Die beiden Ebereschenbäume

Es wird erzählt, dass in alten Tagen ein paar Geschwister aus gutem Stamm auf den Westmändsinseln lebten. Da geschah, dass das Mädchen daheim im Elternhause schwanger wurde, und da sich die beiden Geschwister sehr liebten, verbreiteten böse Zungen das Gerücht, dass der Bruder des Mädchens der Vater des Kindes sei, das sie erwartete. Das Gerücht erreichte denn auch das Ohr des Gesetzgebers dort auf den Inseln, weshalb er die Sache zu untersuchen begann.

Es nützte weder, dass der Bruder leugnete, dieses Verbrechens schuldig zu sein, und bei allem, was ihm heilig war, schwor, dass er unschuldig sei, noch, dass seine Schwester ihn jeder Schuld freisprach und einen anderen Mann, der damals von den Inseln abwesend war, als Vater des Kindes nannte. Und weil das Verbrechen der Blutschande damals hierzulande scharf geahndet wurde, selbst wenn die Obrigkeit weiter nichts hatte als einen unbewiesenen Verdacht, an den sie sich hielt, wurde ein Todesurteil nach dem anderen über solche Angeklagten gesprochen, und das war auch hier der Fall. Die beiden Geschwister wurden zum Tode verurteilt, und das Urteil wurde vollzogen. Es wird aber erzählt, dass sie auf dem Richtplatz den Herrgott mit Tränen baten, nach ihrer Hinrichtung ihre Unschuld zu beweisen, wenn die Menschen bei ihren Lebzeiten nicht daran glauben wollten; auch sollen sie ihre Eltern gebeten haben, dafür Sorge zu tragen, dass sie in einem gemeinsamen Grabe auf dem Kirchhofe ruhen dürften. Darauf wurden sie hingerichtet, und nach vieler Mühe und wahrscheinlich nur durch reiche Spenden an Kirche und Geistlichkeit, wie es ja meist in jenen Zeiten nötig war, erreichten die Eltern, dass ihre Kinder auf dem Kirchhof beerdigt wurden; in demselben Grabe durften sie jedoch nicht liegen; der eine sollte südlich, die andere nördlich von der Kirche bestattet werden, und dort mussten sie auch liegen.


Als eine Zeit verstrichen war, entdeckten die Leute, dass aus jedem Grabe der beiden Geschwister ein kleiner Ebereschenstamm emporspross. Diese Stämme nahmen eine natürliche Entwicklung und wurden immer größer, bis sich ihr Geäst über dem Dachfirst der Kirche vereinigte, und da dachten die Leute, dass Gott, als er die Ebereschenbäume aus ihren Gräbern erwachsen ließ, ohne dass eine Menschenhand, so viel man sehen konnte, sie dort angepflanzt hatte, den Lebenden die Unschuld der beiden Geschwister beweisen wollte. Der Umstand aber, dass sich die Bäume da oben über dem Dachfirst begegneten und ihre Blätter und Zweige ineinanderflochten, schien auf das unschuldige und liebevolle Zusammenleben hinzuweisen, das zwischen diesen Geschwistern im irdischen Leben geherrscht hatte, und auf ihre Sehnsucht, nach dem Tode in demselben Grabe ruhen zu dürfen. So standen und wuchsen diese Ebereschenbäume lange Zeit, bis der Türkenhund früh im 17. Jahrhundert mit Heeresmacht über die Westmändsinseln herfiel, Gut und Menschen raubte und allerlei Gräueltaten verübte, wie ja bekannt genug ist. Eine der Gewalttätigkeiten der Türken, so erzählt die Sage, war die, dass sie die beiden Ebereschenbäume auf jenem Friedhof umschlugen, und sie drohten, auf die Inseln zurückzukommen und alles zu verheeren und zu rauben, wenn diese Bäume das nächste Mal so hoch würden, wie sie gewesen wären.

Man hat aber nicht gehört, dass die Bäume von dieser Zeit an wieder heranwuchsen, und das wurde als eine große Gnade Gottes angesehen, denn wenn das geschehen wäre, dann hätte der Türke schon Wort gehalten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen