine Angst davor zu haben. „Und hier ist ein Gürtel,“ sagte sie, „den sollst du ihr um die Hüften legen. Er hat die Eigenschaft, dass sie Liebe zu dir fasst, wenn sie ihn um hat, und dann wird alles gut gehen.“ Der Gürtel war aber auch ein seltener Schatz.

Ketil wollte nun nach Hause ziehen; denn er glaubte, dass sich sein Hausherr sicher über seine Abwesenheit gräme. Die Riesin aber sagte, dass das nichts zu sagen habe und bat ihn, bis zum nächsten Morgen zu bleiben, und er fügte sich darein. Am nächsten Morgen begleitete sie ihn aus dem Wasserfall hinaus, zeigte ihm, wie man in die Höhle gelangen könne und ließ es ihn selbst versuchen, was ihm auch gutgelang. Darauf bot sie ihm Lebewohl und sagte dann, dass sie beide sich nicht häufiger sehen würden; sie wünschte ihm alles erdenkliche Glück und sagte, dass ihm die meisten Dinge nach Wunsch geraten würden, und dass dies der Anfang seines Glückes sei. Sie trennten sich unter großer Freundlichkeit; sie ging in ihre Höhle zurück, er aber beeilte sich, so sehr er konnte, um sein Heim zu erreichen.

Dort lag der Bauer zu Bett, so nahe war ihm das Verschwinden Ketils gegangen. Als aber Ketil nun kam, waren alle froh, besonders der Bauer, der gleich aus dem Bett stieg und glaubte, er hätte ihn aus der Hölle selber zurückerhalten. Er fragte Ketil, was denn seine Abwesenheit verschuldet hätte. Davon aber wollte Ketil nicht viel sprechen, und er erzählte weder von der Riesin, noch von ihrer Höhle. Dann hütete Ketil die Schafe wie zuvor.

Nach Verlauf eines Monats ging er in die Höhle hinein. Da fand er die Riesin tot. Ketil hatte ein Feuerzeug mit, zündete Licht an und trug ihren Leichnam aus der Höhle hinaus, und er erzählte später, dass er nie zuvor solch eine Kraftprobe bestanden hätte. Dann untersuchte er die Höhle und fand großen Reichtum an allerlei kostbaren Sachen und Gold. Er ließ aber vorläufig alles liegen.

Im Hornung wurde der Bauer krank, und nachdem er einen halben Monat zu Bett gelegen hatte, starb er. Da verlangte Ketil den Hof in Pacht, erhielt aber eine unwillige Antwort; denn der Eigentümer hielt es für die größte Torheit, ihn an ihn zu verpachten, jedoch gab er ihn auch keinem andern in Pacht. Es ging nun auf das Frühjahr, und die Erben verkauften das meiste der Einrichtung auf Silfrunarstad; Ketil kaufte einen großen Teil davon und bezahlte gleich bei der Zuteilung. Er hatte schon den größten Teil des Gesindes auf dem Hof gedungen, und nun fiel es ihm leicht, ihn zu pachten.

Im Frühjahr zog er nach Havsteenstad, wo er zum ersten Mal mit der Tochter des Pfarrers zusammentraf; er gab ihr den Gürtel und legte ihn ihr um. Darauf brachte er sein Anliegen vor, dass er dorthin gekommen wäre, um, um ihre Hand zu freien. Sie schien dem Manne hübsch und hoffnungsvoll, und da nun der Gürtel die Liebe in ihrer Brust entfachte, so versprach sie ihm ihr Ja, wenn ihr Vater seine Einwilligung dazu geben würde. Da trug Ketil dem Pfarrer sein Anliegen vor und bat ihn um seine Tochter. Der Pfarrer erwiderte sehr kühl darauf, und man merkte wohl, dass er fand, dass Ketil seiner Tochter nicht ebenbürtig sei, er, der nur schlecht und recht ein Bauer war. Weil aber Ketil nun reicher geworden war, als man früher glaubte und er sonst ein kluger und besonders tüchtiger Mann war, ließ sich der Pfarrer schließlich überreden, seine Einwilligung zu geben, dass sie ihm für diesen Sommer als Wirtschafterin nach Hause folgte; und darüber wurden sie dann einig.

Ketil zog nun mit der Pfarrerstochter nach Hause, und sie wurden im Sommer gut miteinander fertig. Im Herbst kam ihr Vater, und das Ende der Beratung war, dass Ketil sich mit der Tochter des Pfarrers verlobte, und im Herbst wurde ihre Hochzeit mit großer Pracht gefeiert. Sie liebten sich sehr und wohnten auf Silfrunarstad bis in ihr hohes Alter. Ketil hatte Glück in allem und wurde ein schwer reicher Mann, so dass niemand sich erinnern konnte, dass je ein so reicher Mann auf Silfrunarstad gewohnt hätte. Er hatte ja auch keinen Mangel an Geld aus der Höhle der Riesin, so lange er sein Heim in Ordnung brachte, und er richtete sich in jeder Hinsicht nach ihrem Rat. Diese Erzählung hörte man aus seinem eigenen Munde, als er ein alter Mann geworden war. Lange hatte sie sich später im Gedächtnis der Leute erhalten und sich von Mann zu Mann fortgepflanzt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen