Der Ulfssee

Gegen Süden, zwischen den Skagefjordstälern, liegt ein fischreicher See, der der Ulfssee heißt und seinen Namen auf folgende Weise erhalten hat:

Auf Mällifellsaa wohnte einmal ein reicher Bauer. Er hatte einen Sohn, mit Namen Gudmund, der in jeder Weise ein hoffnungsvoller Jüngling war. Er hatte gute Kräfte und war ein tüchtiger Ringer. Er war oft draußen, um Vieh zu suchen, und jedesmal, wenn gesucht wurde, war er Führer oder Bergkönig, wie die Rangvellinger sagen.


Einmal zog Gudmund mit mehreren Männern aus, um entlaufene Schafe zu suchen. Während des Suchens blieb er schließlich mit einem Jungen allein, und sie kamen nach dem Ulfssee. Da entdeckten sie zwei Lämmer, die sie zu verfolgen begannen. Der See war zugefroren, und sie sahen, dass draußen auf dem Eis ein Mann lag und angelte.

Als Gudmund und sein Begleiter dem See näherkamen, sprang der Fischer auf, ergriff ein Beil, das neben ihm lag, nahm einen Anlauf und glitt auf Gudmund zu. Kaum gewahrte dass der Junge, als er Fersengeld gab, Gudmund aber erwartete den Mann.

Als dieser dicht vor Gudmund stand, hieb er mit dem Beil nach ihm, Gudmund aber wich aus. Das Beil fiel dem Friedlosen*) aus der Hand, Gudmund fing es auf, nahm einen Anlauf und glitt auf den See hinaus, auf dem der andere ihn zu verfolgen begann. So trieben sie es eine Weile, bis Gudmund eine passende Gelegenheit fand. Er drehte sich um und gab dem Friedlosen den Todesstreich; während dieser aber den Hieb erhielt, rief er mit lauter Stimme nach Brand, Thorgils und Olaf. Darauf ging Gudmund zu seinen Leuten und erzählte ihnen das Geschehene. Sie gingen dann in geschlossenen Haufen nach dem See, da aber war der Tote verschwunden; sie sahen, dass er fortgebracht worden war, denn die Blutspuren auf dem Eise wiesen ans Land.

*) Eine Eigentümlichkeit Islands. Ursprünglich Verbrecher, die, um dem Arm des Gesetzes zu entgehen, in die Wildnis geflüchtet waren, und die mit Weib und Abkommen eine von der übrigen Welt abgesonderte und gefürchtete Klasse bildeten.

Nach dieser Zeit blieb Gudmund zu Hause und ging nie mehr aus, um Schafe zu suchen; denn er befürchtete, dass die Friedlosen nach ihm auf der Lauer lägen. Da geschah es einmal, spät im Sommer, dass der Schäfer auf Mällifellsaa krank wurde und niemand auf dem Hof war, der die Schafe sammeln konnte, außer Gudmund. Er ging deshalb fort, konnte sie aber nirgends finden. Erging immer weiter, bis in die Heide, aber auch dort fand er die Schafe nicht. Da fiel ein so dichter Nebel, dass er nicht wusste, wo er war; trotz: dem ging er weiter, bis er eine große Herde Schafe sah, und bei ihnen einen Mann.

Dieser, ein Friedloser, griff Gudmund sofort an, und sie rangen so lange miteinander, bis Gudmund seinen Gegner warf. Der Friedlose bat um Gnade und versprach, ihn dafür gut zu belohnen. Gudmund fragte, wer er sei, und wo er zu Hause wäre. Der Friedlose erwiderte, dass er Olaf heiße und ein Bruder von dem sei, den er auf dem See erschlagen hätte; Ulf aber hätte der geheißen.

„Wir sind sechs Brüder, und ich bin der jüngste und kleinste von allen. Mein Vater wohnt auf einem Hof, unweit von hier, und hat dich hergezaubert, denn er will dich für den Totschlag an seinem Sohn belohnen; auf dem Vorhof hat er ein Grab graben lassen, und dich hat er als Gast dafür bestimmt. Wir haben eine Schwester, die Sigrid heißt, und die unser Vater am meisten liebt; sie kann dir die beste Hilfe leisten, wenn sie dir eine Handreichung tun will. Mein Bruder Brand ist hier in der Nähe, und wenn du ihn unter deinen Fuß bekommen könntest, so dass du uns beiden das Leben geschenkt hättest, dann würde sie dir wohl Hilfe leisten, so gut sie es vermag.“

Hierauf ließ Gudmund Olaf aufstehen, und dann setzte er seinen Weg fort, bis er Brand traf. Sie rangen miteinander, und es gelang Gudmund, Brand unter sich zu bekommen. Da bat dieser um Gnade und versprach ihm Hilfe, indem er ihm genau dasselbe sagte, wie Olaf ihm vorher erzählt hatte.

Gudmund ließ ihn dann aufstehen, ging nach dem Hof und fand Sigrid draußen. Er brachte ihr den Gruß der Brüder und fügte hinzu, dass sie sie bäten, demjenigen zu helfen, der ihnen das Leben geschenkt habe. Da führte ihn Sigrid nach dem Boden über dem Stall und schenkte ihm einen Trunk Wein ein, der ihn sehr stärkte. Darauf beschrieb sie ihm das Grab auf dem Vorhof und gab ihm den Rat, sich von ihrem Vater, wenn sie rängen, gegen es treiben zu lassen, wenn er aber den Rand erreicht hätte, so sollte er hinüberspringen und ihren Vater in das Grab fallen, lassen; töten sollte er ihn jedoch nicht. Sie sagte, dass ihr Vater gerade schlafe, dass er aber bald erwachen werde, dann solle er auf den Hof gehen und gegen die Tür klopfen.

Gudmund tat, wie sie sagte; als aber der Alte die Schläge hörte, erhob er sich aus dem Bett und sagte: „Jetzt ist Gudmund endlich gekommen, und jetzt soll er zeigen, wozu er taugt.“

Der Bauer lief hinaus, von gegenseitigem Begrüßen aber war nicht die Rede, im Gegenteil, gleich fuhren sie aufeinander los, und es wurde ein harter Kampf.

Gudmund sah bald ein, dass er nicht mehr als die Hälfte der Kräfte des Alten hatte: daher wehrte er sich nur, griff aber nicht an. Der Alte wollte ihn nach dem Grabe drängen, und Gudmund ließ sich von ihm treiben; als sie ihn aber erreicht hatten, sprang Gudmund hinüber und wippte den Alten kopfüber hinein. Sogleich kamen Sigrid und die beiden Brüder, mit denen Gudmund zuvor gerungen hatte, und baten ihn, ihrem Vater das Leben zu schenken. Er aber versprach, es zu tun, wenn sie ihm von nun an keinen Schaden zufügen wollten. Das versprach der Alte hoch und heilig. Er wurde dann heraufgezogen, und nun dankte er Gudmund für sein Leben und lud ihn ein, hereinzukommen, sagte aber, dass er nicht wissen könne, wie sich seine Söhne mit diesem Ausgang der Sache abfinden würden, wenn sie nach Hause kämen. Dann wurde Gudmund als Gast bewirtet, abends aber in eine Kammer eingeschlossen. Darauf kamen die älteren Brüder nach Hause und fragten, ob Gudmund in dem Grabe zu Gaste wäre. Der Alte erzählte, wie alles zugegangen war. Darüber aber wurden sie rasend und wollten die Kammertür aufbrechen. Der Alte ging dann vor die Tür und sagte, dass sie ihn zuerst töten müssten, wenn sie das Gastrecht brechen und Gudmund umbringen wollten. Hierauf besänftigten sie sich und gingen zu Bett.

Am nächsten Morgen stellte ihnen der Alte Gudmund vor und gebot ihnen, ihm nichts Böses anzutun. Gudmund blieb den Winter über dort; ihm gefiel Sigrid, denn sie war eine schöne Magd und dazu stattlich von Wuchs und so stark, dass sie sich mit all ihren Brüdern messen konnte. Sie und Gudmund wurden gute Freunde.

Im Frühjahr sehnte er sich nach Hause, und Sigrid, die ein Kind erwartete, wollte ihn begleiten; der Alte versuchte nicht, sie davon abzuhalten, und Gudmund zog nun mit ihr davon und machte nicht Rast, bis er nach Mällifellsaa gekommen war, wo alle erfreut waren, ihn wiederzusehen, den sie längst tot und verschollen geglaubt hatten. Er heiratete Sigrid, und sie wohnten lange auf Mällifellsaa, und sie wurde für eine ausgezeichnete und hochgesinnte Frau gehalten.

Nach ihrem Fortgang und dem Tode ihres Vaters fanden die Brüder den Aufenthalt droben in der Wildnis öde und langweilig, und darum zogen sie gleichfalls mit ihrem ganzen Eigentum nach bewohnten Gegenden. Ein paar von ihnen wurden Bauern im Skagefjord, und alle genossen sie Ansehen als tüchtige und brave Männer.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen