Der rote Stier

Als Sira Thomas Skuleson Pfarrer auf Grenjadarstad war, hielt er sich zwei Hofknechte, von denen der eine Bjarne hieß, der andere aber Martin. Diese beiden Knechte hatten eine gemeinsame Schlafkammer, die abgesondert vorn auf dem Hofe lag. Bjarne war früher verheiratet gewesen, lebte aber von seiner Frau getrennt, und da er nun in Liebe zu einem Mädchen in der Nachbarschaft entbrannt war, wollte er vor allem seine frühere Frau loswerden. Er griff deshalb zu dem Mittel, dass er einen klugen Mann auf dem Nordland bewog, ihn zu lehren, wie man ein Gespenst erstehen lassen könnte, dass er seiner Frau auf den Hals schicken wollte, um ihr den Garaus zu machen.

Bjarne begann nun den Wiederkehrer*) zu erwecken und leckte ihm den Totengeifer vom Gesicht, wie das Gesetz verlangt; kaum aber war er damit fertig, als sich das Gespenst an ihn selbst machte; und das Ende ihres Kampfes war, dass der Wiederkehrer Bjarne überwältigte, so dass dieser mit knapper Not lebendig davonkam. Dieser Wiederkehrer aber war Bjarne so viel weniger von Nutzen, als er erwartet hatte, dass er Bjarne nach dieser Zeit sogar wachend und schlafend überfiel, so dass er darüber beinahe um Sinn und Verstand gekommen wäre. Weder Bjarne noch Martin hatten nun nachts besondere Ruhe zum Schlafen; denn das Gespenst fuhr mit seinem Klopfen an die Kammer unentwegt fort und hielt sie wach, bis Bjarne hinunterging, und dann blieb er längere oder kürzere Zeit in der Nacht draußen. Man wusste aber nichts von dem, was draußen zwischen ihnen vorging, als was Bjarne selbst erzählte, wenn er wieder zu Martin hineinkam.


*) Gespenst eines toten Menschen, der umgeht.

Als dies eine Zeitlang gedauert hatte und Bjarne darüber den Verstand fast verloren hatte, wandte er sich in seinem unglücklichen Zustand an einen klugen Mann und bat ihn um einen guten Rat, auf welche Weise er sich von den Verfolgungen des Wiederkehrers befreien könnte. Der kluge Mann gab ihm einen Zettel mit einigen Schriftzeichen und gebot ihm, eines Nachts in die Kirche auf Grenjadarstad zu gehen, sich sämtliche Messgewänder umzuhängen und derart geschmückt die ganze Nacht hinter den Schranken neben dem Altar stehen zu bleiben, ohne sich vom Fleck zu bewegen, was er auch zu sehen bekäme, und was ihn auch anzusprechen schiene; denn man wollte ihn nur von den Schranken locken, und dann wäre es aus mit ihm. Schließlich, sagte er, würde ein ungeheuer großer, roter Stier kommen, der die Zunge zwischen ihm und dem Altar bewegen würde, dann aber gälte es sein Leben, wenn er nicht so geschickt wäre, dem Stier den Zettel auf die Zunge zu legen; gelänge ihm das dagegen, so hätte er keinen Grund mehr, die Heimsuchungen des Gespenstes zu fürchten.

Nachdem er diesen Rat bekommen hatte, ging Bjarne eines Nachts in die Kirche und benahm sich so, wie es ihm vorgeschrieben worden war. Da kam eine Schar Menschen nach der andern zu ihm heran und umzingelte die Schranken; er kannte aber nur wenige unter ihnen. Sie redeten ihn in verschiedener Weise an und baten ihn im Guten und im Bösen, den Altar zu verlassen und zu ihnen herauszukommen. Einer von denen, die Bjarne zu kennen meinte, war Sira Hallgrim Scheving, Dr. Schevings Großvater, und er zerrte an Bjarne, um ihn aus den Schranken herauszubekommen. Eine Schar aber nach der andern verschwand, da es ihnen auf keine Weise gelingen wollte, Bjarne vom Altar fortzubekommen.

Da kam endlich der rote Stier auf Bjarne zu; er streckte die Zunge über die Schranken hinweg und wollte sie zwischen Bjarne und dem Altar schwingen, als beabsichtige er, ihn von dort herauszuschleudern. Es gelang aber Bjarne, ihm den Zettel auf die Zunge zu legen. Da verschwand der Stier, und von diesem Augenblick an gewahrte Bjarne nichts mehr in der Kirche, so wie er auch nichts mehr von den Heimsuchungen des Wiederkehrers merkte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen