Die Zauberer auf den Westmändsinseln

Als der Schwarze Tod auf Island raste, taten sich acht: zehn Zauberer zusammen und schlossen miteinander ein Bündnis. Sie zogen nach den Westmändsinseln und wollten sich gegen den Tod wehren, solange es irgend ging. Als sie vermittels ihrer Zauberweisheit sahen, dass die Krankheit auf dem Festland abgenommen hatte, wollten sie gern wissen, ob noch ein Mensch am Leben wäre. Sie einigten sich deshalb, einen ihrer Kameraden ins Land zu senden, und dazu wählten sie den, der in ihrer Kunst weder am meisten, noch am wenigsten erfahren war. Sie brachten ihn ans Land und sagten, dass sie ihm, wenn er nicht bis zur Julzeit zurückgekommen wäre, einen Sending*) schicken würden, der ihn töten sollte. Das war in den ersten Tagen des Advents.

*) Isl. „Sending“ heißt der Spukgeist oder das Gespenst, das abgesandt wird, um jemanden zu töten.


Der Mann verließ sie, suchte lange und kam weit herum. Aber nirgends sah er einen lebenden Menschen; die Höfe standen offen, und darinnen lagen überall Leichen umher. Endlich kam er an einen Hof, der verschlossen war. Er wunderte sich darüber, und es wurde die Hoffnung in ihm erweckt, dass er hier Menschen antreffen würde. Er klopfte an die Tür, und sogleich kam ein schönes, junges Mädchen und öffnete ihm. Er begrüßte sie, sie aber schlang die Arme um seinen Hals und weinte vor Freude, wieder einen Menschen zusehen; denn sie hätte geglaubt, sagte sie, dass sie das einzige zurückgebliebene Wesen sei. Sie bat ihn, bei ihr zu bleiben, was er auch versprach. Sie gingen zusammen in das Haus und hatten vieles miteinander zu besprechen. Sie fragte, wo er herkäme, und wo er hinwollte. Das erzählte er ihr und zugleich, dass er bis zur Julzeit zurück sein müsste. Sie bat ihn, doch bei ihr zu bleiben, solange er könnte. Sie tat ihm sehr leid, und er versprach ihr denn auch zu bleiben. Sie erzählte ihm, dass alle Menschen gestorben seien; denn sie wäre selber, sagte sie, in alle Richtungen gezogen, eine Wochenreise von ihrem Hause, ohne irgendeinem lebenden Wesen zu begegnen.

Es ging auf die Julzeit, und der Inselmann dachte ans Heimwärtsziehen. Das Mädchen aber bat ihn zu bleiben und sagte, dass seine Kameraden wohl nicht so hartherzig wären, ihn entgelten zu lassen, dass er bei ihr, die so allein und verlassen sei, geblieben wäre. Er ließ sich überreden zu bleiben, und dann kam die Julzeit. Da wollte er fort, trotz allem, was sie auch sagte. Sie sah, dass ihre Bitten nichts fruchteten und sagte: „Glaubst du, dass du die Insel noch heute Abend erreichen kannst? Oder scheint es dir nicht eben so gut, hier bei mir zu sterben, als an irgendeinem Ort unterwegs?“

Der Mann sah ein, dass die Zeit zu knapp geworden war und entschloss sich; ruhig zu bleiben, wo er war und hier den Tod zu erwarten. Es ging auf die Nacht; er war sehr niedergeschlagen, aber das Mädchen war keck und munter und fragte ihn, ob er sehen könnte, was die Inselbewohner jetzt trieben. Er sagte, dass sie ihren Sending jetzt ans Land gebracht hätten, und dass er heute kommen würde.

Das Mädchen setzte sich neben ihn auf ihr Bett, er aber legte sich in das Bett hinter sie. Er sagte, dass er jetzt anfinge, schläfrig zu werden, und dass das der Vorbote des Sendings sei. Darauf schlief er ein. Das Mädchen saß auf dem Bettrand und weckte ihn einmal ums andere, damit er sagen sollte, wo der Sending der Inselbewohner nun sei. Aber je näher dieser kam, desto fester schlief er, und als er zuletzt gesagt hatte, dass er nun auf den Hof gekommen sei, schlief er so fest, dass das Mädchen ihn nicht mehr wecken konnte, und es dauerte denn auch nicht mehr lange, bis sie einen dunkelbraunen Nebel in das Haus eindringen sah. Der Nebel schwebte langsam auf sie zu und verdichtete sich zu einer Menschengestalt. Das Mädchen fragte, wo sie hinwolle. Die Gestalt entledigte sich ihres Auftrags und bat sie, vom Bett wegzutreten; „denn ich kann nicht über dich hinwegkommen,“ sagte sie. Das Mädchen sagte der Gestalt, dass sie ihr dann als Entgelt eine Gefälligkeit erweisen müsse. Die Gestalt fragte, was das wohl sein könne. Das Mädchen erwiderte, dass sie ihm zeigen solle, wie groß sie werden könnte. Die Gestalt war damit einverstanden und wurde nun so groß, dass sie das ganze Haus erfüllte. Da sagte das Mädchen: „Jetzt möchte ich gern sehen, wie klein du werden kannst.“ Die Gestalt sagte, sie könnte eine Fliege werden, und in demselben Augenblick verwandelte sie sich in eine Fliege und wollte unter der Hand des Mädchens in das Bett zu dem Manne hinauffliegen, flog aber unglücklicherweise gerade in den Röhrenknochen eines Schafes, den das Mädchen in der Hand hielt, und dieses beeilte sich, sofort einen Pfropfen in dessen Loch zu treiben.

Dann steckte sie den Knochen mit der Fliege in die Tasche und weckte den Mann. Er wurde bald wach und wunderte sich sehr, dass er noch am Leben sei. Das Mädchen fragte ihn, wo der Sending wäre. Er antwortete, dass er nicht wüsste, wo er geblieben sei, das Mädchen aber sagte ihm dann, dass sie längst geahnt hätte, dass das keine großen Zauberer auf der Insel wären. Der Mann freute sich, dies zu hören, und sie verbrachten beide die Feiertage in großer Fröhlichkeit.

Als aber das neue Jahr näher rückte, fing der Mann wieder an, wortkarg zu werden. Das Mädchen fragte, was ihm denn nur fehle. Er sagte, dass sie jetzt auf der Insel im Begriff wären, einen neuen Sending auszurüsten und ihm die höchste Zauberkraft zu verleihen. „Am Neujahrstag wird er hier sein, und dann ist es nicht leicht, mich zu retten.“ Das Mädchen sagte, dass sie keine Angst davor habe, ehe sie es probiert hätte, und: „Nicht brauchst du dich vor den Sendingen der Inselbewohner zu fürchten.“ Am letzten Tag des Jahres sagte er, dass jetzt der Sending ins Land gekommen sei. „Und schnell kommt er vorwärts, denn er hat eine gewaltige Zauberkraft.“ Das Mädchen sagte, dass er ihr nun aus dem Hause folgen solle, was er auch tat. Sie kamen bald darauf nach einem Buschwald. Darin blieb sie stehen und riss ein paar Büsche aus. Da stießen sie auf einen flachen Stein. Das Mädchen hob den Stein auf, und darunter zeigte sich eine Erdhöhle. Sie stiegen in die Erdhöhle hinab, in der es finster und unheimlich war. Da war ein schwacher Docht in einem Schädel, der in Menschenfett brannte. Auf einem elenden Lager in der Nähe des Lichtes lag ein Vagabund, der furchtbar anzusehen war. Seine Augen waren wie Blut, und sein Aussehen war so gräulich, dass der Inselmann schon genug hatte. Der Alte sagte: „Es ist wohl etwas Neues geschehen, dass du herkommst, Pflegetochter. Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe, und was kann ich nun für dich tun?“ Das Mädchen erzählte ihm dann, weshalb sie gekommen sei, von dem Manne, und von dem ersten Sending. Der Alte bat sie, den Röhrenknochen sehen zu dürfen. Sie zeigte ihn ihm, aber als der Alte den Knochen in der Hand hatte, wurde er ein ganz anderer. Er drehte ihn nach allen Richtungen und betastete ihn überall von außen. Dann sagte das Mädchen: „Hilf nun schnell, Pflegevater, denn jetzt beginnt er schläfrig zu werden, und das ist ein Zeichen, dass der Sending bald hier ist.“ Da nahm der Alte den Pfropfen aus dem Röhrenknochen, und sofort kam die Fliege aus ihm heraus. Der Alte streichelte die Fliege und sagte: „Geh nun hinaus und nimm alle Sendinge von den Inseln in Empfang und verschlinge sie.“ Da ertönte ein starker Donnerschlag, die Fliege fuhr heraus und wurde so groß, dass der obere Teil des Mauls bis zum Himmel reichte, während der untere Teil auf der Erde lag. Sie nahm alle Sendinge von den Inseln in Empfang, und der Mann war gerettet.

Sie gingen dann wieder von der Erdhöhle fort und nach Hause, das Mädchen und der Inselmann, und gründeten eine Wirtschaft auf ihrem Hof. Später wurden sie Mann und Weib, waren fruchtbar, vermehrten sich und bevölkerten die Erde.

Und so weiß ich nichts mehr von der Sage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen