Hleidrargaards Skotta

Etwa in den Jahren 1740 bis 1770 wohnte auf Hleidrargaard im Oefjord ein Bauer, namens Sigurd Björnsson, der als vernünftiger Mann galt, aber von heftigem Gemüt war. Es wird erzählt, dass er einmal in seinen jüngeren Jahren früh im Sommer westwärts nach dem Gletscher ritt, um Fische zu kaufen. Da traf es sich, dass er und der Mann, von dem er die Fische kaufte, nicht einig werden konnten. Darüber entstand ein Streit unter ihnen, der bald darauf in eine Schlägerei ausartete. Sigurd war ein kräftiger Mann, und es war kein Spaß, ihm unter die Fäuste zu kommen, und so gelang es ihm, seinen Gegner unter sich zu Boden zu werfen, worauf er ihm ein paar Streiche versetzte. Als der Gegner wieder aufstand, stieß er Drohungen gegen Sigurd aus und versprach ihm verdienten Lohn vor der Tag- und Nachtgleiche, worauf er seines Weges ging; Sigurd aber zog mit seinen Genossen wieder nach Hause und blieb auf seinem Hof.

Zu dieser Zeit wohnte auf Krynarstad, dem nächsten Hof von Hleidrargaard aus, ein Mann, der Hall hieß, mit dem Zunamen „Der Starke“. Er war geistersehend und hatte oft Gespenster erblickt und mit ihnen zu tun gehabt. Es wird nun gesagt, dass dieser Hall eines Abends in dem Herbst, der auf den Sommer folgte, in welchem Sigurd von seinen Ritt nach Hause gekommen war, draußen auf seinem Hof stand; da sah er ein Gespenst in Gestalt eines Mädchens den Weg daherkommen; sie war klein von Wuchs, hatte ein rotes Mieder an, einen dunkelbraunen Rock, der nur bis an die Knie reichte, eine Mütze ohne Quaste, und ging in Hemdsärmeln. Als die Dirne Hall erblickte, wollte sie ihm ausweichen, er stellte sich ihr aber in den Weg und fragte, wer sie sei. Sie erzählte, dass sie Sigga heiße. Er fragte, woher sie käme und wohin sie wolle. Sie antwortete: „Nach Hleidrargaard“. „Was hast du da zu tun?“ „Sigurd Björnsson umzubringen“, antwortete sie. Darauf lief sie ihres Weges, und Funken sprühten hinter ihr her.


An demselben Abend schlief Sigurd in seinem Bett, das so stand, dass ein Fenster darüber war. Die anderen, die sich in der Badstube aufhielten, waren wach. Plötzlich sprang Sigurd aus dem Bett und fragte: „Wer hat mich gerufen?“ Man erwiderte ihm, dass ihn niemand gerufen habe. Er legte sich wieder zu Bett und schlief ein; kaum war er aber eingeschlafen, als er wieder aufsprang und sagte, dass ihn jetzt sicher jemand gerufen hätte. Da man ihm sagte, dass das nicht der Fall gewesen wäre, legte er sich wieder zu Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Als er eine kleine Weile gelegen hatte, sah man ihn aus dem Fenster spähen und hörte ihn sagen: „Ach so, daher kommt es!“ und dabei verfärbte er sich. Er ging nach der Badstubentür, stellte sich an sie, und man hörte ihn ganz laut sagen: „Wenn jemand da ist, der mit Sigurd Björnsson sprechen will, — da sitzt er!“ Und damit zeigte er mit der Hand auf einen Armenhäusler-Jungen, namens Hjalmar, der auf einem Stuhl gegenüber der Badstubentür saß und Wolle zupfte. Da wurde der Junge vom Stuhl herunter auf den Fußboden geschleudert, wo er sich unter Geschrei und grässlichen Windungen wälzte, als wenn er am Ersticken wäre; Sigurd holte eine Rute und schlug den Jungen überall damit; dadurch wurde er etwas ruhiger und wurde auf das Bett gelegt; da war sein Körper geschwollen und zeigte Spuren von Stößen. Diese Anfälle bekam der Junge zwei- oder dreimal in der Nacht, und dann später von Zeit zu Zeit, bis er früh im Winter an einem solchen starb, und da war sein Körper sehr geschwollen und aufgedunsen und wies deutliche, schwarze Spuren von den Fingern des Gespenstes auf.

Nach dieser Zeit verfolgte das Gespenst Sigurd und seine Kinder, ja es verfolgte sogar alle Leute auf Hleidrargaard. Oft sahen geistersehende Männer dieses Mädchen, das „Hleidrargaards-Skotta“*) genannt wurde, ein Name, den sie nach ihrer Mütze erhalten hatte, weil diese wie ein Zipfel auf ihrem Kopf stand. Am häufigsten sah man sie „Katzflechten“**), wie man das nennt, indem sie an irgendeinem Querbalken hing, am liebsten über dem Eingang der Häuser. Sigurd selbst konnte sich immer vor ihr hüten, nach und nach aber tötete sie ihm das Vieh, und selbst das Vieh auf den Nachbarhöfen wurde von ihr umgebracht. Das Fleisch war immer sehr fleckig und blau und vollkommen ungenießbar. Sie wurde auch beschuldigt, einen tüchtigen Bauern, Sigurd auf Näs, umgebracht zu haben, denn er bekam einen Krampfanfall und starb daran.

*) Isl.: skott bedeutet eigentlich: Schwanz, außerdem den Zipfel einer Mütze, daher die Benennung „Skotta“, d.h. ein weibliches Gespenst, das eine Zipfelmütze trägt.
**) „Katzflechten (isl. fla’kött) besteht darin, dass man die Beine um einen Querbalken flicht und an ihnen hängt, den Kopf nach unten, während man gleichzeitig die Jacke, die Weste usw. aus- und anzieht.


Als nun ihre Gewalttätigkeit dermaßen zunahm und man befürchtete, dass sie sich noch bedeutend steigern würde, traf es sich so glücklich, erzählt man, dass vom Gletscher her ein Bettler, mit Namen Peter oder Gletscher-Peter, wie er allgemein genannt wurde, in den Ort kam. Er war ein großer Zauberer, benutzte aber seine Kunst immer nur zum Guten. Sigurd auf Hleidrargaard war ein guter und freigebiger Mann, und deshalb gab er auch Peter eine gute Unterstützung, erzählte ihm aber gleichzeitig, dass es nicht seine Heimat wäre, der er für diese Hilfe danken könne; denn die hätte ihm, dem Bauern, ja ein Gespenst auf den Hals geschickt, das sowohl ihm wie anderen großen Schaden zufügte und wahrscheinlich damit fortfahren würde, bis es ihn ums Leben gebracht habe. Peter versprach, dass er ihn schon von diesem Teufel befreien werde. Eines Nachts entfernte er sich also, nahm das Gespenst mit und fesselte es an einen bodenfesten Stein an der Stelle zwischen dem Strjugsbach und Volde, die Varmhage heißt. Lange Zeit konnte nun das Gespenst keinen Schaden tun; oft aber hörte man es nachts heulen, und die Leute wagten nicht, allzu nahe an ihm vorbeizufahren; denn dann wurde ihnen schwindlig, und sie verloren den Weg, auch wenn es hellichter Tag war.

In den Jahren 1806-1810 baute der Pfarrer von Saurbär, der Sira Sigurd hieß und noch heutigen Tages lebt, eine Futterscheune in der Nähe dieser Stelle, denn es sind gerade dort gute Weideplätze. In der ersten Nacht, in der das Haus in Gebrauch war, wurde ein Schaf getötet und dann mehrere. Da entdeckte man, dass die Schafkörper in jeder Hinsicht wie diejenigen aussahen, die das Gespenst früher unter den Händen gehabt hatte, und man glaubte deshalb, dass es jetzt wieder angefangen hätte, eine lockere Hand zu haben. Krankheit und Tod fingen allmählich an, unter den Schafen ringsum im ganzen Oefjord allgemein zu werden; das nennt man die Pest, aber der Aberglaube, dass nur das Gespenst daran schuld sei, ist schon von alters her bei den Leuten eingewurzelt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen